Weltmacht Indien - Die neue Herausforderung des Westens

von: Olaf Ihlau

Siedler, 2008

ISBN: 9783894804114 , 225 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Weltmacht Indien - Die neue Herausforderung des Westens


 

Der amerikanische Schriftsteller und Globetrotter Mark Twain pries im ausgehenden 19. Jahrhundert Indien als 'das Land, das alle Menschen zu sehen wünschen'. Da unterschied er sich kaum von den Dichtern und Denkern der deutschen Romantik, die den asiatischen Subkontinent zum Fluchtpunkt ihrer unerfüllten Sehnsüchte machten. Dort, im fernen Orient, lag für sie die bessere Welt mit ihrer anderen Einstellung zu Zeit und Tod, einer besonderen Seelenhaltung und Geistigkeit, dem Esoterischen, aber auch einer vom Hinduismus vorgegebenen Gesellschaftsstruktur mit gleichsam göttlich abgesegneten Standesunterschieden und Zuordnungen. Anders als Mark Twain hat übrigens keiner dieser Schwärmer, ob Herder, Hegel oder Schlegel, den mit Tausenden von Göttern und Götzen bestirnten Himmel über Indien je gesehen.
Der Himmel, der sich meiner Familie und mir im Herbst i978 bei unserem Umzug nach Delhi präsentierte, war ein grauweißes Gebirge aus Giftwolken. Flugzeuge suchten mit dem Versprühen des Insektenvernichtungsmittels DDT die in den Tümpeln und Gewässern brütenden Anopheles-Stechmücken zu beseitigen. Denn die waren nicht nur Überträger von Malaria, sondern auch Verbreiter der gerade neu aufgetretenen Enzephalitis-Epidemie. Der Times of India konnte die zunächst im Ashoka-Hotel einquartierte Familie bei der Morgenlektüre entnehmen, dass an dieser Gehirnhautentzündung vor den Toren der Hauptstadt täglich wenigstens siebzig Menschen starben. Von alteingesessenen Kennern des Subkontinents war hierzu der sarkastische Kommentar zu hören, ein Vielfaches dieser Zahl dürfte der Wirklichkeit wohl eher entsprechen. Verheerende Überschwemmungen hatten in den Monaten zuvor in der Tiefebene um den Ganges dreißig Millionen Menschen obdachlos gemacht und Tausende von Toten gefordert. Willkommen in Indien, dem Land der Seuchen und Katastrophen!
In Delhi regierte damals ein Koalitionskabinett unter dem Brahmanen Morarji Desai, einem Monument von abstoßender Selbstgerechtigkeit. Die gestrauchelte Notstandsherrscherin Indira Gandhi wartete noch auf ihr Comeback. Kaum jemand aus der politischen Elite interessierte sich wirklich für die Seuchenplage im Lande draußen. Japans Impfstoffangebot anzunehmen, widersprach einem verqueren Nationalstolz. Lieber ließ man die Infizierten krepieren.
Das Indien der späten siebziger Jahre war politisch wie wirtschaftlich eine Hochburg der Dritten Welt, ein vom Staatsdirigismus gefesselter Riese. Ein Telefonat nach München benötigte vierundzwanzig Stunden Wartezeit. Mit dem Staatssender Doordarshan gab es nur einen einzigen schwarz-weißen Fernsehkanal, und dessen Sendungen waren ungenießbar. Zwei Autotypen wurden produziert, beides Nachahmungen europäischer Modelle: Die Ambassador Limousine nach dem Design von Morris Minor und der kleine Premium nach dem Fiat Padimi. Die beiden Fluglinien Air-India und Indian Airlines standen unter Staatsaufsicht. Gut 70 Prozent der Inder lebten auf dem Lande, viele in schwärender Armut. Delhi hatte knapp sechs Millionen Einwohner. In den einstigen Residenzvierteln aus der britischen Kolonialzeit lebte es sich beschaulich, so die Wasser- und Stromzufuhr nicht unterbrochen wurde, was indes häufig geschah.
Indien heute, das ist ein anderes Land. In Delhi drängeln sich jetzt vierzehn Millionen Einwohner, ein Albtraum mit verstopften Straßen und verpesteter Luft. Statt einem gibt es nun 300 Fernsehkanäle. Es werden mittlerweile vierzig Automarken montiert, und der Tata-Konzern geht mit dem billigsten Auto der Welt auf den internationalen Markt. Die zu Beginn der neunziger Jahre eingeleiteten Reformen und ein radikaler Schwenk zur Marktwirtschaft sorgten für einen Boom mit Wachstumsquoten von zuletzt über acht Prozent, der das amerikanische Nachrichtenmagazin Time in einer Titelgeschichte zu der Prognose trieb, Indien werde 'die nächste ökonomische Supermacht'. Vor allem die urbanen Ballungszentren mit einem Mittelstand von etwa 300 Millionen, also der Bevölkerungszahl Europas, schwelgen im Konsumrausch. Indien hat, nach Japan, die meisten Milliardäre Asiens, aber nach wie vor auch die meisten seiner Armen. Und das sind nicht die einzigen grellen Kontraste in einem Land, dessen ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt ohne Beispiel ist auf diesem Planeten.
Da stehen Hangars für Weltraumraketen neben leeren Wasserleitungen, wird direkt neben dem Atommeiler der Boden immer noch mit dem Holzpflug bearbeitet, gibt es das drittgrößte Reservoir der Welt an Technikern, Ingenieuren und Informatikern, aber mehr als ein Drittel der indischen Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben. Indien mit seiner eigenständigen Kultur und der sozialen Hierarchie des Kastensystems ist bunt, schrill, chaotisch und abstoßend, aber niemals langweilig.
Weltspitze sind die Inder schon längst in der Informationstechnologie, vor allem mit den Hightech-Labors in Bangalore, und angestrebt wird der Status einer Supermacht des Wissens. Noch vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 soll ein indischer Roboter auf dem Mond landen. Bald wird die zweitgrößte Nation der Erde ihre größte sein, wenn Indien mit 1,46 Milliarden Menschen an China vorbeizieht und bis zur Jahrhundertmitte auf 1,6 Milliarden anschwillt. Viele Menschen können international mehr Macht bedeuten, intern aber sozialer Sprengstoff sein, findet sich für sie keine Beschäftigung. Dafür zu sorgen, ist das brennendste Problem jeder Regierung in Delhi, gleich welcher politischen Couleur.
Teilweise irritiert muss die Welt derzeit zur Kenntnis nehmen, dass auf dem Subkontinent ein Koloss herangewachsen ist, der künftig das Weltgeschehen mitbestimmen wird. Ökonomisch wie politisch und als Atom- und Raketenmacht notfalls auch militärisch. Und der in der Welt von morgen Konkurrent ist beim Kampf um Jobs, Märkte und Ressourcen. Internationale Wirtschaftsexperten erwarten, dass Indien in etwa fünfzehn Jahren an Japan und Deutschland vorbeiprescht und zur drittgrößten Volkswirtschaft nach den USA und China aufrückt. Vielen Europäern, selbstverliebt hingegeben einer Spaß- und Eventkultur, ist offenbar gar nicht bewusst, was da auf sie zurast und dass der eigentliche Exodus von Arbeitsplätzen erst noch bevorsteht. Die Inder kommen, sie sind langfristig der eigentliche Herausforderer des Westens. Denn sie können sich auf eine stabile demokratische Gesellschaft stützen, während Asiens anderer Gigant, das kommunistische China, bei einer Öffnung, die irgendwann erfolgen muss, womöglich in gefährliche Turbulenzen gerät.
Natürlich kann es auch in Indien Rückschläge geben. Durch Katastrophen, eine Pandemie, neuerliche Pogrome in der Dauerfehde zwischen Hindus und Muslimen. Oder auch durch einen Anschlag von der Dimension des ii. September, mit dem islamistische Terroristen versuchen könnten, die verfeindeten Brüder Indien und Pakistan in einen Atomkrieg zu treiben. Im Ansatz haben sie das schon einmal probiert. Doch solche Einbrüche dürften die Entwicklung nicht umkehren können, die aus dem einstigen Armenhaus der Welt eines der Kraftzentren der globalisierten Ökonomie machen wird.
Dieses Buch ist eine Betrachtung, die sich auf persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in nahezu dreißig Jahren gründet.