Aprikosenküsse - Roman

von: Claudia Winter

Goldmann, 2016

ISBN: 9783641166069 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Aprikosenküsse - Roman


 

Zwei

HANNA

Zum ersten Mal in meiner zweijährigen Redaktionszugehörigkeit nehme ich die Treppe. Oben angekommen, weiß ich wieder genau, weshalb ich bis dato den Aufzug bevorzugt habe: Es sind exakt einhundertzwölf Stufen. Japsend stehe ich vor unserer Ressorttür und bin definitiv nicht in der Lage, die Klinke herunterzudrücken. Sasha kommt hinter mir die Treppe hochgehopst, einen Stapel Magazine unter dem Arm. Sie pfeift vor sich hin und ist nicht mal im Ansatz außer Puste. Ich überlege krampfhaft, vor wie vielen Jahren es mir auch so gegangen ist.

»Alles okay, Chefin?«

Ehrlicherweise erinnere ich mich überhaupt nicht daran, jemals eine Treppe dieser Größenordnung hochgehopst zu sein. Schon gar nicht pfeifend.

»Nimm mir die Tasche ab«, keuche ich und stütze mich an der Wand ab. »Ich bin gleich so weit.«

Sasha schultert ungerührt meine Henkeltasche und drückt die Glastür mit dem Ellbogen auf. »War dein Date mit dem Meister so anstrengend?«

Ich hole pfeifend Luft. »Nicht im Mindesten«, antworte ich grimmig, ignoriere Sashas spöttische Miene und stolziere mit erhobenem Kinn an ihr vorbei. Claire erwische ich in flagranti in der Belegschaftsküche. Mit meinem Nutella-Glas im Schoß.

»Das macht dick, Madame Durant.«

»Vor allem macht es gute Laune.« Ungerührt steckt sie den Löffel in ihren Puppenmund und dreht das Glas zu. »So wie du aussiehst, könntest du auch ein oder zwei Löffelchen davon gut brauchen.«

»Wir haben ein Problem.« Ich sinke auf den einzigen Küchenstuhl, der nicht von Jacken und Taschen belegt ist.

Keine Ahnung, wer wann damit angefangen hat, aus dem gemütlichen Gemeinschaftsraum eine Kleiderkammer zu machen. Mittlerweile stapeln sich sogar diverse Schuhkartons unter der Eckbank, woran unsere Praktikantin sicher nicht ganz unschuldig ist.

»Haben wir oder hast du das Problem?« Sasha schiebt sich an Claire vorbei und stellt meine Tasche auf den Tisch, auf dem sich leere Imbissboxen vom Thailänder stapeln. »Was schleppst du bloß alles mit dir rum? Die wiegt ja mindestens fünf Kilo.«

»Schick die hässliche Vase bitte zum Flughafenrestaurant zurück«, seufze ich und drehe mich zu Claire um, die mich abwartend anschaut. Meine Augen brennen. »Ich glaube, diesmal bin ich in ein richtig böses Fettnäpfchen getreten.«

Die Französin runzelt die Stirn. »Was ist ein Fettnäpfchen?«

»Sie meint, dass sie Mist gebaut hat.« Sasha rückt interessiert näher.

Ich öffne den Mund, aber der Satz bleibt in meiner Luftröhre stecken.

Claire setzt sich neben mich und greift nach meiner Hand. »Was ist passiert?«

»Der Artikel über das Tre Camini … Findest du ihn gemein?«

Ängstlich warte ich auf ihre Reaktion. Claire und Sasha schauen sich an.

»Nett ist er nicht gerade«, antwortet Claire behutsam. »Aber das sind deine Artikel selten, n’est-ce pas

»So schlimm?«, frage ich kleinlaut.

»Also, ich find ihn witzig. Vor allem die Tiefkühlgemüseleichen in Fertigbrühe. Oder die Spinatmatsche auf rohen Spaghetti.« Sasha grinst und zieht sofort den Kopf ein, als mein tadelnder Blick sie trifft.

»Geht es wieder um ein Schreiben von irgendeinem Anwalt?« Claire bleibt sachlich, wofür ich ihr wirklich dankbar bin.

»Der Besitzer der Trattoria ist der Überzeugung, mein Artikel sei am Herzinfarkt seiner Großmutter schuld.« Erneut das Ziehen in der Brust.

»Auweia, das is’n Ding!«

Dafür kassiert Sasha einen erhobenen Zeigefinger von Claire, woraufhin meine Praktikantin sich geschäftig meiner Tasche zuwendet. Ich rede rasch weiter, ehe ich in Tränen ausbreche. Ich kann mich nicht erinnern, jemals derart die Fassung verloren zu haben. Und das ausgerechnet in der Redaktion.

»Jetzt besteht dieser Camini darauf, dass ich gefeuert werde.«

»Das ist nicht schön.«

»Und die Kohle für seine Schadensersatzforderung kriege ich erst in zehn Jahren zusammengeschrieben, wenn überhaupt. Ich bin so was von geliefert.« Mit Todesverachtung schraube ich das Nutella-Glas auf. Treppe hin oder her, ich brauche Zucker. Viel Zucker.

»Wir finden schon eine Lösung.« Claire schielt zu unserer Volontärin hinüber, die gerade die gestreifte Blumenvase auf den Tisch stellt.

»Das bezweifle ich.«

»Hanna …« Sasha ist auch ganz bleich geworden.

Niedlich, dass sogar sie sich Sorgen um mich macht. Dabei bin ich manchmal wirklich eine grausame Vorgesetzte. Ich schnuppere an dem Nutella-Glas.

»Gibst du mir mal deinen Löffel rüber?« Sagt schließlich keiner, dass ich heute damit anfangen muss, meine Kondition zu verbessern.

»Hanna!«

»Was? Wenn Claire trotz pfundweise Nutella so dünn bleibt, kann ich ja wohl einen kleinen Löffel davon essen.«

»Das Ding da. Das ist keine Vase.« Sashas Stimme zittert.

»Was redest du da, Mädchen?« O Gott, dieses Schokoladenzeug schmeckt fantastisch!

»Ich fürchte, dir wird die Antwort nicht besonders gefallen.« Sasha scheint sich jeden Moment übergeben zu müssen, dabei ist sie doch sonst nicht so leicht zu erschüttern. Ob irgendwas Ekliges an der Vase klebt? Claire macht Anstalten, sie zu berühren, zuckt jedoch mit weit aufgerissenen Augen zurück.

»Mon Dieu!«, flüstert sie.

»Mädels, was ist denn los mit euch? Das ist doch nur …«

»Eine Urne«, murmelt Sasha mit Grabesstimme. »Mein Opa hat auch so eine bekommen. Die war nur nicht so bunt.«

Plötzlich ist es totenstill in dem kleinen Raum. Und mir ist jetzt definitiv nicht mehr nach Schokolade.

Seit ungefähr einer Viertelstunde stehen wir reglos um den Esstisch herum und starren das Porzellangefäß an, als handele es sich um einen gestreiften Kugelfisch.

»Bist du sicher, dass du dich nicht irrst?«, raune ich.

»Kannst gerne nachgucken«, wispert Sasha zurück. »Ich mach’s jedenfalls nicht.«

»Wie sollte eine Urne in ein Flughafenrestaurant geraten? Das ist doch total haarsträubend. Und wieso flüstern wir überhaupt?«

»Das hat etwas mit piété zu tun«, haucht Claire und putzt ihre Brille.

Immerhin spricht sie wieder und scheint demnach keinen größeren Schock davongetragen zu haben. Was man von mir nicht behaupten kann. Ich habe einen Leichnam gestohlen. O mein Gott.

»Genau, Pietät.« Sasha schnieft.

Die Französin bläht die Nasenflügel, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie eine Story wittert.

»Vielleicht hat jemand sie in dem Restaurant vergessen.«

»Ich glaube es einfach nicht.« Meine Hand schnellt vor.

»Neiiin!«, brüllen die beiden im Chor, ich zucke zurück.

»Was denn? Ich muss doch wenigstens nachsehen, ob ihr recht habt!«

Claire fasst sich schließlich ein Herz und hebt die Urne vorsichtig in die Höhe. Schmaläugig begutachtet sie das Gefäß von allen Seiten, befingert die Korkversiegelung und dreht die Urne kurzerhand auf den Kopf. »Da ist eine Metallplakette.«

»Steht was drauf?« Sasha reckt das Kinn, ohne ihren Sicherheitsabstand aufzugeben.

»Ouuu!«

»Was ist?« Diesmal Sasha und ich synchron.

Merkwürdigerweise scheint Claire unentschlossen, ob sie weinen oder lachen soll. »Quelque chose ne tourne pas rond«, murmelt sie und setzt noch eine weitere Floskel hinzu, die ich nicht übersetzen kann.

»Was geht nicht mit rechten Dingen zu?«

Behutsam stellt Claire die Urne auf den Tisch zurück und hebt den Kopf. Ihr Blick ruht halb mitleidig und halb belustigt auf mir. »Ich fürchte, diesmal kommst du mit dieser Souvenirsache nicht auf dem Postweg davon.«

Trotzig schiebe ich das Kinn vor. »Was meinst du damit?«

»Sieh selber nach.«

Ich habe noch nie einen Toten berührt. Gut, eigentlich ist es kein Toter, sondern nur seine Asche, und die ist in diesem Porzellanding, aber …

»Sie wird dich nicht beißen.« Claires Himmelfahrtsnase zuckt.

Eine Frau also. Atmen, Hanna! Atmen! Die Urne fühlt sich gar nicht wie eine Urne an. Sie ist glatt und kühl und könnte ein Milchkrug sein. Ich lese die Gravur. Einmal. Dann ein zweites Mal. Giuseppa Camini, 1932-2014. Tre Camini, Toskana.

Es dauert ein paar Sekunden, bis es in meinem Kopf klick macht. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ding hier nicht das ist, was ich denke?«, frage ich ruhig.

Claire hebt die Hand. Zwischen ihren Daumen und ihren Zeigefinger passt maximal ein Bleistift. Ich nicke langsam.

»Ich habe also mit meinem Artikel nicht nur eine italienische Großmutter umgebracht, sondern auch noch ihre Urne gestohlen.«

»Nun ja … in Frankreich sagen wir Schicksal dazu.«

FABRIZIO

»Was hast du dir bloß dabei gedacht, Carlo?«

Seit ungefähr einer halben Stunde gehe ich wütend in der Küche umher, während Rosa-Maria den Teig knetet, als hinge ihr Leben davon ab. Um ehrlich zu sein, ist Wut seit meiner Ankunft hier im Tre Camini das einzige Gefühl, das ich empfinden kann. Daran ändern Rosas ofenwarme panini nicht das Geringste. Carlo knabbert ungerührt an seinem Zahnstocher.

»Eh, Fabrizio, setz dich und nimm dir ein Glas Wein. Deine schlechte Laune ist ja kaum auszuhalten.« Mein Freund schüttelt den Kopf. Sein Zahnlückengrinsen treibt mich zur Weißglut.

»Wie konntest du nur zulassen, dass dieser cretino in meiner Küche kocht, Rosa-Maria?«...