In ewiger Schuld - Thriller

von: Harlan Coben

Goldmann, 2017

ISBN: 9783641185985 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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In ewiger Schuld - Thriller


 

EINS

Sie begruben Joe drei Tage nach seiner Ermordung.

Maya trug schwarz, wie es sich für eine trauernde Witwe gehörte. Die wütende Sonne brannte unermüdlich auf sie herab und erinnerte sie an die Monate, die sie in der Wüste verbracht hatte. Der Pastor der Familie spulte die üblichen Klischees ab, aber Maya hörte nicht zu. Ihr Blick wanderte zum Schulhof auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Ja, vom Friedhof aus überblickte man den Hof einer Grundschule.

Maya war hier unzählige Male vorbeigefahren, links der Friedhof, die Grundschule rechts, doch die seltsame, wenn nicht sogar obszöne Anordnung war ihr nie aufgefallen. Was war zuerst da gewesen, fragte sie sich, der Schulhof oder der Friedhof? Wer hatte die Entscheidung getroffen, eine Schule neben den Friedhof zu bauen – oder umgekehrt? War dieses Nebeneinander von Lebensende und Lebensanfang überhaupt wichtig, oder war es nur irgendwie rührend? Der Tod war so nah – immer, nur einen Atemzug entfernt –, vielleicht war es also klug, den Kindern diesen Gedanken schon früh nahezubringen.

Mit diesen Nichtigkeiten beschäftigte sich Maya, während sie zusah, wie Joes Sarg in der Erde verschwand. Lenk dich ab. Das war der Schlüssel. Bring’s hinter dich.

Das schwarze Kleid juckte. Im letzten Jahrzehnt war Maya bei über hundert Begräbnissen gewesen, dies war jedoch das erste Mal, dass sie Schwarz tragen musste. Sie hasste es.

Rechts neben ihr verging Joes engste Familie – seine Mutter Judith, sein Bruder Neil, seine Schwester Caroline – vor Hitze und tiefer Trauer. Links neben ihr wurde ihre (und Joes) zweijährige Tochter Lily unruhig und fing an, Mayas Arm als Seilschaukel zu benutzen. Man sagte, dass zu Kindern keine Gebrauchsanweisung mitgeliefert wurde. Das schien nie zutreffender gewesen zu sein als heute. Wie, fragte Maya sich, lautete die Etikette für eine Situation wie diese? Ließ man seine zweijährige Tochter zu Hause, oder nahm man sie mit auf die Beerdigung ihres Vaters? Solche Themen wurden auf den allgegenwärtigen, ansonsten scheinbar allwissenden Mami-Websites nicht behandelt. In einem Anfall zornigen Selbstmitleids hätte Maya die Frage fast gepostet: »Hi, ihr Lieben, mein Mann wurde vor Kurzem ermordet. Soll ich meine zweijährige Tochter zur Beerdigung mitnehmen oder sie zu Hause lassen? Oh, und hättet ihr vielleicht ein paar Kleidungstipps? Danke.«

Auf der Beerdigung waren hunderte Menschen, und aus einer tief verborgenen Hirnwindung wurde ihr signalisiert, dass Joe das gefallen hätte. Joe hatte Menschen gemocht. Und die Menschen hatten Joe gemocht. Aber natürlich waren die vielen Leute nicht nur gekommen, weil er so beliebt gewesen war. Auch der morbide Reiz der Tragödie hatte die Trauergäste angelockt: Ein junger Mann, der charmante Spross der wohlhabenden Burkett-Familie – und Ehemann einer in einen internationalen Skandal verwickelten Frau –, war kaltblütig erschossen worden.

Lily legte beide Arme um das Bein ihrer Mutter. Maya beugte sich hinunter und flüsterte: »Es dauert nicht mehr lange, Mäuschen, okay?«

Lily nickte, umklammerte sie aber nur noch fester.

Maya nahm wieder Habtachtstellung ein und strich mit beiden Händen das kratzige schwarze Kleid glatt, das sie sich von Eileen geliehen hatte. Joe hätte nicht gewollt, dass sie Schwarz trug. Er hatte sie lieber in der Ausgehuniform gesehen, die sie früher getragen hatte, als sie noch Army Captain Maya Stern war. Als sie sich damals bei einer von den Burketts organisierten Wohltätigkeitsgala zum ersten Mal begegneten, war Joe im Frack direkt auf sie zugekommen, hatte sie dreist angelächelt (Maya hatte den Begriff dreist erst wirklich verstanden, als sie dieses Lächeln gesehen hatte) und gesagt: »Wow, ich dachte, Männer in Uniform würden die Leute antörnen.«

Ein lahmer Anmachspruch, so lahm, dass er sie zum Lachen gebracht hatte, was Joe den Auftakt verschaffte, den er brauchte. Er war aber auch verdammt attraktiv. Selbst in dieser Situation, in dieser drückenden Schwüle, nur ein paar Schritte von seiner Leiche entfernt, konnte sie sich ein schwaches Lächeln nicht verkneifen. Ein Jahr später waren Maya und Joe verheiratet. Nicht viel später kam Lily. Und jetzt, als hätte jemand bei einem Video den Schnellvorlauf gedrückt, stand sie hier beim Begräbnis ihres Ehemanns und des Vaters ihres einzigen Kindes.

»Alle Liebesgeschichten«, hatte Mayas Vater ihr vor vielen Jahren verkündet, »enden in einer Tragödie.«

Maya hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Mein Gott, Dad, das ist gruselig.«

»Ja, aber so ist es: Entweder vergeht die Liebe, oder man hat das seltene Glück, dass sie ewig dauert, sodass man dazu verdammt ist, die Liebe seines Lebens sterben zu sehen.«

Maya hatte das Bild ihres Vaters vor Augen, der ihr in ihrem Haus in Brooklyn am vergilbten Resopal-Küchentisch gegenübersaß. Dad hatte die Strickjacke an, die er immer trug (alle Berufsgruppen, nicht nur das Militär, hatten irgendeine Art Uniform). Um ihn herum stapelten sich die College-Essays, die er benoten musste. Mom und er waren schon vor Jahren gestorben, nur ein paar Monate nacheinander. Ehrlich gesagt konnte Maya immer noch nicht genau beurteilen, in welcher Art von Tragödie ihre Liebe geendet hatte. Während der Pfarrer weiter salbaderte, umfasste Judith Burkett, Joes Mutter, Mayas Hände im Todesgriff der Trauernden.

»Das«, murmelte die alte Frau, »übertrifft es noch.«

Maya fragte nicht, was sie damit meinte. Es war nicht nötig. Judith Burkett trug schon das zweite Kind zu Grabe: Zwei ihrer drei Söhne waren verstorben, einer angeblich bei einem tragischen Unfall, einer war ermordet worden. Maya blickte auf ihr eigenes Kind hinunter und überlegte, wie eine Mutter mit diesem Schmerz weiterleben konnte.

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, flüsterte die alte Frau: »Es wird nie wieder gut.« Die schlichten Worte zerteilten die Luft wie die Sense des Schnitters. »Niemals.«

»Es war meine Schuld«, sagte Maya.

Das hatte sie nicht sagen wollen. Judith hob den Blick und sah sie an.

»Ich hätte …«

»Du hättest nichts tun können«, sagte Judith. Es wirkte wenig überzeugend. Maya verstand das, weil die anderen vermutlich etwas Ähnliches dachten. Maya Stern hatte früher viele Menschen gerettet … warum hatte sie ihren eigenen Mann nicht retten können?

»Asche zu Asche …«

Wow, bemühte der Pfarrer wirklich diese abgedroschene Floskel, oder bildete Maya sich das ein? Sie hatte nicht aufgepasst. Das tat sie nie auf Beerdigungen. Sie war dem Tod schon zu oft zu nahe gewesen. Sie kannte das Geheimnis, wie man eine solche Zeremonie überstand: Betäub dich. Konzentrier dich auf gar nichts. Lass alle Geräusche und Eindrücke bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Joes Sarg prallte mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Es klang in der stillen Luft zu lange nach. Judith taumelte, stöhnte und stützte sich auf Maya. Maya verharrte in militärischer Haltung – hoch erhobener Kopf, kerzengerader Rücken, die Schultern nach hinten. Sie hatte kürzlich einen dieser Selbsthilfe-Artikel gelesen, die die Leute so gerne per Mail weiterleiteten. Es ging um »Power-Posing«, das angeblich der Leistungssteigerung diente. Das Militär hatte den Nutzen dieses Leckerbissens der Küchenpsychologie schon lange für sich entdeckt. Soldaten präsentierten sich nicht in Habtachtstellung, weil es gut aussah, sondern weil es ihnen Kraft gab oder – was ebenso wichtig war – weil es Freund und Feind gegenüber so wirkte, als sei man stärker. Kurz hatte Maya einen Flashback – das glänzende Metall, das Geräusch der Schüsse, Joes Sturz, Mayas blutverschmierte Bluse, während sie durch den dunklen Park stolperte, ferne Straßenlaternen von dunstigen Heiligenscheinen gekrönt …

»Hilfe … bitte … helfen Sie mir … mein Mann wurde …«

Sie schloss die Augen und schob das Bild beiseite.

Halt durch, sagte sie sich. Bring’s einfach hinter dich.

Und das tat sie.

Dann die Kondolenzbekundungen.

Es gab nur zwei Gelegenheiten, bei denen man sich anstellen musste, um jemandem die Hand zu geben. Begräbnisse und Hochzeiten. Diese Tatsache hatte sicher etwas Rührendes an sich, Maya kam nur nicht darauf, was genau das war.

Sie hatte keine Ahnung, wie viele Leute an ihr vorbeigingen, aber es dauerte Stunden. Trauergäste schlurften vorwärts wie in einem Zombiefilm – es würde nicht helfen, einen zu erschlagen, es wurden immer mehr. Nur nicht aufgeben.

Die meisten begnügten sich mit einem leisen: »Mein herzliches Beileid«, was die perfekte Wahl war. Andere redeten zu viel. Darüber, wie tragisch das alles sei, was für ein Verlust, wie die Stadt vor die Hunde gehe, dass sie fast schon mal mit vorgehaltener Pistole beraubt worden wären (Regel Nr. 1: Wenn du kondolieren willst, sprich nicht über dich selbst), dass sie hofften, die Polizei werde die Bestien, die das getan hatten, auf den elektrischen Stuhl schicken, was für ein Glück Maya gehabt habe, dass Gott über sie gewacht habe (was wohl implizierte, dass Gott sich für Joe nicht so sehr interessiert hatte), dass hinter allem ein höherer Plan stecke, dass nichts ohne Grund geschehe (ein Wunder, dass sie diesen Leuten nicht direkt ins Gesicht schlug).

Joes Familie wurde müde, sie mussten sich zwischendurch setzen. Maya nicht. Sie blieb die ganze Zeit stehen, sah den Trauergästen in die Augen und begrüßte jeden mit einem festen Händedruck. Durch mehr oder weniger dezente Körpersprache ließ sie diejenigen abblitzen, die ihrer Trauer durch Umarmungen oder...