Mein schönes Leben in der Hölle

von: Ivan Ivanji

Picus, 2014

ISBN: 9783711752000 , 300 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Mein schönes Leben in der Hölle


 

Hat mich mein eigener Onkel an die Nazis ausgeliefert? Verraten? Oder einfach nur im Stich gelassen? Das ist nicht die einzige Frage, die ich mir stellen werde, es schwirren auch viele andere herum in der Luft, die ich atme, Fragen, die bisher unbeantwortet geblieben sind. Zumindest aussprechen muss ich sie. Auch das ist mehr als nichts, besser, als an ihnen nur zu würgen, um sie am Ende einfach hinunterzuschlucken. Wo wären sie dann, falls sie unverdaulich sind? Ob ich Antworten finden werde, ist eine andere Frage. Die erste Frage.

Es war eine lange Reise. Es ist eine lange Reise, denn vorüber ist sie noch nicht, angekommen bin ich noch immer nicht. Die Endstation kenne ich nicht, aber weit entfernt kann sie nicht mehr sein. Nirgendwo ein Schaffner, den ich fragen könnte. Vor dem Aussteigen habe ich ein wenig Angst. »Ein wenig« ist zu wenig gesagt, aber ich habe genug Erfahrung, ich weiß mit Sicherheit, dass es gelingen wird, dass es noch jedem gelungen ist.

Im Rückblick scheint mir, ich sehe eine riesengroße Wand, die von einem komplexen Mosaik bedeckt ist. Da und dort sitzen einzelne bunte Steine, an manchen Stellen sogar viele, sehr viele in derselben Gruppe, sodass man das Bild, das sie darstellen, das sie als Teil der Gesamtheit dargestellt haben, ganz gut erkennen kann. Diese Bilder möchte ich beschreiben – Bilder, die aus der Erinnerung auftauchen, dem Sturz in den Abgrund des Vergessens entgangen sind. Der Rest des Gesamtbilds ist von der Wand abgebröckelt. Unauffindbar. Vielleicht durch neu anzuschaffende Steine und Mosaikplättchen zu ersetzen. Das könnte ich versuchen, aber die Frage, die zweite Frage, ist, ob neue Bilder, neue Gestalten wirklich hineinpassen würden? Es gibt auch graue, nichtssagende Plättchen, die ich vernachlässigen werde. Links oben ist die Wand sauber und leer. Da gehört noch etwas Neues hin, obwohl nicht mehr viel Platz vorhanden ist. Ich habe oft versucht, über diese Wand zu erzählen, obwohl ich sie nie so genannt habe, nicht erwähnt habe, wie sich die steinernen Flecken zu Bildern zusammensetzen, aber ich versuche es noch einmal.

Sagte ich soeben, es handle sich um eine Wand? Wäre Mauer nicht das passendere Wort? Die Wand begrenzt mein Zimmer, den Raum, in dem sich mein Leben abgespielt hat, abspielt, zu Ende gespielt wird, eine Mauer steht irgendwo draußen im Freien. Vier Wände hat mein Zimmer, drei Ecken hat mein Hut … Wenn man Wand sagt, meint man nur eine Fläche, etwas Zweidimensionales, eine Mauer klingt stabiler, die steht da in allen drei Dimensionen. Auf einer Mauer kann man gehen. Man kann Glassplitter im Malter befestigen, damit es schwieriger wird, über sie zu klettern. Auf einer Wand kann man nicht gehen, aber ein Käfer kann über sie kriechen. Gott, wird es schwierig mit der Sprache, wenn man älter wird und man sie immer ernster nimmt! Ich bleibe trotz des Verlusts der dritten Dimension bei meiner Wand und dem Mosaik.

Soll das jetzt eine lange Beichte werden? Dann wäre ich mein eigener Beichtvater, denn ich selbst bin es, an den ich mich wende, ein gottloser, weil indiskreter Beichtvater, der sein Beichtkind bloßstellt, um auch andere Mitmenschen anprangern zu können.

Was hat mein Leben bestimmt?

Unter Reisen stelle ich mir vor allem Fahrten mit der Eisenbahn vor. Weitaus weniger selbst gelenkte im Auto, obwohl ich sicher mehr Auto gefahren als mit der Bahn gereist bin. Teilweise freilich auch als angeschnallter Fahrgast im Flugzeug oder sogar im Hubschrauber. In Unterseebooten war ich nie. Leider.

Am Anfang, den ich Kindheit nennen darf, mit meinem Vater am Steuer des Steyr 55, waren es Ausflüge, keine Fahrten. Ich saß auf seinem Schoß, hielt das Lenkrad, bediente den Schalthebel, aber die Pedale musste er treten, denn meine Beine waren noch nicht lang genug.

Sieben Jahre alt, wurde ich zum ersten Mal allein in den Zug gesteckt. Heute nehme ich an, dass mein Vater dem Schaffner ein Trinkgeld gegeben und ihn gebeten hat, auf mich aufzupassen. Hauptsache, ich habe mich schrecklich erwachsen gefühlt. Mich erwachsen gefühlt zu haben ist eine Erinnerung, die noch öfter in meinem Leben auftauchen wird. Das anlaufende Schnaufen der Dampflokomotiven ist heute nur noch manchmal vom Fernseher her zu hören, wenn entsprechende Filme laufen.

Holzklasse. An jedem Fenster ein Täfelchen: »Es ist verboten sich während der Fahrt hinauszulehnen!« Es war gefährlich, denn die Glut vom Rauchfang der Lokomotive konnte die Augen verletzen. Diese Züge, diese Eisenbahnstationen damals, hatten einen Geruch nach Kohle, Teer, Petroleum, ich kann ihn nicht beschreiben, man muss ihn eingeatmet haben, um sich an ihn zu erinnern. Wahrscheinlich gibt es bald Fernseher, aus denen zu den Filmen die passenden Gerüche strömen. Dann werden unsere Enkelkinder erfahren, wie verschieden es auf unseren Strecken im Banat im Vergleich zum Beispiel zum wilden Westen Amerikas gerochen hat.

Ich fuhr nach Subotica an der ungarischen Grenze, um meine Tante Olga zu besuchen. Sie war Ärztin, ihr Mann etwas noch Schlimmeres, Venerologe. Was das war, warum er so hoch geschätzt in der kleinen Stadt war, habe ich nicht wissen können, was Geschlechtskrankheiten sind, habe ich viel, viel später erfahren, als ich nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager einen Sommer lang als Sechzehnjähriger darauf gewartet habe, wer mich in die Heimat zurückbringen will. Aber glücklicherweise nicht am eigenen Leib.

So droht schon jetzt meine Beichte auszuufern. Was ich sagen wollte ist, damals war es am wichtigsten, weil am interessantesten für mich, dass mein Onkel in Subotica zwei dänische Doggen mit in die Ehe gebracht hatte. Meiner Tante war vor ihnen mulmig. Mir nicht. Der Rüde, Dollar mit Namen, hat es in meine Romane geschafft. Als Geist in einer kleinen Stadt. Wo er wirklich hingekommen ist, als Tante und Onkel nach Bergen-Belsen geschickt wurden, gefahren worden sind, natürlich mit der Eisenbahn, weiß ich nicht. Unmittelbar nach dem Krieg haben wir uns nicht um unsere verlorenen Hunde gekümmert. Schade. Das bedauere ich heute, aber ich verstehe es.

In Subotica, vor dem Krieg, wurde ich schrecklich verwöhnt. Das Tante-Olga-Ehepaar war kinderlos geblieben. Als Mosaikstein steht hier Orangeade, die ich jeden Abend bekommen habe, ein dicker Sirup, einen Finger hoch im Glas, aufgespritzt mit Sodawasser aus der blauen Siphonflasche.

Eine andere Zugfahrt nach Novi Sad an der Donau. Damals hatte ich meinen Onkel Ernö sehr gerne. Er kannte Zaubertricks. Er war mit einem Herrn befreundet, der unter dem Künstlernamen Retta öffentlich als Magier auftrat. Sogar im Theater meiner Heimatstadt. Und der berühmte Mann hat uns zu Hause besucht! Ein »echter« Zauberer imponiert einem Zehnjährigen.

Onkel Ernö fotografierte mit Magnesium und entwickelte seine Filme selbst in einer speziell eingerichteten Kammer seiner Wohnung. Er hatte auch drei Söhne, mit denen ich spielen konnte, und wohnte in einem Haus mit Lift. Im dritten Stock. In meiner Heimatstadt gab es kein einziges Haus mit Aufzug, denn es war nicht notwendig. Nur zwei Gebäude auf der Hauptstraße, eines von ihnen war die Hypothekenbank, in dem anderen wohnte mein Großvater väterlicherseits, waren zweistöckig, höhere gab es nicht in der Stadt. Und dann noch der Donaustrand in Novi Sad. Der kommt auch mehrmals in meinen Büchern vor. Keineswegs zufällig.

Später lernte ich Onkel Ernö hassen. Am Ende nur noch verachten. Das soll nicht das Wesentlichste in meinem Leben werden, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt entscheidend. Es ist keine Übertreibung, wenn ich jetzt sage, für mich war der Grund dafür lebensgefährlich.

In Belgrad war mein Onkel Pischta Kunsttischler, seine Frau Schneiderin. Die fuhr ich auch besuchen. Mit der Eisenbahn, Holzklasse. Dass ich dort war, das weiß ich noch, aber die Mosaiksteine der Erinnerung an Einzelheiten sind von der Wand meines früheren Lebens abgefallen.

Der Vater meiner Frau war auch Kunsttischler in Belgrad. Die beiden müssen sich gekannt haben. Meinen Schwiegervater habe ich nie kennengelernt. Er ist als Partisan gefallen. Die Großmutter meiner Frau ist übrigens im selben Dorf im Banat, in Perlez, geboren, wie mein Großvater. Ihr Urgroßvater war dort Notar, meiner Getreidehändler, die haben sich sicher gut gekannt und auch Geschäftliches miteinander erledigt. Seltsam genug, dass sich unsere unmittelbaren Vorfahren gekannt haben könnten.

Aber zurück zu Onkel Ernö. Er war mit einer Donauschwabin verheiratet, er und seine Familie wurden als Juden überhaupt nicht belangt, denn in den von Ungarn besetzten Gebieten Jugoslawiens, zu denen die Stadt Novi Sad gehörte, galten mildere Regeln als im Großdeutschen Reich. In diesen Teilen des Landes galten mildere Regeln für jene Juden, die mit Ariern verheiratet waren und vor der Eheschließung getauft worden waren. Sie und ihre Kinder wurden von den ungarischen Behörden nicht belangt. Onkel Ernö hat sich nicht taufen lassen, weil er so weise war und das Böse geahnt hat, sondern weil es ihm egal, aber für seine Schwiegereltern wichtig war.

Tante Olga und ihr Mann überlebten zusammen mit meiner Großmutter mütterlicherseits und meiner Schwester Bergen-Belsen. Onkel Pischta wurde mit seinen Kindern im Daimlerwagen der SS in Belgrad vergast. Ich weiß nicht, ob im selben Auto mit meiner Mutter, seiner Schwester, oder … Wo und wie mein Vater ermordet wurde, weiß ich nicht genau, wahrscheinlich wurde er als Geisel erschossen. Ein weiterer Onkel, Sascha, ist mit seiner Frau und ebenfalls zwei Kindern im KZ Jasenovac in Kroatien umgebracht worden. Aber Onkel Imre, mit einer Serbin verheiratet, hat in einem serbischen Dorf versteckt alles überstanden, seine Frau und die beiden Töchter...