Die Kairo-Affäre - Thriller

von: Olen Steinhauer

Blessing, 2014

ISBN: 9783641136314 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Kairo-Affäre - Thriller


 

Sophie

1

Vor zwanzig Jahren, bevor ihre Reisen politisch wurden, hatten Sophie und Emmett ihre Hochzeitsreise nach Osteuropa gemacht. Ihre Eltern waren skeptisch gewesen, was diese Wahl anging, aber in Harvard hatten Sophie und Emmett gelernt, sich auch um das zu kümmern, was auf der anderen Seite des Planeten geschah, und in den Fernsehzimmern ihrer Wohnheime hatten sie das Zerbröckeln der UdSSR mit einer Spannung verfolgt, die man nicht unbedingt von ihnen erwartet hätte. Sie hatten mit dem irrigen Gefühl zugesehen, dass sie, zusammen mit Ronald Reagan, an den Grundfesten des korrupten sowjetischen Systems gerüttelt hatten. Als sie 1991 heirateten, beide erst zweiundzwanzig, hatten sie geglaubt, es sei Zeit für einen Freudensprung.

Im Gegensatz zu Emmett war Sophie noch nie in Europa gewesen, und sie hatte sich nach den Cafés am linken Seineufer gesehnt. »Aber dort wird Geschichte geschrieben«, hatte Emmett zu ihr gesagt. »Das sind die weniger ausgetretenen Pfade.« Schon früh hatte Sophie gemerkt, dass das Leben interessanter war, wenn sie sich von Emmetts Enthusiasmus anstecken ließ, und so hatte sie sich nicht gesträubt.

Sie warteten bis September, um den Touristenmassen im August zu entgehen, und ließen ihre Reise langsam angehen, mit vier Tagen in Wien, dieser öden Stadt der Zuckerbäcker-Architektur und der Museen. Kühle, aber höfliche Österreicher bevölkerten breite Prachtstraßen und kopfsteingepflasterte Gassen, allesamt mit Wichtigerem beschäftigt als glotzenden amerikanischen Touristen. Sie besichtigten den Stephansdom und die Hofburg, die Kunsthalle und die Cafés Central und Sacher, und Emmett erzählte von Graham Greene und den Dreharbeiten zu Der dritte Mann, über die er anscheinend unmittelbar vor der Abreise recherchiert hatte. »Kannst du dir vorstellen, wie es hier unmittelbar nach dem Krieg ausgesehen hat?«, fragte er sie an ihrem letzten Wiener Nachmittag im Sacher. Er umfasste das riesige Bierglas, das vor ihm auf dem Marmortisch stand, und schaute aus dem Fenster. »Die waren dezimiert worden. Haben wie Ratten gelebt. Seuchen und Hungersnot.«

Sie betrachtete die blitzenden BMWs und Mercedes, die an der imposanten Rückseite der Staatsoper entlangkrochen, und konnte sich das überhaupt nicht vorstellen. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob ihr die Fantasie fehlte, die ihr Mann als selbstverständlich ansah. Enthusiasmus und Phantasie. Sie musterte ihn gründlich. Jungenhaftes Gesicht und runde, haselnussbraune Augen. Eine Haarlocke, die ihm über die Stirn herabhing. Wie schön er ist, dachte sie, während sie mit ihrem noch ungewohnten Ehering spielte. Das war der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen würde.

Er wandte sich vom Fenster ab, schüttelte den Kopf und sah dann ihre Miene. »Hey. Was ist denn?«

Sie wischte sich die Tränen ab, dann packte sie seine Hand, so fest, dass ihr Ehering sich in die weiche Haut ihres Fingers drückte, aber sie ließ ihn trotzdem nicht los. Sie zog ihn zu sich heran und flüsterte: »Lass uns auf unser Zimmer gehen.«

Enthusiasmus, Phantasie und Engagement, dachte sie, während er umständlich mit Schillingscheinen zahlte. Das waren die Eigenschaften, die sie an Emmett Kohl am meisten liebte, Eigenschaften, die sie selbst ihrer Meinung nach nicht aufzuweisen hatte. In Harvard hatte sie gelernt, alles in Frage zu stellen, und sie hatte die Herausforderung angenommen und prompt ihre Illusionen sowohl über die Rechte als auch über die Linke verloren, so sehr, dass sie, wenn Emmett mit seinen Mini-Vorlesungen über Geschichte oder Auslandsbeziehungen begann, einfach nur dasaß und zuhörte, weniger beeindruckt von den Fakten als von seinem Glauben. Darum ging es beim Erwachsensein – Glaube. Woran glaubte sie selbst? Sie war sich nicht sicher. Gegen ihn war sie nur ein halber Mensch. Mit ihm, hoffte sie, würde sie sich zu etwas Besserem entwickeln.

Während sie sich vor historischen Kunstwerken und exotischen Sprachen ihrem frisch angetrauten Mann unterlegen fühlte, waren im Bett die Rollen vertauscht, und wann immer die Angst sie überkam, zog sie ihn deshalb ins Bett. Emmett ließ es sich gern gefallen, so benutzt zu werden, und kam gar nicht auf die Idee, sich über das Timing ihrer sexuellen Impulse zu wundern. Er war schön und klug, aber beklagenswert unerfahren, während sie die Bettetikette vom Drummer einer Punk-Band, dem Assistenten eines französischen Geschichtslehrers und, im Laufe eines einzigen experimentellen Wochenendes, von einer Freundin aus Virginia, die sie in Boston besuchte, gelernt hatte.

Als sie deshalb Hand in Hand in ihr Hotelzimmer zurückkehrten, sie ihm aus den Kleidern half und ihn – er trommelte währenddessen mit den Fingern auf die Bettdecke – beim Ausziehen zuschauen ließ, fühlte sie sich wieder als ganzer Mensch. Sie war das Mädchen, das an nichts glaubte und eine kleine Show veranstaltete für den Jungen, der an alles glaubte. Doch als sie dann Haut an Haut unter der Bettdecke zugange waren, begriff sie, dass sie sich irrte. Es gab doch etwas, woran sie glaubte. Sie glaubte an Emmett Kohl.

Am nächsten Morgen stiegen sie in den Zug nach Prag, und nicht einmal der verdreckte Waggon mit der kaputten, stinkenden Toilette schreckte sie ab. Stattdessen weckte er in ihr die Illusion, sie seien auf einer echten Reise, einer top aktuellen Reise. »So sieht es im Rest der Welt aus«, sagte Emmett lächelnd, während er die verdrossenen, nervösen Tschechen beobachtete, die ihre Taschen mit den geschmuggelten Zigaretten, alkoholischen Getränken und anderen Luxusgütern an sich drückten, die sie zu Hause zu Geld machen wollten. Als an der Grenze zwei Zöllner eine alte Frau und zwei junge Männer herausholten, die dann stumm dem wieder anfahrenden Zug nachsahen, hatte Sophie das Gefühl, einem schicksalhaften Geschehen beizuwohnen.

Sie ermahnte sich, Augen und Ohren offen zu halten. Sie ermahnte sich, alles in sich aufzunehmen.

Die baufällige Märchenarchitektur Prags versetzte sie beide in Hochstimmung, und sie tranken in Kellerlokalen bei Kerzenlicht Bier zu fünfzig Cent das Glas. Sophie versuchte, ihre Aufregung darüber in Worte zu fassen, wie großartig es war, dass sie, ein Mädchen aus der Provinz, hier sein durfte. Sie war die Tochter eines Holzhändlers in Virginia, die bislang nur die Ostküste der Vereinigten Staaten kennengelernt hatte, und jetzt war sie eine verheiratete Akademikerin, die den Ostblock bereiste. Dieser Rollenwechsel versetzte sie in Erstaunen, wenn sie darüber nachdachte, doch als sie es ihrem Mann erklären wollte, fand sie nicht die richtigen Worte. Emmett war immer der Wortgewandte gewesen, und wenn er lächelnd ihre Hand hielt und ihr sagte, er verstehe sie, fragte sie sich, ob er sie nicht von oben herab behandelte. »Halt dich an mich, Mädchen«, sagte er in seinem besten Humphrey-Bogart-Stil.

Am dritten Tag kaufte er ihr eine kleine Leninbüste, und sie lachten darüber, als sie die belebte Karlsbrücke überquerten, zwischen den Standbildern tschechischer Könige hindurch, die in der stickigen Sommerhitze auf sie herabblickten. Sie waren beschwipst und kicherten über den Lenin. Sie schwenkte ihn hin und her und benutzte ihn wie eine Bauchrednerpuppe. Emmetts Gesicht färbte sich in der Sonne kräftig rosa – Jahre später sollte sie sich wieder daran erinnern.

Dann war da der Junge.

Er tauchte aus dem Nichts auf, sieben oder acht Jahre alt, inmitten all der anderen anonymen Touristen stand er auf einmal schweigend dicht neben Sophie. Plötzlich hatte er ihren Lenin in der Hand. Es ging ganz schnell. Er rannte davon, um Beine herum und vorbei an einem Maler vor seiner Staffelei, und stand im nächsten Moment am Rand der Brücke, sodass Sophie fürchtete, er würde in den Fluss springen. Emmett war dem Jungen nachgelaufen, und dann sahen sie die Büste noch einmal, über dem Kopf des Jungen. Er warf sie in die Luft – sie stieg hoch und fiel wieder herab.

»Dieser kleine Scheißer«, murmelte Emmett, und als Sophie ihn einholte und auf den Fluss hinunterschaute, war von ihrem kleinen Lenin nichts mehr zu sehen. Der Junge verschwunden. Hinterher, auf dem Weg ins Hotel, hatte sie das Gefühl, Emmett und sie würden zum Narren gehalten. Das begleitete sie auf der ganzen Reise, weiter nach Budapest und auch während ihres nicht eingeplanten Abstechers nach Jugoslawien, ja sogar noch, als sie wieder in Boston waren. Auch zwanzig Jahre danach war es ihr noch immer nicht möglich gewesen, dieses Gefühl abzuschütteln.

2

Als sie am Abend des 2. März 2011 ins Chez Daniel kam, war ihr erster Gedanke, wie gut ihr Mann aussah. Das dachte sie nicht oft, was aber weniger eine Kränkung für Emmett war als eine Anklage gegen sie selbst und ein Zeichen dafür, wie zwanzig Ehejahre den einen Partner für die Vorzüge des anderen blind machen können. Sie hegte den Verdacht, dass er sie genauso sah, hoffte aber, er erlebte auch manchmal Momente wie diesen, wenn sie voller Wärme und Freude beim Anblick seines ewig jungen Gesichts dachte, Ja, das ist meiner. Es spielte keine Rolle, wie kurz diese Momente waren oder dass etwas Schreckliches auf sie folgen konnte – von solchen Ausbrüchen heftiger Zuneigung konnte sie monatelang zehren.

Chez Daniel war wie die meisten guten...