Todesurteil - Thriller

von: Andreas Gruber

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641144661 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Todesurteil - Thriller


 

1

An den meisten Tagen des Jahres wirkte Wiesbaden wie ein Ort, an dem einem wahrlich nichts Böses widerfahren konnte – eine beruhigende Mischung aus Schulen, Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Alleen und breiten Einkaufsstraßen.

Doch zu dieser nächtlichen Stunde war die Kurstadt mit all ihren Thermalbädern und Mineralquellen in einen dunklen Schlaf gefallen und zeigte sich von einer anderen Seite. Der Sturm peitschte Regen an die Windschutzscheibe von Sabines Wagen, und die Scheinwerfer rissen die Häuserfassaden nur ansatzweise aus der Dunkelheit.

So ein Scheißwetter! Sabines Haar war klitschnass und ihre Kleidung bis zum Slip durchnässt. Die nasale Stimme von Klaus Kinski, die sie für ihr Navi runtergeladen hatte, lotste sie durch die Stadt. Sie fuhr an exquisiten Läden vorbei, für deren Besuch sie wohl nie genug Geld haben würde. Aber im Moment fühlte sie sich ohnehin nicht in der Stimmung für eine Shoppingtour. Was sie hingegen dringend brauchte, waren ein heißes Bad und trockene Kleidung.

Vor fünf Stunden war sie in München losgefahren und hatte während der Fahrt Radio gehört. Wenige Kilometer vor der Autobahnabfahrt Wiesbaden war der linke Vorderreifen geplatzt, und sie hatte den Wagen gerade noch auf dem Seitenstreifen zum Stehen bringen können. Sie hatte mit dem Handy um Hilfe telefoniert, doch der Pannendienst hätte frühestens in zwei Stunden kommen können. Frühere Notfälle gingen vor. Also war sie im strömenden Regen selbst ausgestiegen, um ihre Warnweste aus dem Kofferraum zu kramen und mit dem Pannendreieck die Unfallstelle zu sichern.

Kein Wagen hatte gestoppt, um zu sehen, warum ihr Auto mit der Warnblinkanalage auf dem Haltestreifen stand. Mehrmals wurde sie vom Fahrbahnwasser angespritzt, während sie neben dem Wagen hockte und fluchend mit dem Wagenheber die Karre hochkurbelte, mit dem Kreuzschlüssel die Muttern löste und ihr Reserverad auf die Achse wuchtete.

Während sie wie ein Esel schuftete, kamen ihr heftige Zweifel, ob sie überhaupt das Richtige tat. Klitschnass, wie sie war, hätte sie auch gleich die paar Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Abfahrt laufen können, um an einer Tankstelle einen Kaffee zu trinken und auf den Pannendienst zu warten. Aber so viel Zeit hatte sie nicht. Nicht an diesem Abend! Außerdem waren ihre Jeans ohnehin bereits dreckig, ihre Hände schmierig, und es stand so viel Wasser in ihren Schuhen, dass sie sich wie ein Frosch fühlte. Vermutlich würden ihr bald Schwimmhäute zwischen den Zehen wachsen.

Bisher hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, ob in ihrem Reservereifen überhaupt genug Luft war. Das war natürlich nicht der Fall, aber mit dem Reifen, der wie ein angestochenes Schlauchboot aussah, würde sie den Wagen wenigstens von der Autobahn runterbringen können. Laut fluchend zog sie die Muttern an und hievte den kaputten Reifen in den Kofferraum. Insgesamt hatte sie mehr als eine Stunde verloren.

Als sie endlich wieder in ihrem Wagen saß, wischte sie sich das Wasser aus dem Gesicht. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel versicherte ihr, dass sie wie die Verliererin eines Turniers beim Schlammcatchen aussah.

Verdammte Kuhscheiße!

Sie startete den Wagen. Sogleich drang ein Hip-Hop aus den Lautsprechern. Diesen Mist würde sie sich nicht anhören. Jetzt brauchte sie etwas Aufbauendes und entschied sich für ein Hörbuch von Nick Hornby, das sie aus dem Handschuhfach kramte und ins CD-Fach einlegte. Matthias Schweighöfers Stimme klang aus dem Lautsprecher, und für einen Moment war für sie die Welt wieder in Ordnung. Nach der Autobahnabfahrt fand sie sogar eine Tankstelle, an der sie ihren Reservereifen aufpumpen konnte.

Eine Viertelstunde später erreichte sie die Innenstadt, und nun zeigte ihr Navi an, dass sie die Hauptstraße, die durch Wiesbaden führte, verlassen musste, um auf den Geisberg hochzufahren. Dort lag ihr Ziel, dort würde sie die nächsten zwei Jahre verbringen. Außerdem würde sie Erik wiedersehen. Mit sechzehn Jahren waren sie ein Paar gewesen. Sie erinnerte sich gern an diese Zeit, aber nach dem Abitur war Erik zur Bundeswehr gegangen und arbeitete nun nach einer mehrjährigen Schulung im Wiesbadener Bundeskriminalamt als Kriminalkommissar. Vor einem Jahr waren sie wieder zusammengekommen; eine Fernbeziehung Wiesbaden-München, die allerdings nicht funktioniert hatte und die sie deshalb vor einem Monat schweren Herzens beendet hatte. Erik wusste noch gar nicht, dass sie hier war. Sie hatte ihn zwar vorwarnen wollen, doch sie konnte ihn seit einer Woche nicht erreichen; weder am Handy noch übers Internet. Vielleicht hatte er eine neue Nummer oder hatte zu einem überraschenden Auslandseinsatz aufbrechen müssen. Jedenfalls hoffte sie, dass sie ihrer Beziehung in Wiesbaden eine neue Chance geben konnten … falls er das überhaupt wollte.

Als Sabine an der höchsten Stelle des Geisbergs das Gelände des Bundeskriminalamts erreichte, schaltete sie Matthias Schweighöfer aus. Im trüben Regen waren der hohe Zaun, die Stahltore, Schranken und Überwachungskameras zu sehen, die das Areal umgaben. Die Thaerstraße, eine schmale Sackgasse, führte in das Gelände und endete in einem Wendehammer mit einigen Besucherparkplätzen. Von hier aus verzweigte sich das mehrstöckige Gebäude mit seinen Glaskorridoren in weitere Bürotrakte. Der ganze Komplex glich einer modernen Festung.

Sabine parkte den Wagen, riss sich die Warnweste vom Körper und stieg aus. Sie lief durch den Regen die Treppe zum Haupteingang hoch, passierte den Wachmann und ging durch die Drehtür. Neonlicht empfing sie. Um zehn Uhr nachts wirkte der Empfangsbereich fast wie ausgestorben. Links lagen die Pförtnerloge, rechts der Ganzkörperscanner, dahinter ein Bereich, in dem Taschen untersucht wurden. Vor einem Drehkreuz standen eine bewaffnete und uniformierte Frau sowie zwei Männer vom Haussicherungsdienst. Die Funkgeräte an ihren Gürteln knackten. Auf einem Deckenmonitor lief ein Infowerbespot. »Wir tragen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit bei.« Jede Wette, dachte Sabine. An jeder Ecke hing eine Kamera, unter der ein Schild prangte. »Dieser Bereich wird videoüberwacht.« Der Empfang wirkte so einladend und freundlich wie die Personenkontrolle am Gate eines Flughafens, an dem soeben eine Terrorwarnung eingegangen war.

Sie wischte sich das nasse braune Haar aus dem Gesicht und beugte sich zu dem Sprechschlitz der großen Glasfront hinunter. »Sabine Nemez.« Regenwasser tropfte von ihren Haaren auf das Pult. »Ich beginne morgen an der Akademie.«

Der Pförtner, ebenfalls uniformiert und bewaffnet, rollte auf seinem Drehstuhl zum Sprechschlitz und warf einen Blick auf den Computermonitor. »Sie sind spät dran.«

»Ich weiß. Haben Sie vielleicht ein Handtuch für mich?«

Erst jetzt sah er sie an. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte schwarzes Haar, einen Seehundbart und südländische Gesichtszüge. Das Namensschild an seinem Hemd wies ihn als I. Falcone aus. Ignazio oder Innocenzo?

»In Ihrer Unterkunft finden Sie alles Nötige. Zunächst brauche ich Ihren Personalausweis und die Zutrittsgenehmigung.«

Wahrscheinlich Ignorant!

Die Beamten vom Haussicherungsdienst beobachteten sie und rührten sich nicht vom Fleck. Sabine bemerkte die Anspannung auf ihren Gesichtern. Sie kramte Ausweis und Genehmigung aus der Jackentasche und schob alles durch den Schlitz. Schon mehrfach hatte sie ihre Bewerbung an das BKA geschickt und war immer abgelehnt worden, doch jetzt, mit achtundzwanzig Jahren, genauer gesagt vor zwei Tagen am Freitagmorgen, hatte sie aus heiterem Himmel erfahren, dass sie für das morgen beginnende Semester als Kriminalkommissaranwärterin an der Akademie für hochbegabten Nachwuchs studieren durfte.

Natürlich war das merkwürdig. Schon allein deswegen, weil sich jedes Jahr mehrere Tausend junge Menschen für einen Platz an der Akademie bewarben, aber nur fünfzig zugelassen wurden. Und nun durfte sie plötzlich hier studieren, nachdem man sie jahrelang für einen Posten beim BKA abgelehnt hatte – und noch dazu, ohne eine einzige Aufnahmeprüfung abgelegt zu haben. Steckte Erik dahinter?

Der Pförtner prüfte akribisch ihre Unterlagen. Nicht ohne ihr sein spitz vorspringendes Kinn entgegenzustrecken. »Die Ausgabestelle hat um diese Zeit schon geschlossen, darum bekommen Sie Unterlagen und Ausrüstung hier.«

Falcone schob mit einer knappen Erklärung ihre neue Dienstmarke und einen in Folie verschweißten Dienstausweis mit integriertem fälschungssicherem Chip durch den Schlitz. Zusätzlich reichte er ihr ein Namensschild zum Anklippen.

»Das ist Ihre Legitimation. Seit einer Woche gilt ein erhöhter Sicherheitsstandard im Gebäude. Also lassen Sie den Ausweis immer gut sichtbar vor Ihrer Brust baumeln, dann gibt es keine Probleme«, nuschelte er mit gelangweilter Stimme, als hätte er den Satz an diesem Tag bereits fünfzig Mal runtergeleiert.

Nun löste sich die Dame vom Haussicherungsdienst aus ihrer Starre und holte aus einem Bereich hinter dem Pult, den Sabine nicht einsehen konnte, mehrere Gegenstände hervor, die sie auf den Tresen legte.

»Ich dachte schon, die Sachen bleiben übrig«, erklärte die Frau.

Sabine erkannte die Sig Sauer 229 im Sicherungsholster mit Schnapper und Drücker. Bei der Münchner Kripo war sie mit einer Heckler & Koch ausgerüstet gewesen, aber das Umlernen auf die Sig würde ihr nicht schwer fallen.

Die Frau packte ein Magazin dazu.

»Scharfe Munition?«, fragte Sabine.

Die Frau lächelte ihren...