Kleine Kassa

von: Martin Lechner

Residenz Verlag, 2014

ISBN: 9783701744541 , 264 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Kleine Kassa


 

Plötzlich stand das Hühnchen da. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr die Kellnerin, ein Mädchen, das eine widerlich rot und gelb bekleckste Schürze trug, mit dem Finger um den Tellerrand, fing einen Tropfen Soße auf. Stumm beobachtete er, wie sie den Finger zwischen die Lippen schob und mit einem feuchten Geräusch wieder herausploppen ließ.

»Darf ich dir die Zimmer zeigen?«

»Vielen Dank«, er klopfte zweimal auf den Tisch, »aber ich muss noch heute Nacht zu einem wichtigen Termin.«

»Wo musst du denn hin?«

»Nach Schneverdingen, ich muss nach Schneverdingen.«

»Da hast du was vor«, sagte sie, eine Hand in der Hüfte, die Finger in den Bauch gekrallt, »willst du dich vorher nicht ausruhen?«

»Nichts lieber als das«, er lehnte sich lächelnd zurück, »nur leider darf ich nicht. Sonst komme ich zu spät.«

»Du Armer, tust du nur, was man dir sagt?«

»Manchmal geht es nicht anders.«

»Manchmal schon«, sie beschrieb einen Kreis in der Luft und stach hinein.

»Beim nächsten Mal«, erklärte er mit Blick auf den dampfenden Teller. Aber sie hatte sich schon abgewandt. Erst in der Küchentür sah sie noch einmal zurück, sie streckte ihren Zeigefinger aus und krümmte ihn zurück in die Faust. Lächelnd begann er, die glänzenden Hautlappen von dem weißen Hühnerfleisch zu ziehen. Als er die ersten drei Bissen verschlungen hatte, kam sie erneut aus der Küche. Mit weit ausschwingenden Beinen, die die Schürze flattern ließen, durchquerte sie die Gaststube. Bevor sie ins Treppenhaus verschwand, glitt sie einmal mit dem Blick an ihm herab. Sollte sie nur. Sie konnte auch gerne fünfzigmal mit dem Blick an ihm herauf- und herabgleiten. Er aß genüsslich weiter. Er wollte sie noch ein Weilchen zappeln lassen, wie einen aufs Land geworfenen Fisch, sonst dachte sie noch, sie könnte mit ihm umspringen, wie es ihr gefiel. Erst fünf Bissen später schlenderte er die Reihe der Rücken entlang, überprüfte, damit ihn niemand ansprach, konzentriert die Zeit auf seinem splitternackten Armgelenk. Diese verlorene Uhr sollte ihm eine Lehre sein! Nie wieder würde man ihn so leicht überlisten. Lautlos huschte er hinaus.

Nore stand am oberen Ende der Treppe, wippte auf und ab. Na, was hast du vor mit mir? Mit gesenktem Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen, stieg er ihr entgegen. Schweigend liefen sie den Gang hinab. Als sie schließlich an eine Tür gelangten, blickte sie kurz in beide Richtungen des langen, sich im Dunkel verlierenden Ganges. Dann schloss sie auf und wies ihn hinein. Er sah es sofort. Warm stieg ihm das Blut in den Kopf. Sie hatte ihn nicht, wie angekündigt, in ein Gästezimmer geführt, sondern in ihr eigenes kleines Schlafgemach. Ein Kuschelhai, der seine Schnauze unter der Bettdecke vorstreckte, starrte ihn an. Er wandte sich ab, erblickte einen Wochenplan über der Kommode und daneben ein paar Fotos, auf denen sie zu sehen war, Nore, die sich rücklings in die Wellen warf, Nore im Arm eines aus dem Bild geschnittenen, wandweißen Gespensts, Nore als roter Jackenfleck im Wald.

»Warm hier«, bemerkte er.

»Schau mal, ob das Bad in Ordnung ist«, sie schnappte sich ein Schulheft, das aufgeschlagen auf dem Kissen lag, und wies damit auf ein pappiges Falttürchen neben der Kommode. Froh über die Möglichkeit, seinen glühenden Kopf kurz kühl abtupfen zu können, trat er ins Bad, ein Räumchen, das mit einer gewaltigen, auf Eisenfüßen stehenden Badewanne, einem verprügelten Schmutzwäschepuff einem pinken Handtuchregal so vollgestopft war, dass kaum Platz für zwei Füße blieb. Immerhin, man konnte einmal durchatmen. Was hatte sie nur vor mit ihm? Er drehte sich zu dem fleckenweise erblindeten Spiegelschränkchen über dem Waschbecken, hatte eben den Scheitel angehoben und erschrocken den faustgroßen, rostbraunen Krater erblickt, der seine Stirn entstellte, da drang ein metallisches Schnappgeräusch an seine Ohren. Eine schreckliche Vorstellung blitzte in ihm auf. Wehe dir! Mit einem Satz war er zurück im Zimmer. Doch sie hatte sich gar nicht rausgeschlichen und ihn heimlich eingesperrt. Sie hatte sie beide eingesperrt. Die Hände links und rechts des Kopfes, drückte sie ein Ohr an die Zimmertür.

»Schsch!«, machte sie, bevor er nach dem Grund fragen konnte, und horchte weiter. Aber bestimmt wollte sie bloß sichergehen, dass ihr Vater nicht unerwartet ins Zimmer platzte. Georg nutzte die Gelegenheit und roch an seinen Achselhöhlen. Im Laufe der Lehre war er ja leider gezwungen worden, die Menge des Parfüms, das er sich von seiner Mutter regelmäßig schenken ließ, nahezu auf null zu senken. Ein Mann, der Werkzeuge verkauft, Hämmer, Sägen, Bohrer, der durfte nicht als Duftwolke durch den Laden wabern. Dummerweise war die Wirkung dieser winzigen Tröpfchen, die er sich seitdem mit der Spitze des kleinen Fingers in die Achseln tupfte, um nicht vollends zu verstinkern, längst verflogen.

»Am besten wärst du gar nicht hergekommen«, sagte sie leise, weiterhin zur Tür gewandt.

»Du hast mich doch hochgelockt.«

»Nein, in den Ginsterhof«, sie hatte sich herumgedreht und trat lächelnd an ihn heran, so dicht, dass er die Küche roch, das Fett auf ihrer Haut und die Hähnchen im Haar, »weißt du eigentlich, wie man ein Schwein tötet?«

Schweigend tippte er gegen ihre Stirn.

»Du kennst dich aus«, sie blinzelte, »und dann?«

»Was meinst du?«

»Dann knicken die Beine weg.«

»Ach so, na klar.«

»Dann sinkt der Körper auf die Kacheln. Dann wird die Klinge reingestoßen. Dann springt ein roter Strahl aus dem Hals.«

»Weiß ich, weiß ich doch.«

»Gut«, sie trat ans Bett, setzte sich steif auf die Kante, »es ist ja ein Vorteil, zu wissen, was einen erwartet.«

Am liebsten hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben, zur Strafe für dieses verflixte Spielchen, stattdessen fragte er so tödlich angeödet, wie er nur irgend konnte: »Und was, bitte, soll mich erwarten?«

»Folgendes: Einer drückt dich auf den Boden, zieht deine Arme auf den Rücken. Ein anderer stellt sich auf deine Beine, packt die Füße, dass du nicht mehr zappeln kannst. Ein Dritter dreht dir den Kopf zur Seite. Jetzt spürst du die Kacheln an der Wange, weiß und kalt. Der Letzte bückt sich, setzt den Lauf an deine Stirn, ein kleines Fingerkrümmen nur und dann ...«

»Dann ist es aus«, zwei, allerhöchstens drei Sekunden lang sah er sich auf einem Schlachtblock liegen, während über ihm ein Mann, der sein Gesicht hinter einer Maske aus Menschenhaut verbarg, die Motorsäge anwarf. Dann lehnte sich Georg mit einem nilpferdartigen Gähnen aus dem Fenster.

»Willst du gar nicht wissen, wie es weitergeht?«, fragte sie.

»Wie soll es weitergehen, wenn es aus ist?«, fragte er zurück. Im Dunkeln knurrte ein Hund. Dann war es still. Warum sagte sie nicht einfach, was sie wollte?

»Darf ich dir zumindest erzählen, was vorhin passiert ist?«, fragte sie flüsternd. Mit einer eisig starren Miene, von der sie nichts, gar nichts ablesen konnte, wandte er sich um und schob die Ellenbogen auf das Fensterbrett wie ein Privatdetektiv.

»Ich höre«, meinte er.

»Also, ich war gerade im Hof gewesen, um Sandro zu füttern, und als ich wiederkam, stand Dietmar in der Küche. Beim Stürzenholz, erklärte er meinem Vater, hat einer auf dem Feld gelegen, ein Verletzter, wie es schien, doch als er ihm zu Hilfe kam, hat der ihn plötzlich angefallen, hat ihn zu Boden geboxt, nachgetreten und dann sein Mofa geraubt.«

»Dietmar?«, fragte Georg langsam, »kenne ich nicht.«

»Aber das warst du auf dem Feld!«, sie blickte ihn fest an.

»Kann gar nicht sein«, er schüttelte den Kopf, »ich bin doch mit dem Bus gekommen.«

»Welchem Bus?«

»Vor einer Stunde.«

»Aber Rike hat dich auch gesehen. Ein Fremder, sagte sie, sei mit einem Mofa durch ihre Gasse gerollert und dann geduckt zurückgelaufen. Sie hat nachgesehen«, Nore erhob sich, »es war Dietmars.«

»Das beweist doch nichts«, er betastete mit allen zehn Fingern seine Stirn, das Mofa konnte er vergessen, sicher schmiegte der Fettsack schon seine violetten Wangen an den Tank.

»Es geht noch weiter«, sagte sie, »kaum warst du fort, hat Dietmar sich berappelt. Deine Schritte sind quer über den Acker gelaufen, sagte er, geradewegs ins Stürzenholz. Ein Pfad von niedergedrückten Sträuchern...