Sturz der Titanen - Die Jahrhundert-Saga. Roman

von: Ken Follett

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2010

ISBN: 9783838702025 , 1056 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Sturz der Titanen - Die Jahrhundert-Saga. Roman


 

Kapitel 2 (S. 34-35)

Januar 1914

Earl Fitzherbert, 28 Jahre alt, von Familie und Freunden meist »Fitz« genannt, stand auf Platz neun der reichsten Männer Großbritanniens.

Er hatte sich seine Reichtümer allerdings nicht verdient; vielmehr war er der glückliche Erbe von Tausenden Morgen Land in Wales und Yorkshire. Die Bauernhöfe, die auf Fitz’ Grund und Boden standen, brachten zwar nur wenig ein, doch unter der Erde schlummerten Kohlevorräte, und Fitz’ Großvater war steinreich geworden, indem er Konzessionen für den Abbau dieser Kohle vergeben hatte.

Offensichtlich war es Gottes Wille, dass die Fitzherberts über ihre Mitmenschen erhoben und in angemessenem Stil leben sollten. Fitz konnte Gottes Ratschluss nicht ganz nachvollziehen, hatte er doch nichts getan, was den Glauben des Allmächtigen in ihn und seine Fähigkeiten gerechtfertigt hätte.

Bei seinem Vater, dem vorherigen Earl, hatte die Sache noch anders ausgesehen. Der alte Fitzherbert hatte als Marineoffizier gedient und war nach der Beschießung Alexandrias im Jahre 1882 zum Admiral befördert worden. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst war er als britischer Botschafter nach Sankt Petersburg gegangen. Zuletzt hatte er ein Ministeramt in der Regierung Lord Salisburys innegehabt. Wenige Wochen nachdem die Konservativen die allgemeine Wahl von 1906 verloren hatten, war der Admiral gestorben – Fitz war überzeugt, dass es seinen Tod beschleunigt hatte, mit ansehen zu müssen, wie Seiner Majestät Regierung in die Hände unverantwortlicher Liberaler wie David Lloyd George und Winston Churchill gelangte.

Fitz hatte seines Vaters Sitz im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments, als konservativer Peer eingenommen. Er sprach gut Französisch, und auf Russisch wusste er sich zu verständigen; gern hätte er seinem Land eines Tages als Außenminister gedient. Bedauerlicherweise wurden die Wahlen weiterhin von den Liberalen gewonnen; somit hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, ein Regierungsamt zu erhalten.

Ähnlich unspektakulär wie seine politische Karriere war Fitz’ Militärlaufbahn verlaufen. Er hatte in Sandhurst die Ausbildung zum Heeresoffizier absolviert und diente anschließend drei Jahre bei den Welsh Rifles, wo er zum Captain aufstieg. Nach seiner Heirat hatte er die Karriere als Berufsoffizier an den Nagel gehängt, war jedoch zum Colonel ehrenhalber der South Wales Territorials ernannt worden, aber was bedeutete das schon? Als Oberst e.h. eines Ersatzheeres hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich auszuzeichnen und einen Orden zu erringen.

Während der Zug schnaufend die Täler von Südwales durchquerte, musste Fitz daran denken, dass es doch etwas gab, worauf er stolz sein konnte: In nur zwei Wochen würde der König ein Wochenende auf seinem Landsitz verbringen. König George V. und Fitz’ Vater waren in ihrer Jugend Schiffskameraden gewesen. Vor Kurzem hatte der König den Wunsch geäußert, Einblick in die Gedankenwelt jüngerer Männer aus verschiedenen Nationen zu erhalten – aus England, Amerika und vom Kontinent –, woraufhin Fitz zu einer diskreten Wochenendgesellschaft in seinem walisischen Herrenhaus eingeladen hatte, bei der Seine Majestät die Bekanntschaft geeigneter Gentlemen machen konnte. Nun waren Fitz und seine Frau Bea unterwegs zu ihrem Landsitz, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen.

Fitz schätzte Traditionen sehr. Die Menschheit hatte nichts hervorgebracht, was der bewährten Ordnung von Monarchie, Aristokratie, Bürgertum und Bauernstand überlegen gewesen wäre. Doch wann immer Fitz nun aus dem Waggonfenster schaute, erblickte er eine Bedrohung der britischen Lebensart, die sämtliche Gefahren in den letzten hundert Jahren in den Schatten stellte: Wie grauschwarzer Pilzbefall auf einem Rhododendronbusch bedeckten die Häuserreihen der Bergarbeiter die einstmals grünen Hügel. In diesen schmutzigen Hütten wurden aufrührerische Reden geschwungen; der Nation drohten Atheismus, Revolten und Sittenverfall. Erst vor gut einem Jahrhundert war die Blüte des französischen Adels zur Guillotine gekarrt worden, und Gleiches würde auch in Großbritannien geschehen, wenn es nach diesen ruppigen, schwarzgesichtigen Bergleuten ging!

Fitz hätte mit Freuden auf seine Einkünfte aus den Kohlengruben verzichtet, hätte Großbritannien in schlichtere, überschaubarere Zeiten zurückkehren können. Wenigstens war die königliche Familie ein starkes Bollwerk gegen die Bestrebungen des Pöbels, die alte Ordnung über den Haufen zu werfen. Doch sosehr der bevorstehende Besuch Seiner Majestät Fitz mit Stolz erfüllte – er machte ihn auch unruhig. Vieles konnte schiefgehen. Die königlichen Besucher konnten irgendein dummes Versehen als Unachtsamkeit, wenn nicht sogar als Gleichgültigkeit auffassen, und damit als Respektlosigkeit. Über jede Einzelheit des Wochenendes, jedes noch so unbedeutende Geschehen würde getratscht werden; die Dienstboten der Besucher würden anderen Dienstboten davon erzählen, und von denen wiederum würden es ihre Brotherren erfahren. Bald würde jede Dame der Londoner Gesellschaft wissen, ob der König in einem zu harten Bett geschlafen, in eine faule Kartoffel gebissen oder die falsche Champagnermarke serviert bekommen hatte.

Am Bahnhof von Aberowen wurde Fitz von seinem Rolls-Royce Silver Ghost erwartet. Mit Bea an seiner Seite wurde er die eine Meile bis zu seinem Landsitz Ty Gwyn chauffiert. Wie so oft in Wales nieselte es ununterbrochen.

»Ty Gwyn« war Walisisch und bedeutete »Weißes Haus«, doch der Name war nur noch eine schmerzliche Erinnerung an alte Zeiten, denn eine dicke Schicht Kohlenstaub bedeckte das Gebäude, wie alles in diesem Teil der Welt. Die einst weißen Steinblöcke zeigten nun eine dunkelgraue Farbe, und die feuchte Schmutzschicht verunzierte die weiten Röcke der Damen, wenn sie damit versehentlich an der Wand entlangstrichen.

Dennoch war Ty Gwyn ein grandioses Gebäude, das Fitz mit Stolz erfüllte, als er es nun betrachtete, während der Rolls-Royce beinahe lautlos die Auffahrt hinaufglitt. Ty Gwyn hatte zweihundert Zimmer und war das größte Wohnhaus in Wales. Als Junge hatte Fitz mit seiner Schwester Maud die Fenster gezählt; sie waren auf 523 gekommen. Errichtet von Fitz’ Großvater, war das dreigeschossige Herrenhaus ein Muster an architektonischer Harmonie. Im Erdgeschoss gab es hohe Fenster, die viel Licht in die großen Empfangssäle ließen. Im Obergeschoss befanden sich Dutzende von Gästezimmern, und im Dachgeschoss reihten sich zahlreiche Kammern für Gesinde und Dienstboten, wie an den langen Reihen von Gaubenfenstern unter dem steilen First zu erkennen war.

Die fünfzig Morgen großen Gärten waren Fitz’ ganze Freude. Die Gärtner beaufsichtigte er persönlich, und er traf die Entscheidungen über das Anpflanzen, das Stutzen und Umsetzen der Bäume und Sträucher. »Ein Haus, das eines Königsbesuchs würdig ist, nicht wahr?«, sagte er, als der Wagen vor dem großen Säulengang hielt. Bea gab keine Antwort. Vom Reisen bekam sie schlechte Laune.

Als Fitz ausstieg, begrüßte ihn Gelert, sein Pyrenäenhund, ein Geschöpf so groß wie ein Bär, das seinem Herrn die Hand leckte und dann freudig über den Hof tollte.