Religionspsychologie - Neuausgabe

von: Bernhard Grom

Kösel, 2009

ISBN: 9783641037253 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 19,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Religionspsychologie - Neuausgabe


 

Was will Religionspsychologie?

Bei der Europäischen Wertestudie von 1999/2000 erklärten 50,7% der Europäer, Religion sei in ihrem Leben ziemlich oder sehr wichtig, und 57,8% bestätigten, dass sie »aus der Religion Trost und Kraft ziehen«. Letzteres sagten von den Deutschen - unterdurchschnittlich - 49,9%, von den Polen aber - deutlich über dem Mittel - 82% (Halman, 2001).
Religion und Religiosität sind trotz gelockerter Kirchenbindung und fortgeschrittener Säkularisierung bedeutende Faktoren im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft geblieben - zu wichtig, als dass die Psychologie sie ignorieren dürfte. Wer Störungen und Ressourcen der Menschen mit den Mitteln psychologischer Forschung und Beratung angehen will, wird diesen Bereich nicht außer Acht lassen, gleich wie er selbst über Glaubensfragen denkt. Nicht wenige Menschen klagen, dass sie weder mit dem Arzt noch mit dem Psychotherapeuten darüber sprechen können, wie sie bei depressiven Verstimmungen im Gebet Zuflucht suchen, in der Trauer um einen lieben Verstorbenen »Erscheinungen« von ihm erleben oder in Sorge sind, wenn sich Tochter oder Sohn einer spirituellen Gruppe angeschlossen haben. Die beträchtliche religiöse Unwissenheit, die in weltanschaulich pluralistischen und stark säkularisierten Gesellschaften herrscht, fördert auch leicht Vorurteile gegenüber »den Kirchgängern«, »den Muslimen« oder »den Sektenanhängern«, die das Zusammenleben belasten. Die Psychologie, die doch in breiten Bevölkerungsschichten die Einsicht in psychische Probleme verbessern konnte, könnte mit ihrer Forschung bei Beratungsprofis sowie im öffentlichen Bewusstsein auch das Verständnis für religiöses Erleben, Denken und Verhalten vertiefen.
Ansätze dazu sind reichlich vorhanden, wirken auf den religionspsychologischen Laien aber unüberschaubar wie ein Dschungel. Es gibt mehrere tausend Veröffentlichungen, die sich in psychologischer Sicht mit religiösen Themen befassen, doch ein umfassendes »Menschenbild«, das uns alles Wesentliche über das Glaubensleben sagt, wird man in ihnen vergeblich suchen; das bieten allenfalls populärwissenschaftliche Erbauungs-Schriften. Die moderne Religionspsychologie, die mit den Fragebogenuntersuchungen von G. Stanley Hall (1881) und Edwin D. Starbuck (1899) sowie den Fallanalysen von William James (1902) entstand, hat im Windschatten der verschiedenen psychologischen Richtungen ganz unterschiedliche Strömungen entwickelt, die methodisch entweder mehr phänomenologisch und hermeneutisch-tiefenpsychologisch oder aber eher empirischstatistisch ausgerichtet waren (Henning, 2003; Wulff, 1997). Nach dem Abbruch der ersten Forschungsphase in den 1930er-Jahren entwickelte sich in den USA ab 1960 eine »zweite religionspsychologische Bewegung«, die entschieden erfahrungswissenschaftlich arbeitete. Angeregt von Gordon W. Allport (1950), der in seinem Fragebogen eine nutzenorientierte, extrinsische Religiosität von einer überzeugten, intrinsischen unterschied (Allport & Ross, 1967), sowie von Charles Y. Glock (1962), der innerhalb von Religiosität fünf Dimensionen annahm und durch seinen Fragebogen erhob, etablierte sich eine Religionspsychologie, die anschlussfähig war an die wissenschaftliche, akademische Psychologie und Soziologie, weil sie sich um theoretische Grundlagen und Erhebungsmethoden bemühte, die deren Standards entsprachen. Zu ihrer Anerkennung trug auch der Umstand bei, dass diese Forschung größtenteils in psychologischen, medizinischen und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen betrieben wurde. Bereits die Pioniere, der Sozial- und Persönlichkeitspsychologe Allport wie auch der Soziologe Glock, arbeiteten an Universitäten ohne theologische Fakultäten, sodass religionskritische Kollegen keinen Grund hatten, ihre Unabhängigkeit von der »religiösen Szene« anzuzweifeln.

Religionspsychologie - Psychologismus -Pastoralpsychologie

Dieser Mainstream-Religionspsychologie, die bis in die Gegenwart zahlreiche Untersuchungen von hohem wissenschaftlichem Niveau hervorgebracht hat, in Europa allerdings schwächer verankert ist (Belzen, 1998; Grzymala-Moszczynska, 1991b; Henning, 2003), ist das vorliegende Buch verpflichtet. In ihrem Sinne soll hier Religionspsychologie als ein Forschungsbereich oder eine Spezialdisziplin der Psychologie verstanden werden, die mit den Fragestellungen, Konstrukten und Methoden erfahrungswissenschaftlicher Psychologie faktisches religiöses Erleben, Erkennen und Verhalten - kurz: Religiosität - beschreibt und im Hinblick auf ihre psycho-sozialen und intrapsychischen Bedingungen erklärt und vorhersagt. Im Unterschied zur naturwissenschaftlichen Erklärung klassischer Art bedeutet hier »Erklären« freilich nur eine wahrscheinliche Vorhersage des Verhaltens in bestimmten Situationen. Eine psychologische Erklärung schließt also -sieht man von neurophysiologischen Störfaktoren einmal ab - freies, selbstbestimmtes Verhalten nicht aus, sondern benennt nur Bedingungen und Prozesse, die ihm zugrunde liegen.
So aufgefasst ist Religionspsychologie ein Bereich Angewandter Psychologie, ähnlich wie Umwelt-, Musik-, Betriebs- oder Klinische Psychologie. Tatsächlich wurden die wichtigsten religionspsychologischen Untersuchungen als Anwendungen der Differenziellen, der Klinischen, der Sozial-, der Entwicklungs- und der Gesundheitspsychologie durchgeführt. Religionspsychologie soll innerhalb der Ausbildung künftiger Psychologen und Psychotherapeuten ein angemessenes Verständnis für religiöse Phänomene bei Klienten sowie in der übrigen Bevölkerung gewährleisten. Darum sollte sie idealerweise institutionell dort verankert sein, wo die nötige Kompetenz gewährleistet ist: in den psychologischen Fachbereichen. Die Religionswissenschaft und die Theologie(n) sollten ihr als Gesprächspartner willkommen sein, bringen aber von ihrer Forschungstradition, Fragestellung und Methodik her eine andere, eigene Art von Sachverstand mit.
Um die weltanschauliche Neutralität der Psychologie zu wahren, soll die Religionspsychologie keine Anwendungsziele erforschen, denen bestimmte Wahrheitsansprüche und ethisch-religiöse Normen zugrunde liegen. Denn mit ihrer Fragestellung und ihren Methoden ist sie nur für den anschaulichen subjektiven Aspekt religiösen Erlebens, Erkennens und Verhaltens zuständig. Sie muss den objektiven Aspekt - die Frage, ob bestimmten Glaubensüberzeugungen objektive Geltung zukommt oder ob einzelne Formen von Gebet, Meditation und Gottesdienst erstrebenswert sind - der kritisch-normativen Reflexion von Ethik, Religionsphilosophie und Theologie überlassen, die dies mit ihren Argumentationsweisen zu erörtern haben.
Die Religionspsychologie hat also nicht - wie es Freud (GW 7, S. 129- 139; 9; 14, S. 323-380; 15, S. 170-197) aufgrund positivistischer Voreingenommenheit und in Überschreitung der Kompetenzgrenzen der Psychologie tat - über den Illusions- oder Realitätscharakter von religiösen Überzeugungen zu befinden; sie hat weder weltanschauliche Religionskritik noch Religionsapologetik zu betreiben. Sie soll Religiosität weder pauschal pathologisieren noch idealisieren, sondern differenziert erforschen.