Eine Wissenschaft des Träumens - Sigmund Freud und seine Zeit -

von: Annette Meyhöfer

Knaus, 2009

ISBN: 9783641011376 , 801 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Eine Wissenschaft des Träumens - Sigmund Freud und seine Zeit -


 

Uneinigkeit und Streit (S. 341-342)

In den letzten Tagen des März 1910, auf dem Zweiten Psychoanalytischen Kongreß in Nürnberg, wurde Jung zum Präsidenten der neugegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung gewählt und damit offiziell als Freuds Stellvertreter und Erbe etabliert. Die Thronrede hielt Sándor Ferenczi, der sich freiwillig erboten hatte, die Rolle des Scharfmachers zu übernehmen. Anfang des Jahres hatte Freud, der sich einst so gern über seinen «Verein» lustig machte, ihn gebeten, sich Gedanken über eine «strammere Organisation mit Vereinsformen und kleinem Beitrag» zu machen.

Und dieser hatte die Anregung begeistert aufgegriffen, so konnte man endlich «unerwünschte Elemente» fernhalten, denn die psychoanalytische «Weltanschauung» durfte keineswegs zur «demokratischen Gleichmacherei» werden, vielmehr sollte, nach der platonischen Idee, die «geistige Elite der Menschheit» die Vorherrschaft erhalten, nun wollte er sich Gedankenmachen über «Organisation und Propaganda».

Freud war es zufrieden, er hatte bereits im Herbst Jung eine Art «literarische Diktatur» für das Jahrbuch vorgeschlagen, die Leute konnten es doch nicht entbehren, gegängelt zuwerden. Jung hingegen schien gänzlich unbekümmert, als ahnte er nicht einmal seine künftige Rolle. Er wußte, daß Freud in Nürnberg über die Chancen der Psychoanalyse zu referieren vorhatte, er selbst wollte über ihre Entwicklung sprechen. Freud gefiel die «eine hübsche Verschränkung », da Jung die Zukunft, er selbst die Vergangenheit der «Dame» repräsentiere.

Vielleicht gab den letzten Ausschlag für die Gründung der Vereinigung die Anfrage eines gewissen Apothekers Knapp aus Bern, ob die Analytiker nicht seiner neuen «Internationalen Brüderschaft für Ethik und Kultur» unter dem Vorsitz von Albert Forel beitreten wollten. Es waren bewegte Zeiten, es gab Abstinenzler- und Freikörperkulturbewegungen, religiöse und politische, intellektuelle und künstlerische Mouvements, es gab nicht zuletzt die völkische Bewegung. Jung glaubte, man müsse der Psychoanalyse noch Zeit lassen, «von vielen Zentren aus die Völker zu infiltrieren, beim Intellektuellen den Sinn fürs Symbolische und Mythische wiederzubeleben, den Christum sachte in den weissagenden Gott der Rebe, der er war, zurückzuverwandeln, und so jene ekstatischen Triebkräfte des Christentums aufzusaugen, alles zu dem einen Ende, den Kultus und den heiligen Mythos zu dem zu machen, was sie waren, nämlich zum trunkenen Freudenfeste, wo der Mensch in Ethos und Heiligkeit Tier sein darf».

Freud wiederum wollte weder der Antialkoholbewegung beitreten noch irgendeiner anderen, sein «Orden» sollte «so wenig eine Religionsgemeinschaft werden wie etwa eine Freiwillige Feuerwehr». Doch Jung, das ahnte er wohl, steckte wieder einmal in einer seiner Krisen, war uneins mit sich selbst, mit Freud und mit der Psychoanalyse überhaupt, es tobte in ihm, religiös und erotisch. Wie immer versucht er, ihn zu besänftigen und seine Bedenken zu zerstreuen: «Also sei ruhig, lieber Sohn Alexandros, ich lasse Dir mehr zu erobern, als ich selbst bewältigen konnte, die ganze Psychiatrie und die Zustimmung der zivilisierten Welt, die mich als Wilden zu betrachten gewohnt ist!»3 Der Mann, der seinem kleinen Bruder Alexander den Namen gegeben hatte, wußte nur zu gut, was aus dem Vater des Eroberers geworden war. Jung fuhr derweil nach Amerika, bis zuletzt mußte Freud um sein Erscheinen in Nürnberg zittern. Einen Tag vor dem Kongreß war der designierte Präsident zurück. Freuds Sorgen sollten jedoch jetzt erst richtig losgehen.