Macbeth - Blut wird mit Blut bezahlt. Thriller - Internationaler Bestseller

von: Jo Nesbø

Penguin Verlag, 2018

ISBN: 9783641220808 , 624 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Macbeth - Blut wird mit Blut bezahlt. Thriller - Internationaler Bestseller


 

1

Ein Regentropfen fiel schimmernd vom Himmel, durch die Dunkelheit und hinab auf die flackernden Lichter des Hafens. Kalte Nordwestböen trieben ihn über das ausgetrocknete Flussbett, das die Stadt der Länge nach teilte, und über die stillgelegte Bahnstrecke, die die Stadt diagonal durchschnitt. Die vier Quadranten der Stadt wurden im Uhrzeigersinn nummeriert; alles, was dahinter lag, hatte keinen Namen. Zumindest keinen, an den sich die Einwohner erinnert hätten. Und wenn man sie weit entfernt von zu Hause traf und sie fragte, woher sie kamen, behaupteten sie gern, sie könnten sich nicht einmal an den Namen ihrer Stadt erinnern.

Grau sah der schimmernde Regentropfen aus, als er in den Ruß und die giftigen Ausdünstungen eindrang, die wie ewiger Nebel über der Stadt hingen. Und das, obwohl die einheimischen Fabriken in den vergangenen Jahren nach und nach geschlossen worden waren und es sich die Arbeitslosen nicht mehr leisten konnten, ihre Öfen zu befeuern, obwohl der launenhafte Sturmwind keine Ruhe gab und es ununterbrochen regnete, angeblich seit jene zwei Atombomben den Zweiten Weltkrieg beendet hatten. Oder, anders gesagt: seit Kenneth zum Police Commissioner ernannt worden war. Von seinem Büro im obersten Stock des Polizeihauptquartiers hatte Chief Commissioner Kenneth die Stadt fünfundzwanzig Jahre lang mit eiserner Faust regiert, ohne sich darum zu kümmern, was der jeweilige Bürgermeister tat oder nicht tat oder was die jeweilige Regierung in Capitol sagte oder nicht sagte, sodass das zweitgrößte und wichtigste Industriezentrum des Landes in einem Morast aus Korruption, Bankrotten, Kriminalität und Chaos versank. Vor sechs Monaten hatte Chief Commissioner Kenneth in seinem Sommerhaus einen Schlaganfall erlitten und war drei Wochen später gestorben. Die Kosten für die Beerdigung hatte die Stadt übernommen – ein Ratsbeschluss, der vor langer Zeit von Kenneth persönlich angeregt worden war. Nach der Trauerfeier, die einem Diktator alle Ehre gemacht hätte, war von Stadtrat und Bürgermeister ein neuer Chief Commissioner berufen worden: Duncan, ein Bischofssohn mit breiter Stirn, der bislang in Capitol das Dezernat für Organisierte Kriminalität geleitet hatte. Die Bewohner der Stadt begannen zu hoffen. Es war eine überraschende Ernennung, schließlich gehörte Duncan nicht zu jenen Polizei-Urgesteinen, die wussten, wie man mit der Politik gemeinsame Sache macht, sondern zur neuen Generation gut ausgebildeter Beamter, die sich für Reformen, mehr Transparenz, Modernisierungen und den Kampf gegen Korruption einsetzten – was keineswegs auf die Mehrheit der Politiker im Stadtrat zutraf, denen es vor allem darum ging, schnell reich zu werden.

Die Hoffnung der Bürger, dass sie nun einen aufrechten, ehrlichen und visionären Chief Commissioner im Amt hatten, der die Stadt aus dem Sumpf ziehen konnte, wurde zusätzlich verstärkt, da Duncan die alte Garde der ranghöchsten Führungskräfte gegen seine eigene handverlesene Auswahl von Beamten ausgetauscht hatte. Junge, noch unbescholtene Idealisten, die tatsächlich alles daransetzten, dass man in dieser Stadt ein besseres Leben führen konnte.

Der Wind trug den Regentropfen über den Westteil von Distrikt 4 und über das höchste Gebäude der Stadt, den Funkturm auf dem Radiogebäude, in dem die einsame, stets empörte Stimme von Walt Kite kein R ungerollt ließ, während sie hoffnungsvoll verkündete, dass sie nun endlich einen Retter gefunden hatten. Zu Kenneths Lebzeiten war ausschließlich Kite mutig genug gewesen, den Chief Commissioner offen zu kritisieren und ihm einige seiner Verbrechen anzukreiden. An diesem Abend ließ Kite sich darüber aus, dass der Stadtrat derzeit alles tat, um die gewaltigen Befugnisse zurückzunehmen, mit denen Kenneth sich selbst ausgestattet hatte, um aus dem Police Commissioner den wahren Machthaber der Stadt zu machen. Paradoxerweise bedeutete das, dass sein Nachfolger – Duncan, der gute Demokrat – bei der Durchsetzung seiner überfälligen Reformen nun auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen würde. Kite fügte hinzu, dass bei der bevorstehenden Bürgermeisterwahl niemand gegen den Amtsinhaber Tourtell antreten wollte, »der auf seinem Stuhl klebt und nicht ohne Grund der fetteste Bürgermeister des Landes ist. Niemand! Denn wer könnte es schon mit unserer alten Schildkröte Tourtell aufnehmen? Von seinem Panzer aus volksnaher Jovialität und unbefleckter Moral prallt doch jede Kritik ab.«

Im östlichen Teil von Distrikt 4 trieb der Regentropfen über den Obelisken hinweg, ein Zwanzig-Stockwerke-Hotel aus Glas mitsamt Casino, das wie ein erhobener Zeigefinger aus dem bräunlichen Vier-Stockwerke-Elend hervorragte, aus dem die Stadt ansonsten bestand. Es schien vielen ein Widerspruch zu sein, aber je weniger Industrie und je mehr Arbeitslose es gab, desto beliebter war es unter den Einwohnern geworden, das Geld, das sie nicht hatten, in den zwei Casinos der Stadt zu verspielen.

»Die Stadt, die nichts mehr gibt, dafür umso lieber abkassiert«, ätzte Kite über den Äther. »Zuerst haben wir die Industrie stillgelegt, dann die Bahnstrecke, damit nur ja keiner mehr hier wegkommt. Dann haben wir angefangen, unseren Bürgern Drogen zu verkaufen – genau dort, wo sie früher ihre Bahnfahrkarten gekauft haben, damit wir sie ganz bequem abzocken können. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das mal sagen würde, aber ich vermisse die profitgierigen Industriebosse. Die waren wenigstens in respektablen Branchen unterwegs. Heute dagegen gibt es nur drei Geschäftszweige, in denen man bei uns noch reich werden kann: die Casinos, die Drogen und die Politik.«

In Distrikt 3 wehte der regennasse Wind über das Polizeihauptquartier, das Inverness-Casino und die Straßen, in denen der Regen die meisten Leute in die Häuser getrieben hatte, auch wenn einige noch immer eilig nach Schutz suchten oder auf der Flucht zu sein schienen. Weiter wehte er über den Hauptbahnhof, an dem keine Züge mehr hielten oder abfuhren und der nur noch von Geistern und zwielichtigen Gestalten bevölkert wurde. Von den Geistern der Gründerväter und ihrer Nachfolger, die diese Stadt einst voller Selbstvertrauen errichtet hatten, im Glauben an den Wert harter Arbeit, an Gott und an ihre Technologie. Sowie von den Besuchern des Drogenmarktes, auf dem man sich rund um die Uhr seinen Stoff kaufen konnte, eine Fahrkarte zum Himmel und ganz sicher auch zur Hölle.

In Distrikt 2 heulte der Wind in den Schornsteinen der größten Fabriken der Stadt, die erst kürzlich hatten dichtmachen müssen, Graven und Estex. In beiden war eine Metalllegierung hergestellt worden, aber woraus sie eigentlich bestand, konnten nicht mal diejenigen sagen, die an den Brennöfen gearbeitet hatten. Man wusste nur, dass die Koreaner inzwischen in der Lage waren, dieselbe Legierung weit billiger zu produzieren. Vielleicht lag es am Klima, dass der Verfall der Stadt so offensichtlich war, vielleicht bildete man es sich nur ein; vielleicht schienen Bankrott und Ruin derart unausweichlich, dass Kite die stummen, toten Fabriken als »ausgeplünderte Kathedralen des Kapitalismus in einer Stadt der Verlierer und des Unglaubens« bezeichnete.

Der Wind wehte in den Südosten, über Straßen mit zerschlagenen Laternen, in denen sich wachsame Schakale zum Schutz vor dem endlosen Niederschlag gegen Hauswände drückten, während ihre Beute ins Licht und damit in trügerische Sicherheit huschte. Erst kürzlich hatte Kite Chief Commissioner Duncan in einem Interview gefragt, warum das Risiko, überfallen und ausgeraubt zu werden, hier sechsmal höher war als in Capitol. Er sei froh, endlich mal eine einfache Frage gestellt zu bekommen, hatte Duncan erwidert. Es liege daran, dass die Zahl der Arbeitslosen sechsmal und die der Drogenkonsumenten zehnmal höher sei.

An den Docks standen mit Graffiti beschmierte Container, und die Kapitäne der heruntergekommenen Frachter steckten den korrupten Hafenbeamten an verlassenen Orten braune Umschläge zu, um sich einen Liegeplatz und raschere Abwicklung zu sichern. Summen, die die Reedereien unter »Sonstige Ausgaben« abrechneten, während sie sich schworen, nie wieder in dieser Stadt Geschäfte zu machen.

Eines dieser Schiffe war die MS Leningrad, ein sowjetischer Frachter, dessen Rumpf derart verrostet war, dass er im Regen aussah, als blute er ins Hafenbecken.

Der Regentropfen fiel in den Lichtkegel einer Lampe auf dem Dach eines zweistöckigen Holzgebäudes, das ein Lager, ein Büro und einen geschlossenen Boxclub beherbergte. Noch tiefer fiel der Tropfen zwischen der Hauswand und dem rostigen Schiffsrumpf und landete schließlich auf dem Horn eines Stiers. Er rann an dem Horn hinab auf den dazugehörigen Motorradhelm, den Helm hinunter und über den Rücken einer Lederjacke, auf die in gotischen Buchstaben die Worte NORSE RIDERS gestickt waren. Bis hinunter auf den Sitz eines roten Indian-Chief-Motorrads und schließlich in die Nabe seines sich langsam drehenden Hinterrads. Hier hörte er auf, ein Regentropfen zu sein, wurde wieder ausgespien und Teil des Schmutzwassers, das die gesamte Stadt bedeckte.

Hinter dem roten Motorrad folgten elf weitere. Sie fuhren unter einer der Lampen vorbei, die an der Wand eines zweistöckigen Hafengebäudes angebracht waren.

Das Licht der Lampe fiel durch das Fenster eines Handelsbüros im ersten Stock auf eine Hand, die auf einem Plakat ruhte: MS GLAMIS SUCHT KOMBÜSENPERSONAL. Die Finger waren lang und dünn, wie die eines Konzertpianisten, und die Nägel sauber manikürt. Auch wenn das Gesicht des Mannes im Schatten lag und man die intensiven blauen Augen nicht sehen konnte, stach das resolute Kinn hervor, die dünnen, verbissenen Lippen und die Nase, die aussah wie ein aggressiver Schnabel. Die Narbe, die vom Kiefer...