Der Prinz in meinem Märchen - Roman

von: Lucy Dillon

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641088293 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Prinz in meinem Märchen - Roman


 

Michelle stand in ihrem neuen Laden und versuchte, sich einen Namen auszudenken (Nightingale’s? Home Sweet Home? Küchenparadies?), während sie sich den Verkaufsraum schon mit handgenähten Lavendel-Duftsäckchen, schweren Bienenwachskerzen und – das war das Wichtigste – ohne den Gestank von geräucherten Makrelen vorstellte.

Das riesige Ausmaß dieses Unterfangens, das sie allein stemmen wollte, wurde ihr zum fünften Mal an diesem Tag bewusst. Doch Michelle runzelte nur die Stirn und ermahnte sich – ebenfalls zum fünften Mal an diesem Tag –, dass sie das Richtige tat. Ein Neubeginn, ein neues Geschäft. Eine neue Michelle.

In einer heilen Welt hätte sie niemals einen Laden mit schicken Wohnaccessoires in einem alten Fischgeschäft eröffnet. Und wenn, dann ganz sicher nicht in einem Provinzstädtchen im hinterletzten Winkel Englands. Doch Michelle besaß ein gewisses Verkaufstalent, und ihr war klar, dass bei diesem Laden alles andere stimmte. Das heruntergekommene Longhampton mit seinen Häuserreihen aus rotem Backstein und einer deprimierenden Fußgängerzone aus Beton lechzte geradezu nach hübschen Dingen. Außerdem war das Ladenlokal günstig (was wohl auf den Fischgestank zurückzuführen war), hell und geräumig, und es lag an der Hauptstraße in direkter Nachbarschaft zu einigen Bürogebäuden, deren Angestellte während der Mittagspause sicher gerne zum Stöbern vorbeischauen würden. Und schließlich – und das war die Hauptsache – war dieses Geschäft exakt zweihundertzwanzig Kilometer von Harvey Stewart entfernt.

Diese Tatsache war der einzige Teil in Michelles neuem Leben, den sie geplant hatte. Denn Harveys Hirn fing an, unter akutem Sauerstoffmangel zu leiden, sobald er sich mehr als fünfzehn Kilometer vom Autobahnring um London entfernte. Somit war Michelle hier, wo selbst die Hunde Steppwesten trugen, sicher vor ihm und seinen subtilen Methoden, sie niederzumachen.

Beim Gedanken an Harvey merkte Michelle, wie ihr unweigerlich der Schweiß ausbrach. Schnell lenkte sie sich ab, indem sie ihren großen Schlüsselbund immer wieder in die Luft warf und auffing, während sie sich auf die neuen Geschäftsräume konzentrierte. Sie würde die Plastikregale entsorgen, die Wände in einem warmen, sanften Beigeton streichen und alles mit hübschen, witzigen Artikeln füllen. Wenn es die beruhigenden Kräfte des Renovierens und Einrichtens nicht gegeben hätte, bezweifelte Michelle, dass ihre Ehe die letzten fünf Jahre überhaupt überstanden hätte. Ihr Haus erinnerte an die schottische Forth Road Bridge: Sobald ein Projekt abgeschlossen war, hatte Michelle wieder von vorne angefangen, um sich von allem abzulenken.

Harvey hatte immer behauptet, sie leide unter ZPS, einer »zwanghaften Perfektionsstörung«. Sie könne einfach nicht zufrieden sein, bis nicht alles perfekt sei. »Wenn du denn die leiseste Ahnung davon hättest, was perfekt überhaupt ist.«

Eine Sekunde lang geriet Michelle auf ihren High Heels ins Straucheln, als stünde sie am abbröckelnden Rand einer Felsklippe. Ihr Kopf fühlte sich leicht und schwindelig an, losgelöst vom Rest des Körpers. Als sie zur Haustür hinausmarschiert war, hatte sie sich verboten, allzu sehr über das nachzudenken, was sie da tat. Panik war schon seit Längerem immer wieder in ihr aufgeflackert, doch letzten Endes war sie gegangen, als ihre Wut am größten war – ohne einen Plan, ohne eine Liste mit Dingen, die sie anpacken wollte, ohne ihre gewohnten Stützen. Und so stand sie nun hier, ganz allein in einer fremden Stadt – aber sie war frei. Der Rest ihres weltlichen Besitzes würde am Freitag von einem Möbelwagen geliefert werden, im Augenblick jedoch fühlte sie sich so ungebunden wie ein Luftballon, der versehentlich losgelassen wurde.

Ihre Handfläche schmerzte, und sie merkte, dass sie die Schlüssel so fest umklammert hielt, dass die scharfe Metallkante des Aston-Martin-Schlüsselanhängers ihr in die Hand schnitt. Langsam öffnete sie die Faust und betrachtete die letzten Überbleibsel ihres alten Lebens, das bereits so weit von ihr entfernt war, dass es ihr wie das Leben einer anderen Person vorkam.

Michelles grüner Aston Martin DB9 Volante stand nun an einer Tankstelle in Birmingham. Sie hatte den Wagen verkauft, um mit dem Geld die Kaution für den Laden zu zahlen sowie sich ein heruntergekommenes Cottage-Reihenhäuschen leisten zu können, in das sie eingezogen war. Den Schlüsselanhänger hatte sie behalten, um sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, wozu sie fähig war, wenn sie sich mit aller Macht auf etwas konzentrierte. Michelle hatte ihren Aston Martin geliebt. Nicht nur, weil sich alle nach diesem Wagen umdrehten – zumal hinter dem Lenkrad nicht ein Kerl mittleren Alters saß, sondern eine zierliche Frau mit Sonnenbrille –, sondern auch, weil sie ihn von den Provisionen gekauft hatte, die sie als Topverkäuferin im Autohaus ihres Vaters verdient hatte. Es gab nicht viele achtundzwanzigjährige Frauen, die beharrlich genug waren, um solche Verkaufszahlen zu erzielen. Und dabei mochte sie Autos nicht einmal besonders. Als plötzlich der Schmerz des Bedauerns in ihrer Brust anschwoll, ermahnte sich Michelle schnell, dass manche Leute mit dreißig Jahren noch nicht einmal auf eigenen Beinen standen, ganz zu schweigen davon, dass sie ein neues Leben begannen. Ihr blieb noch genügend Zeit, sich ein neues Auto zuzulegen.

Sie musterte das wenig verheißungsvolle Inventar des Ladens und geriet wieder ins Wanken. Eigentlich wollte sie sich diesen trostlosen Anblick hier nicht länger antun, aber genauso wenig wollte sie wieder in das schäbige Haus am Kanal zurück mit den schreiend bunten Tapeten und hier und dort feuchten Wänden. Im Laden stank es nach Fisch, und die Hauptstraße war wie ausgestorben, doch das war immer noch besser als jedes Mal zusammenzuzucken, wenn das Telefon klingelte.

»Besorg dir einen Kaffee und erstell eine Liste«, befahl sie sich selbst, wobei ihre Stimme durch das leere Geschäft hallte. Sogleich fühlte sie sich ein wenig besser.

Direkt neben dem ehemaligen Fischhändler befand sich ein Café, das im Gegensatz zu den meisten Geschäften in der Nähe offen war und für einen Sonntagnachmittag gut zu tun hatte.

Michelle bestellte sich an der Theke einen doppelten Espresso sowie ein Stück Kuchen und ließ sich dann mit ihrer To-do-Liste an einem Tisch vor dem Fenster nieder, wo sie ihre Konkurrenz auf der Hauptstraße analysieren konnte. Dieses Café hatte etwas – lag es an der makellosen Reinheit? Den selbstgebackenen Kuchen? –, das sehr beruhigend auf Michelle wirkte. Doch neben all den plaudernden Pärchen und Familien, die an den Nachbartischen saßen, fühlte sie sich plötzlich unsicher, als würde sie ihre Einsamkeit wie einen unangenehmen Geruch ausströmen. Wie fand man als erwachsener Mensch Freunde, wenn man nicht in einem Büro arbeitete oder jeden Morgen Kinder zur Schule fahren musste? Sie meinte nicht Geschäftskontakte wie ihr neuer Anwalt oder der Immobilienmakler, sondern richtige, echte Freunde. Wie zum Beispiel …

Michelle runzelte die Stirn. Ja, wie wer eigentlich? Owen, ihr jüngster Bruder, war der einzige Mensch, dem sie wirklich vertraute. Ihre Freundinnen waren im Grunde genommen eigentlich nur die Ehefrauen von Harveys Pokerkumpeln. Mit zwanzig war sie ebenso in Harveys gesellschaftliches Leben gezwängt worden, wie sie mit achtzehn in das Familienunternehmen gedrängt worden war. Weder gab es Studienfreunde noch Exfreunde noch irgendwelche alten Schulfreunde …

Ohne jede Warnung wurde die Tür aufgestoßen, und ein riesengroßer Dalmatiner kam hereingestürmt. Seine schwarzen Augen glänzten, und die gefleckten Ohren zuckten vor Aufregung. Neben dem Schirmständer hielt er kurz inne und wedelte mit dem Schwanz, während er sich im Café umzusehen schien, wer hier die meiste Aufmerksamkeit nötig hatte. Sein Blick richtete sich auf Michelle, und schon kam er auf sie zu.

Zu Michelles großer Überraschung reagierte keiner der anderen Cafébesucher darauf, sodass sie sich für den Bruchteil einer Sekunde fragte, ob wohl nur sie allein diesen Dalmatiner sehen konnte. Als er jedoch vor ihr stand und mit dem Schwanz wedelte, begriff sie, worauf er es abgesehen hatte: Er liebäugelte mit dem Stück Karottenkuchen, das vor ihr stand. Das Tier hatte eine Pfote auf den freien Stuhl neben Michelle gelegt und seinen Kopf schon zur Seite geneigt, um sich den Kuchen besser angeln zu können, doch Michelle packte ihn an seinem roten Halsband und schob den Hund wieder hinunter.

»Sitz!«, befahl Michelle. Als der Dalmatiner aber nicht reagierte, sondern nur amüsiert seine Zunge heraushängen ließ, wiederholte sie ihren Befehl strenger. »Sitz!«

Der Hund ließ sich schließlich gehorsam auf dem Boden nieder, wo er mit seinem gefleckten Schwanz wedelte und immer wieder gegen die Tischbeine schlug, als würde Michelle mit ihm spielen. Immer noch schien sich niemand um die Ankunft des Hundes zu scheren. Michelle war sprachlos. Das einzige Mal, als sie ihren Springer Spaniel Flash in ein Café hatte mitnehmen wollen, hatten die Betreiber reagiert, als würde sie dort großzügig Milzbranderreger aus einem Hundekotbeutel verteilen.

Flash. Flash mit seinem herzergreifenden Blick und den großen, haarigen Pfoten. In ihrer Magengrube zog sich alles zusammen. Von all den Dingen, die sie bei Harvey zurückgelassen hatte – Geld, Kleidung, sogenannte Freundschaftsringe –, war das Einzige, worum sie wirklich trauerte, Flash. Ob er sich wohl fragte, wo sie hingegangen war? Ob er wohl an der Tür saß und sich nach ihr sehnte? Sie hatte ihn einzig und allein aus dem...