Good as Gone - Ein Mädchen verschwindet. Eine Fremde kehrt zurück. Roman

von: Amy Gentry

C. Bertelsmann, 2017

ISBN: 9783641204938 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Good as Gone - Ein Mädchen verschwindet. Eine Fremde kehrt zurück. Roman


 

1

Julie ist seit acht Jahren fort, aber tot ist sie schon viel länger – seit Ewigkeiten. Ich trete in die schwüle Luft hinaus, um meine letzte Seminarstunde des Frühjahrssemesters zu halten. Mitte Mai ist es in Houston so schwül, als würde einem jemand seinen heißen Atem ins Gesicht blasen. Noch bevor ich die Haustür abgeschlossen habe, bildet sich ein feuchter Film zwischen Haut und Kleidern; fünf Schritte zur Garage, und jede noch so versteckte Körperstelle ist glitschig geworden. Als ich schließlich am Auto bin, läuft mir der Schweiß sogar zwischen die Finger, sodass mir der Thermobecher mit Kaffee beim Einsteigen in den Geländewagen fast entgleitet und heiße Tropfen herausspritzen. Ein paar landen auch auf meiner Hand, aber ich ignoriere den brennenden Schmerz und stelle die Klimaanlage an.

Jedes Jahr kommt der Sommer ein Ideechen früher.

Ich setze den Wagen zurück durch das eiserne Sicherheitstor, das wir einbauen ließen, als es schon zu spät war, und fädele mich auf Anliegerstraßen zum Zubringer und auf die Interstate 10 durch, wo sich massive Autobahnauffahrten aus Beton wie geriffelte Dinosaurierschwänze in den Himmel schwingen. Um acht Uhr, wenn die Hauptverkehrsadern in der Rushhour völlig verstopft sind, schleiche ich durch den vierzehnspurigen Verkehrsinfarkt, eine Landschaft aus glänzenden Motorhauben und roten Rückleuchten, die im diesigen Morgenlicht matt blinken.

Weil ich freie Sicht über die Autos brauche, steht der benzinsparende Prius in der Garage, während ich tagein, tagaus mit Toms Koloss von schwarzem Range Rover – nicht, dass er ihn brauchen würde – über drei verschiedene Freeways zur Universität und zurück fahre. Wenn ich im Schneckentempo dahinkrieche, kann ich die anderen Fahrer im Berufsverkehr vergessen und mich auf die abblätternden Buchstaben an den Betonvordächern von Ladenzeilen konzentrieren: BIG BOY DOLLAR STORE, CARTRIDGE WORLD, L-A HAIR. Das neonpinke Grinsen eines Tex-Mex-Restaurants, ein gelb-blaues IKEA-Ungetüm ragen hinter der Mautstraße auf, die gelbstichigen Backsteine von Apartmentanlagen, durch wuchernde Hecken aus Kräuselmyrten kaum vom Freeway abgeschirmt – alles erinnert mich daran, dass das Schlimmste bereits geschehen ist. Ich brauche das, wie meine Mutter ihren Rosenkranz brauchte. Gegrüßet seist du, Mister Carwash, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Bitte für uns, o Qwik-Fast-Copyshop. Heilige Mutter des Self-Storage, zu dir seufzen wir.

Selbst Julies Plakatwände sind weg. Genau hier war mal eine, an der Kreuzung zwischen der I-10 und der Umgehungsstraße 610, am Seniorenhochhaus, das zwischen Baptistenkirche und Betonüberführung eingepfercht ist, doch die Treuhänder haben vor fünf Jahren beschlossen, dass die Plakate weg sollten. Oder ist es noch länger her? Ich glaube, es wurde ihnen zu teuer, auch wenn ich nie wusste, was sie kosteten – der Julie-Fonds ist Toms Terrain. Heute strahlt das überdimensionale zahngeweißte Lächeln des Predigers einer Megakirche von der Plakatwand, neben den Worten STATT JEDERMANNSGLAUBEN: JEDEN TAG NEU GLAUBEN! Ich wüsste gern, ob sie ihn einfach direkt auf ihr Gesicht gepappt oder ob sie sie zuvor in Streifen heruntergerissen haben. Was für ein unsinniger Gedanke; seither war so vieles andere plakatiert. Zahnärzte, Vasektomie-Rückoperationen. Aus dem Seminarplan von heute geistert mir ein Vers von Wordsworth durch den Kopf: Wohin ist nun die Strahlung der Vision,/Wohin die Herrlichkeit des Traums entflohn?

Ich setze den Blinker und fädele mich auf die Umgehungsstraße ein. Trotz all der Jahre, in denen ich die Lyrik von Wordsworth gelesen und erforscht habe – obschon ich nun also gleich in einem Seminarraum voll formbarer junger Studenten darüber dozieren werde und das auch weiterhin vorhabe, solange meine Universität mich auf meinem Posten belässt, ohne Publikationen, Gremienarbeit oder sonstige Turnübungen zusätzlich zu der großen Überwindung, die es mich kostet, mich jeden Morgen aus dem Bett zu quälen und einer Welt zu stellen, in der meine schlimmste Befürchtung wahr geworden ist und ich dennoch irgendwie weiterlebe –, trotz alledem glaube ich weder an die Strahlung der Vision noch an den Traum. Sondern an Statistiken.

Statistiken besagen, dass die meisten entführten Kinder von Tätern verschleppt werden, die sie kennen; Julie wurde von einem Fremden entführt. Laut Statistik versuchen die meisten Kindesentführer, ihre Opfer in ein Fahrzeug zu locken; Julie wurde mitten in der Nacht mit vorgehaltenem Messer aus ihrem eigenen Zimmer entführt, während meine andere Tochter Jane in einem Schrank versteckt zusah. Und schließlich kommen statistisch gesehen drei Viertel aller entführten Kinder, die ermordet werden, in den ersten drei Stunden ihrer Entführung ums Leben. Wir nehmen an, dass Jane ziemlich genau drei Stunden lang im Wandschrank hockte, starr vor Schreck, bevor sie Tom und mich mit panischem Schreien weckte.

In dem Moment, in dem wir Julies Verschwinden bemerkten, war ihr Schicksal bereits besiegelt.

Die Unerbittlichkeit hat sich auf alles übertragen, wie eine ansteckende Krankheit oder wie Benzingestank. Um mir selbst einzubläuen, dass Julie tot ist, sage ich mir, dass sie es schon immer war: schon vor ihrer, schon vor meiner Geburt. Bevor Wordsworth zur Welt kam. Wenn ich an den Kiefern des Memorial Parks vorbeikomme, stelle ich mir vor, wie sie unter einer Decke rötlich-goldener Nadeln mit leerem Blick nach oben starrt. Wenn ich am Crestview-Wohnkomplex vorbeifahre, sehe ich sie im Azaleenbeet begraben liegen. Die Ladenzeile mit dem SunRay Nagelstudio und Spa ruft vor meinem inneren Auge Bilder vom Müllcontainer hinter dem SunRay Nagelstudio und Spa auf. Das ist meine Vision, mein Traum.

Früher wollte ich die ganze Welt für Julie. Jetzt will ich nur etwas zum Bestatten.

Mein Seminar – das letzte vor den Sommerferien – verstreicht wie auf Autopilot. Wordsworth könnte ich im Schlaf herbeten, und auch wenn ich jetzt wach bin, träume ich vor mich hin. Ich sehe den kristallblauen Pool, glitzernd wie ein Juwel, umgeben von einem frisch abgeschliffenen Sonnendeck unter hohen, hageren Kiefern. Die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen wegen dieses Pools, und ich weiß noch, wie ich Tom, den Buchhalter, gefragt habe, ob wir ihn uns wirklich leisten konnten. Der gehobene Stadtteil Energy Corridor mit seinem Mehrwert an Starbucks und gut erreichbaren Country Clubs war eigentlich nicht unser Stil – vor allem nicht meiner. Aber die Mädchen fanden den Pool toll, sogar noch toller, als eigene Zimmer zu bekommen. Sie hatten nichts daran auszusetzen, dass wir aus einer schäbigen, von der Universität zu Verfügung gestellten Dienstwohnung in eine noble Wohngegend der Einfamilienhäuser mit Doppelgaragen und grünen Rasen zogen, bestückt mit Schildern zur Unterstützung von Highschool-Footballteams. Wir hatten verschiedene Gründe dafür, aber natürlich wollen alle nur hören, dass es uns sicherer schien.

»Das war’s für heute. Und nicht vergessen, Abgabetermin für Ihre Seminararbeiten ist der achtundzwanzigste, in meinem Postfach, spätestens fünf Uhr.« Als ich bei »einen schönen Sommer noch« angelangt bin, sind die meisten schon zur Tür raus.

Ich gehe über den Flur zu meinem Büro und spüre ein leises Vibrieren an der Hüfte. Eine SMS von Tom.

Kannst du Jane abholen? IAH 4:05, United 1093.

Ich lege das Handy weg, setze mich an meinen Computer und googele »universität washington akademischer terminkalender«. Dann sehe ich im Telefonverzeichnis nach, rufe eine Verwaltungsangestellte der Uni Washington an, mit der ich auf der Graduiertenschule war, und unterhalte mich kurz mit ihr.

Ich schreibe Tom zurück: Soll ich auch Abendessen holen?

Ein paar Minuten später: Nee.

Mehr haben wir beide uns offenbar nicht dazu zu sagen, dass Jane kurz vor dem Ende ihres ersten Studienjahrs nach Hause kommt.

Zurzeit ist es eine Kunst für sich, Jane in einer Menschenmenge zu erkennen. Man weiß nie, welche Farbe ihre Haare gerade haben. Ich warte in der Nähe von Gepäckkarussell neun, bis sich ein großes Mädchen mit schwarz-burgunderrotem Schopf aus dem Passagierknäuel löst. Nur eine ausgebleichte grüne Stirnlocke hat die letzte Färbeaktion unversehrt überstanden und baumelt ihr nun vor den Augen.

»Hi, Mom.«

»Hallo, Jane.« Wir umarmen uns, ihre schwere Büchertasche schlägt gegen meine Hüfte, als sie sich vorbeugt, und dann erzittert das leere Gepäckförderband mit einem kreischenden Geräusch, nach dem wir uns beide umsehen, während ich mir strikt verbiete, sie nach ihrem vorgezogenen Besuch auszufragen.

»Du hast die Haare wieder anders«, stelle ich fest.

»Jap.«

Alles, was Jane sagt oder tut, ist eine Variation des Türenknallens, das sie in der Mittelstufe zu ihrem Markenzeichen erhob, ein paar Jahre nach Julies Entführung. Auf der Highschool nahm sie zusätzlich laute Musik, gefärbte Haare und das eine oder andere Piercing ins Repertoire auf, doch das Türenknallen war und blieb die Hauptattraktion ihrer Auftritte. Tom folgte ihr dann immer pflichtschuldigst die Treppe rauf, wo er das Schluchzen und Schreien über sich ergehen ließ, das nur in gedämpfter Lautstärke zu mir durchdrang. Ich ließ ihr lieber ihre Ruhe.

»Hattest du einen guten Flug?«

»War okay.«

Lang war er. Ich habe Jane im Verdacht, dass sie sich hauptsächlich wegen der Entfernung von Houston für die Uni Washington entschieden hat. Als kleines Mädchen hat sie gesagt, sie wolle...