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Gesammelte Werke: Hemmungslos + Bobbie oder die Liebe eines Knaben + Der Frauenmörder (3 Krimis) + Das blaue Mal + Die Stadt ohne Juden + Der Kampf um Wien + Die freudlose Gasse (4 Romane) - Die besten Romane von Hugo Bettauer: Antisemitismus und Kri


 

I. Kapitel


Inhaltsverzeichnis


Das ganze Konzerthaus schwamm in Licht, Musik und Erregung. Die erste öffentliche Redoute nach langen, langen Jahren versammelt ganz Wien; unterdrückter Lebensdrang und die qualvolle Ungewißheit über die eigene Existenz, die Zukunft, die Unsicherheit der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, die sich in furchtbaren Zusammenbrüchen, in gewaltsamen Vermögensverschiebungen und seltsamen Umgruppierungen der sozialen Schichtung äußerten, trieb die Menschen zu lärmenden Vergnügungen, zu allem, was unmittelbar auf die Sinne wirkt.

Die exorbitant hohen Eintrittspreise für diese erste große Faschingsredoute hatten nicht verhindern können, daß alle Klassen an ihr teilnahmen und die Mischung barocker und krauser war, als man es jemals vor dem Jahre 1914 erlebt hatte. Die Barone, Grafen und Fürsten von ehemals, denen das Gesetz den Adel genommen, flanierten im Frackanzug und Zylinderhut neben Börsenschiebern, Kommis, verdächtigen Gestalten aus dem Ghetto, die durch jahrelangen Schleichhandel Millionen verdient hatten, hier streifte ein Herr, dessen Geschlecht den Habsburgern verwandt und ebenbürtig gewesen, einen Zuhälter; da drängte sich ein breiter Bauernklachel aus Oberhollabrunn an maskierten Frauen vorbei und dachte in diesem Augenblick vielleicht voll Sorge, ob nicht Einbrecher seine hinter dem Schweinestall vergrabenen, mit Gold-und Silbergeld gefüllten Kisten rauben könnten.

Äußerlich weniger scharf, innerlich aber um so greller kamen die sozialen Unterschiede bei den Frauen zum Ausdruck. Grisetten, Straßenmädchen, berühmte Bühnenkünstlerinnen verbargen sich hinter den Larven in kostbaren Toiletten ebenso wie die wirklich vornehme Dame oder die Frau des Kleinbürgers, die ein Monatseinkommen des Mannes aufwendet, um endlich einmal die ersehnte Redoute mitzuerleben, und die Lockerung aller überlieferten Sittlichkeitsbegriffe, das Schwinden der Autorität im eigenen Haus, der Bruch mit traditionellen Anschauungen brachten es mit sich, daß auch junge Mädchen aus guten Häusern, Studentinnen und sogar sogenannte Backfische mit oder ohne Willen und Wissen der Eltern die große Friedensredoute im Konzerthaus mitmachten.

Um alle aber, um die Vornehmen und die Parvenus, die Untergehenden und eben Emporgetauchten, die Jungen und Alten, die Frauen und Männer von Klasse und Rasse und die ohne Vergangenheit und Erziehung, schwebte eine schwüle Atmosphäre voll wilder, brutaler Erotik. Wien befand sich seit Jahr und Tag, seitdem der wirtschaftliche Niedergang offenkundig und unaufhaltsam geworden, in jenem sinnlichen Taumel, den man oft bei Lungenschwindsüchtigen, deren Lebenstage gezählt sind, beobachten kann. Aus allen Zukunfts-und Gegenwartssorgen flüchtete man zu Gott Eros, und die öffentlichen Sittenrichter, die Leitartikler, die Prediger auf der Kanzel fanden taube Ohren, erweckten nur ein Echo hysterischen Gelächters, wenn sie auf die Folgen hinwiesen, die der Ehebruch in Permanenz, die Sittenlosigkeit der Heranwachsenden, das Laster in seinen perversen Formen für Stadt und Land haben müßten.

Alles wollte leben, das Heute genießen, da man nicht wußte, welche Schrecken das Morgen bringen würde, ohne Besinnen jede Stunde und jede Möglichkeit auskosten, weil man immer darauf gefaßt sein mußte, vor neuen Umwälzungen zu stehen. Die immer toller werdende Teuerung trug das Ihrige dazu bei, alle Begriffe auf den Kopf zu stellen und das Verschwenden wirklich zur Tugend zu machen. Warum nicht heute eine Flasche Champagner zu vierhundert Kronen trinken, wenn sie morgen schon vielleicht achthundert kostet, warum nicht der Geliebten ein Blumenarrangement für tausend Kronen kaufen, da man das nächstemal das Doppelte würde zahlen müssen, warum nicht die Hälfte des Vermögens in Schmuck anlegen und so vielleicht vor dem Fiskus retten, der alles an Hab und Gut an sich zu reißen sucht, um wenigstens die Zinseszinsen der Staatsschulden zahlen zu können.

Geld, Moral, bürgerlicher Ehrbegriff — alles schritt mit Galoppsprüngen der völligen Entwertung entgegen und das einzig Bestehende, Positive und Begehrte waren Speise, Trank und Liebe, die man erraffte und kaufte, was sie auch kosten mochten .

II. Kapitel


Inhaltsverzeichnis


Kolo Isbaregg lehnte an einer Säule, umbrandet von Fräcken, Zylinderhüten, Monokeln, Spazierstöcken, weißen, feuchten Schultern, üppigen Büsten, rauschenden Röcken, funkelnden Augen, aus den Spitzen-und Seidenlärvchen unheimlich herausleuchtend. Ein leises Gefühl von Enttäuschung und Überdruß durchrieselte ihn. Was war diese Redoute, der er mit einiger Spannung entgegengesehen hatte? Eigentlich nichts anderes doch als derselbe erotische Krampf, wie er sich sonst in kleinerem Format in tausend Salons, auf dem Korso, bei den Tees und in den vornehmen Restaurants abspielte. Eine Ansammlung gieriger Männer, die vergebens dem Weib ihrer Träume nachliefen und sich nach jedem Abenteuer betrogen fühlten, und hysterischer Frauen, die vergebens der großen erotischen Sensation harrten, oder kalter Hetären, die sich für Geld oder für Kleider und Schmuck kaufen lassen wollten. Und ganz unwillkürlich schloß Kolo Isbaregg die Augen und träumte Vergangenheit, sah die kanadischen endlosen Wälder vor sich, die ungeheure Fabriksstadt, in der er mit hingebungsvoller Lust und brennendem Ehrgeiz gearbeitet hatte. Wie ganz anders war seine Welt damals gewesen! Immer hatte die Frau eine gewisse Rolle in ihr gespielt, aber doch eine untergeordnete Rolle. Führer werden aus eigener Kraft. Millionär durch kühnen Erfindungsgeist, einer der Großen, der die Welt vorwärts bringt, einer der Schaffenden, dessen Name in das goldene Buch der Zeiten übergehen würde! Bis der Krieg kam, dieser furchtbare, schmutzige Krieg, mit seinen Lügen und Phrasen, der täglichen Glorifizierung aller verächtlichen Eigenschaften, dieser Krieg mit seiner sinnlosen Zerstörung alles dessen, was man als heilig und nützlich zu betrachten gelernt hatte! Wie in einem Kaleidoskop purzelten vor den geschlossenen Augen Isbareggs die Bilder durcheinander. Der Dreikäsehoch, der an dem Totenbett des Vaters dem alten Vormund den eisernen Willen eines Kindes kundtut — Primus in der Theresianischen Akademie — er mit zusammengebissenen Zähnen büffelnd, während die Kameraden sich in die Kammer schlichen, in der die Wäscherinnen, in Dampf und Feuchtigkeit kreischend, die derb-jugendlichen Liebkosungen entgegennahmen. — London, Glasgow, Edinburgh mit geschäftlichem und gesellschaftlichem Drill — die erste Nacht in den weißen Armen einer so kühl aussehenden englischen Frau, nicht einer Grisette, sondern einer Lady — Arbeit, unermüdliche Arbeit und abends lockende Abenteuer — die tolle, verwegene Fahrt nach Europa — Krieg — Mord — Blut — Auszeichnungen, das Zählen von unglücklichen, elenden Menschen, die man zu Gefangenen macht … Isbaregg fuhr sich über die glühende Stirne. Ein schwarzes Loch unterbrach die Kette der Bilder. Nun sprangen sie fratzenhaft wieder an ihm vorbei. Vor dem Delikatessengeschäft sah er sich stehen mit wütendem Hunger, der ihm die Eingeweide verbrannte — einer orientalisch aussehenden, üppigen Frau zog er ein Ledertäschchen aus dem goldenen Beutel — in finsterer Nacht schlich er sich an ein Bett, um einen alten Mann zu erdrosseln — dann Besuche bei teuren Schneidern, luxuriöse Junggesellendiners im eigenen Heim mit schönen Frauen und distinguierten Freunden — Tausendkronenscheine raschelten in unaufhörlicher Aufeinanderfolge aus seiner Brieftasche — die schlanke Frau des holländischen Bildhauers wurde seine Geliebte, die Tochter des ehemaligen Armeekommandanten folgte ihm in die Wohnung, kleine Mädchen betrachteten ihn als Lehrmeister in der Kunst des Liebens, für eine Nacht in den Armen einer jugendlichen, von ganz Wien umworbenen Schauspielerin hatte er ein Vermögen gegeben, Tausende von Frauen wären bereit gewesen, ihn für seine Liebe fürstlich zu belohnen — alle konnte er haben, alle ohne Ausnahme, und in der letzten Zeit war es bei ihm geradezu zur fixen Idee geworden, ein Weib zu suchen, das ihm auf die Dauer widerstanden hätte.

Ein Schauer lief Kolo Isbaregg über den Rücken. Wohin steuerte er eigentlich, wo war der Hafen für sein Lebensschiff? Champagner, kostbare Krawatten, Weiber — das sind Zutaten, aber kein Inhalt; wo war das Große, Feste, Wuchtige, um das sich alles gruppieren sollte? Noch hatte er Geld, noch lag in dem Schreibtisch seiner schönen Wohnung ein kleiner Teil der Banknoten, die er sich aneignete und anfangs mäßig, dann aber immer rascher abhob; noch ein paar Monate, dann…

III. Kapitel


Inhaltsverzeichnis


Ein kühler Frauenarm, bis zur Achselhöhle fast von dem Handschuh umspannt, hängte sich an ihn. Eine überschlanke Gestalt in blaßblauer Seide, das Gesicht bis knapp zu den dünnen Lippen verhüllt, um den Hals eine sechsfache Perlenschnur geschlungen, stand neben ihm:

„Aber, aber, was für finstere Augen, welche Falten auf der Stirne! Du siehst aus wie das böse Gewissen unserer Zeit und bist doch ein schöner Mann, dem sicher alle Herzen zufliegen.“

„Ich bin müde, müde von so viel Liebe, wie sie hier sich erringen läßt, und suche den Sinn dieser Redoute, ohne ihn finden zu können.“

„Wer sucht, findet nie, und nur wer sich gerne...