Undank ist der Väter Lohn - Roman

von: Elizabeth George

Goldmann, 2014

ISBN: 9783641136444 , 736 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Undank ist der Väter Lohn - Roman


 

Prolog


Das einzige, was er spürte, war eine unbeschreibliche innere Leere. Schwermut und Verzweiflung überwältigten ihn, obwohl – dessen war sich David King-Ryder bewußt – seine Gefühle in völligem Widerspruch zum Augenblick standen.

Unten, auf der Bühne des Agincourt Theatre, hob Horatio ein letztes Mal die Stimme, während Fortinbras seinen Gesang dagegenhielt. Drei der vier Toten wurden von der Bühne getragen, während Hamlet, in Horatios Armen liegend, zurückblieb. Die Mitglieder des Ensembles – dreißig an der Zahl – bewegten sich zur Bühnenmitte, norwegische Soldaten von links, dänische Höflinge von rechts, um hinter Horatio Aufstellung zu nehmen. Als sie den Refrain anstimmten, schwoll die Musik an, und das Donnern der Geschütze – gegen das David sich zunächst gewehrt hatte, weil er fürchtete, es würde Vergleiche mit 1812 herausfordern  – wütete aus den Kulissen. In diesem Moment erhoben sich im Parkett die ersten Zuschauer. Das Publikum auf den Rängen folgte ihnen. Musik, Gesang und Geschützdonner gingen unter in tosendem Applaus.

Mehr als zehn Jahre hatte er auf diesen Augenblick gewartet – auf die rückhaltlose Bestätigung seiner künstlerischen Brillanz. Und nun endlich hatte er sein Ziel erreicht. Drei Jahre geistig und körperlich erschöpfender Arbeit fanden in diesem Moment ihre Krönung in den Ovationen, die ihm für seine beiden vorangegangenen Produktionen an diesem Theater verwehrt geblieben waren. Die Art des Applauses und die Reaktion des Publikums hatten damals alles gesagt. Höflicher, pflichtschuldiger Anerkennung für die Schauspieler und Sänger war ein hastiger Auszug aus Parkett und Rängen gefolgt, und die anschließende Premierenfeier hatte mehr einem Leichenbegängnis geglichen. Und die Kritiken in den Londoner Zeitungen bestätigten nur noch einmal, was nach der Premiere die Spatzen von den Dächern pfiffen. Zwei ungeheuer aufwendige Produktionen waren untergegangen wie mit Kanonen überladene Schlachtschiffe. Und David King-Ryder hatte das zweifelhafte Vergnügen gehabt, sich anhand zahlloser Analysen über das Nachlassen seiner schöpferischen Kraft belehren lassen zu müssen. Worte wie »Ein Leben ohne Chandler« waren noch das Freundlichste, was ihm ein wohlwollender Kritiker zuteil werden ließ. Die übrigen Schmierfinken spitzten morgens am Frühstückstisch ihre Giftpfeile und warteten dann wochenlang auf eine Gelegenheit, sie abschießen zu können. Da blieb alle Sachlichkeit auf der Strecke, die Schlagzeilen reichten von »Scharlatan des Kunstbetriebs« bis zu »Ein Schatten, der sich in vergangenem Glanz sonnt«. Und jener Glanz entsprang natürlich nur einer Quelle: dem Genie Michael Chandlers.

David King-Ryder fragte sich, ob andere Musikerpartnerschaften ebenso scharf unter die Lupe genommen wurden wie seine Zusammenarbeit mit Michael Chandler. Er bezweifelte es. Seinem Eindruck zufolge war es Musiker- und Librettistenduos wie Gilbert und Sullivan oder Rice und Lloyd-Webber gestattet, ohne das Begleitgeheul der Schakale, die ständig nach ihm schnappten, aufzuleuchten und zu verblassen, zu Glanz und Ruhm emporzusteigen, Fehlschläge zu landen, die Kritiker zu überwältigen, zu straucheln und zu triumphieren.

Natürlich hatte der romantische Aspekt einer Verbindung mit Michael Chandler zu diesen Analysen Anlaß gegeben. Wenn der eine Partner eines Gespanns, das zwölf der erfolgreichsten Produktionen des West End auf die Bühne gebracht hat, auf so grauenvolle Weise ums Leben kommt, muß aus diesem Tod eine Legende wachsen. Ja, Michaels Tod hatte sich dafür prächtig geeignet: Er hatte sich in einer Unterwasserhöhle vor der Küste Floridas verirrt, die schon zahllose Taucher das Leben gekostet hatte, nachdem er sämtliche Tauchregeln mißachtet hatte. Er hatte den Ausflug allein unternommen, bei Nacht, in betrunkenem Zustand. Zurückgeblieben war nur sein Boot, das draußen vor Anker gelegen und die Stelle markiert hatte, wo er ins Wasser gesprungen war. Er hinterließ eine Ehefrau, eine Geliebte, vier Kinder und sechs Hunde. Und einen Partner, mit dem er seit der gemeinsamen Kindheit in Oxford, wo sie beide als Söhne von Fließbandarbeitern aufgewachsen waren, von Ruhm, Reichtum und Erfolg am Theater geträumt hatten.

Das Interesse der Medien an David King-Ryders seelischer und künstlerischer Wiederherstellung nach Michael Chandlers allzu frühem Tod war daher nur verständlich gewesen. Nach seinem ersten Alleingang auf der Musicalbühne fünf Jahre später hatten die Kritiker ihn unter Beschuß genommen, aber sie hatten nur das leichte Geschütz aufgefahren, als meinten sie, ein Mann, der mit einem Schlag den langjährigen Partner und lebenslangen Freund verloren hatte, dürfe einmal scheitern, ohne für sein Bemühen, einen eigenen künstlerischen Weg zu finden, öffentlich gedemütigt zu werden. Bei seinem zweiten Mißerfolg allerdings waren sie nicht mehr so gnädig gewesen.

Aber das war jetzt vorbei. Das gehörte der Vergangenheit an.

»Wir haben es geschafft, David! Wir haben es geschafft, verdammt noch mal!« rief Ginny, die neben ihm saß, überschwenglich. Sie freute sich, daß sie – allen absurden Vorwürfen von Vetternwirtschaft zum Trotz, die man gegen sie und ihren Mann erhoben hatte, als er ihr die Regie des Stücks anvertraut hatte – soeben einen Status erreicht hatte, den Künstler wie Hands, Nunn und Hall in Anspruch nahmen.

Und Matthew, der als Manager seines Vaters nur zu gut wußte, wieviel für sie alle mit dieser Produktion auf dem Spiel stand, packte seinen Vater bei der Hand und sagte rauh: »Bravo, Dad. Das hast du grandios gemacht.«

Gern hätte David sich an diesen Worten gewärmt, bedeuteten sie doch, so wie er es verstand, daß Matthew sich von seinen anfänglichen Zweifeln an dem Vorhaben, Shakespeares größte Tragödie zu einem Musicaltriumph zu machen, entschieden abwandte. »Willst du das wirklich wagen?« hatte er gefragt und die zweite Frage unausgesprochen gelassen: Forderst du damit nicht den endgültigen Absturz heraus?

David war klargewesen, daß er genau das zu tun im Begriff war, aber er hatte es nur sich selbst eingestanden. Hatte er denn eine andere Möglichkeit gehabt, als alles auf eine Karte zu setzen, um seinen Ruf als Künstler wiederherzustellen?

Und das Wagnis war gelungen. Nicht nur das Publikum lag ihm zu Füßen, nicht nur das Ensemble applaudierte ihm begeistert von der Bühne zu, auch die Kritiker, deren Sitzplätze er sich genau gemerkt hatte – um sie »treffsicher in die Luft sprengen zu können«, wie Matthew mit grimmigem Spott vermerkt hatte –, waren aufgestanden und stimmten in den Beifall ein, von dem David bereits befürchtet hatte, er sei ihm so unwiederbringlich verloren wie sein Freund und Partner Michael.

In den folgenden Stunden nahm der Beifall noch zu. Bei der Premierenfeier im Dorchester, in einem Saal, der mit viel Phantasie in ein Schloß Helsingör verwandelt worden war, nahm David an der Seite seiner Frau und der Hauptdarsteller des Stücks die Glückwünsche der Londoner High Society entgegen. Stars aus Film und Theater überschütteten die Kollegen mit Komplimenten und knirschten im stillen vor Neid mit den Zähnen. Prominenz aus allen Bereichen des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens zollte King-Ryders Hamlet Lob, das von »allererste Klasse« über »einfach fabelhaft, Darling« bis zu »packend von Anfang bis Ende« reichte. Schicke junge Dinger – in ausgefallenen Fummeln mit gewagten Dekolletés, bekannt entweder weil sie überall anzutreffen waren oder berühmte Eltern hatten – erklärten, endlich habe jemand Shakespeare »genießbar« gemacht; Vertreter jenes ehrenwerten Clans, der Phantasie und Wirtschaft der Nation bis zum äußersten zu strapazieren pflegte – der königlichen Familie nämlich –, wünschten viel Erfolg. Und während alle sich natürlich freuten, Hamlet und seinen Mitspielern die Hände zu drücken, während es allen eine Ehre war, Virginia Elliott zur meisterhaften Inszenierung der Popoper ihres Mannes zu gratulieren, war der umschwärmte Star des Abends der Mann, den man mehr als ein Jahrzehnt lang geschmäht und beschimpft hatte.

Der Triumph war in der Tat vollkommen, und David King-Ryder wünschte, er hätte ihn genießen können. Er lechzte nach einem Gefühl froher Zuversicht, daß sich nun das Leben vor ihm auftun würde, aber er konnte einfach das Gefühl nicht loswerden, daß der Vorhang nun sprichwörtlich gefallen war. Es ist vorbei, dröhnte es wie Theaterdonner in seinen Ohren.

Er wußte, was Ginny gesagt hätte, wenn er ihr anvertraut hätte, was seit dem Schluß der Vorstellung in ihm vorging. Sie hätte ihm erklärt, seine Niedergeschlagenheit, Beklemmung und Hoffnungslosigkeit seien ganz normal. »Das ist eine typische Reaktion«, hätte sie gesagt. Und während sie in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer herumgegangen wäre, ihre Ohrringe auf den Toilettentisch gelegt und ihre Schuhe achtlos in den Schrank geworfen hätte, hätte sie ihm gähnend erklärt, daß sie weit mehr Grund zur Niedergeschlagenheit habe. Ihre Arbeit als Regisseurin war getan. Gewiß, es gab noch ein paar Feinarbeiten – »es wäre wirklich schön, wenn der Mann in der Beleuchtung mitmachen und die letzte Szene auch noch richtig hinkriegen würde« –, aber im Grunde war es so, daß sie diese Arbeit jetzt hinter sich lassen mußte, um den Prozeß bei der Produktion eines anderen Stücks ganz neu aufzunehmen. Ihm hingegen würde der Morgen eine Flut telefonischer Glückwünsche bringen, Bitten um Interviews und Angebote aus aller Welt. Er würde sich entweder in eine weitere Inszenierung von Hamlet stürzen oder etwas ganz Neues in Angriff nehmen können. Diese Möglichkeit der Wahl hatte sie nicht.

Wenn er...