Der Winter erwacht - Roman

von: C. L. Wilson

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783732507184 , 381 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Winter erwacht - Roman


 

Prolog


Blutrot auf Schnee


Königsfried

Vera Sola, Sommergrund

»Musst du wirklich gehen?« Die siebzehnjährige Chamsin Coruscate umklammerte die Hand ihres geliebten Bruders, als könne sie ihn allein durch ihr Festhalten am Fortgehen hindern.

»Du weiß doch, dass ich gehen muss. Unsere Verhandlungen mit dem Winterkönig sind sehr wichtig.«

»Aber du kommst doch bald wieder nach Hause?« Wann immer er fort war, wirkten die altehrwürdigen Wände des königlichen Palastes von Sommergrund, der ihr schon von Geburt an Heim und Gefängnis zugleich gewesen war, irgendwie noch beengender, noch erdrückender.

»Nicht dieses Mal, kleine Schwester.« Milan schüttelte den Kopf. Eine schwarze Haarsträhne, die sich aus dem Zopf in seinem Nacken gelöst hatte, streifte die weiche, dunkle Haut seiner Wange. »Es wird Wochen dauern, die Verträge auszuhandeln.«

Chamsin zog eine finstere Miene, und eine plötzliche Windböe peitschte ihr das wie immer unbändige Haar ums Gesicht. »Warum muss er dich schicken? Warum kann denn nicht sein Botschafter den Vertrag aushandeln? Er schickt dich wegen mir fort, nicht wahr? Weil er nicht will, dass du so viel Zeit mit mir verbringst.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. Der Wind ließ ihre Röcke flattern, und eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne.

Ihr Vater, König Verdan IV. von Sommergrund, liebte sie nicht. Das wusste sie. Er hielt sie abgeschottet in einem entlegenen Teil des Palastes vor seinem Hofstaat und seinem Königreich verborgen, unter dem Vorwand, dass ihre Wettergabe zu unberechenbar und gefährlich sei und dass sie sie nicht kontrollieren könne. All das entsprach der Wahrheit. Chams Gabe war gefährlich, und sie hatte sie ebenso wenig unter Kontrolle wie ihr hitziges Temperament. Bis jetzt war er allerdings noch nie so weit gegangen, seine anderen Kinder fortzuschicken, um zu verhindern, dass sie Cham besuchten.

»Na, na. Beruhige dich.« Mit einer Hand strich Milan ihr die widerspenstigen Locken hinter das Ohr. In seinem Blick lag Mitgefühl. »Ich wünschte, ich müsste dich nicht verlassen. Aber Vater glaubt, dass ich am ehesten in der Lage bin, von Winterfels das zu erreichen, was wir wollen, und da stimme ich ihm zu.« Sommergrund, einst ein reiches, blühendes Königreich, bekannt für seine fruchtbaren Felder und üppigen Obstgärten, befand sich seit Jahren im schleichenden Niedergang. Obwohl die Adeligen und ihr König aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nach außen hin eine Fassade des Wohlstands aufrechterhielten, begannen die vergoldeten Kuppeln und die glänzende Pracht der Paläste und Herrenhäuser Sommergrunds langsam abzublättern und zeigten erste Zeichen des Verfalls. »Außerdem wirst du nicht allein sein, während ich fort bin. Du hast doch noch Tildy und deine Schwestern.«

»Das ist nicht dasselbe. Sie sind nicht du.« Er war der gut aussehende Prinz von Sommergrund, charmant, geistreich und heldenhaft. Er lebte ein Leben voller Abenteuer, und an den meisten davon ließ er sie teilhaben, indem er ihr von seinen Heldentaten erzählte … Von den Orten, die er gesehen, den Menschen, die er getroffen hatte. Von seinen Jagden, seinen Abenteuern, seinen Triumphen. Ganz gleich, wie sehr Chamsins Amme Tildavera Grünlaub sie auch vergötterte, oder wie oft die drei Prinzessinnen Frühling, Sommer und Herbst, die im ganzen Reich ihrer Gabennamen wegen nur als die Jahreszeiten bekannt waren, sich von ihren königlichen Pflichten davonschlichen, um Zeit mit ihrer geächteten jüngsten Schwester zu verbringen – Milan war derjenige, ohne dessen Besuche sie nicht leben konnte.

»Also das nenne ich aber ein nettes Kompliment! Vorsicht, Mylady. Ihr verdreht mir noch den Kopf.« Er lächelte, und Wärme durchströmte sie. Kein Wunder, dass ihm die Herzen der Damen am Hofe ihres Vaters nur so zuflogen, sobald er ihnen die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Milan hatte etwas Magisches an sich. Er besaß die Gabe, jedes gefiederte Geschöpf nach Lust und Laune zu kontrollieren, was ihm den Gabennamen Falke eingebracht hatte, und die Wettergabe in seinem königlichen Sommerländerblut war stärker als bei irgendeinem anderen Kronprinzen seit Generationen. Es war, als würde die Sonne selbst in seiner Seele wohnen und jedes Mal, wenn er lächelte, ihre Wärme verströmen.

Cham atmete tief durch. Vögel waren nicht die einzigen Geschöpfe, die für Milans Zauber empfänglich waren. Im Angesicht seines warmen Lächelns beruhigte sich ihr erhitztes Temperament ein wenig, und der drohende Sturm am Himmel legte sich. Vielleicht schickte König Verdan seinen einzigen Sohn wirklich aus politischen Gründen als Gesandten nach Winterfels. Vor langer, langer Zeit, als kleines Kind, das sich in den Schlaf weinte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass Milan die Reinkarnation von Roland dem Siegreichen war, dem Helden von Sommergrund. Dieser tapfere König hatte die Invasion einer übermächtigen Streitmacht zurückgeschlagen, mit seinem scharfen Verstand, seiner Wettergabe und einem legendären Schwert, von dem es hieß, es sei ein Geschenk des Sonnengottes selbst gewesen. Wenn irgendjemand das kalte, wilde Volk des Nordens zu den für Sommergrund vorteilhaftesten Zugeständnissen verleiten konnte, dann war das Milan.

»Wirst du mir wenigstens schreiben?«, fragte sie.

»Ich werde dir jede Woche einen Vogel schicken.« Er stupste sie auf die Nase und schenkte ihr ein schelmisches Grinsen. »Kopf hoch! Denk nur an all die Schwertkämpfe, die du gewinnen wirst, wenn du gegen unsichtbare Gegner kämpfst anstatt gegen mich.«

Cham verdrehte die Augen. Er unterrichtete sie seit Jahren im Schwertkampf, aber sie hatte ihn noch nie bei einem Kampf übertrumpfen können.

»Weißt du«, meinte sie, als sie sich zurück auf den Weg in den Palast machten, »vielleicht ist es ja gut so, dass du mehrere Monate in Winterfels verbringst.«

»Ach ja?«

»Ja. Du kannst die Zeit nutzen, um herauszufinden, was mit Rolands Schwert geschehen ist.«

Milan stolperte über einen unebenen Pflasterstein und griff haltsuchend nach dem Stamm eines nahen Baumes. »Ich bin mir sicher, dass ich zu beschäftigt sein werde, um irgendwelchen Märchen nachzujagen, Sturm.«

Überrascht runzelte sie die Stirn. »Aber du hast doch immer daran geglaubt, dass die Geschichten wahr sind.« Flammensturm, das legendäre Schwert von Roland Soldeus, war kurz nach dem Tod des heldenhaften Königs verschwunden. Die Legende besagte, dass der Winterkönig, der Vater von Rolands Braut, das Schwert heimlich hatte verschwinden lassen, aber dass der wahre Erbe Rolands es eines Tages zurückgewinnen würde. Seit zwei Jahrtausenden träumte jeder königliche Prinz Sommergrunds davon, die sagenumwobene Klinge zu finden und nach Hause zurückzuholen, wo sie hingehörte. Milan hatte Jahre damit verbracht, jeder Spur nachzujagen, fest entschlossen, dass er derjenige sein würde, der Flammensturm finden und Sommergrund zu seinem früheren Ruhm zurückführen würde.

»Was ist mit diesen Briefen?«, fügte sie hinzu. »Diese wirklich alten, die du versteckt in diesem Kloster gefunden hast? Du sagtest doch, sie wären der Beweis, dass die Geschichten wahr sind.«

»Das ist sechs Jahre her. Ich war siebzehn. Ich wollte, dass die Geschichten wahr sind.« Er umarmte sie kurz und gab ihr einen brüderlichen Kuss auf die Stirn. »Ich muss los. Ich treffe mich mit Vater und seinen Beratern, um unsere Liste mit Forderungen und Zugeständnissen noch ein letztes Mal durchzugehen, bevor ich aufbreche. In ein paar Monaten sehen wir uns wieder.«

»Ich werde dich jeden Tag vermissen.« Langsam folgte sie ihm und fühlte sich beraubt und verlassen, als Milan um die Ecke bog und aus ihrem Blickfeld verschwand. Doch diesmal empfand sie darüber hinaus auch Verwirrung. Sie kannte Milan nicht als jemanden, der etwas, für das er Leidenschaft empfand, einfach aufgab. Und er hatte mit Leidenschaft nach Rolands Schwert gesucht. Er war sich sicher gewesen, auf der richtigen Fährte zu sein – und sicher, dass er Rolands wahrer Erbe war. Er hatte seine Entdeckungen mit ihr geteilt, weil er wusste, dass sie genauso begierig darauf war wie er, das legendäre Schwert zu finden.

Warum also leugnete er es jetzt?

Gildenheim, Winterfels


»Sie ist nicht gut für dich.«

Wynter Atrialan, der König von Winterfels, warf seinem jüngeren Bruder einen Seitenblick zu. »Sag das nicht, Garrick. Ich weiß, dass du Elka noch nie leiden konntest, aber in sechs Monaten wird sie meine Braut und deine Königin sein.«

Garrick schüttelte sein langes, schneesilbernes Haar. Seine Augen waren so klar und blau wie die Gletscherhöhlen der eisbedeckten Skoerrberge von Winterfels und leuchteten mit einer ernsten Eindringlichkeit, die den Jungen weit älter als seine fünfzehn Jahre wirken ließ.

»Du liebst zu sehr, Wyn. Von dem Augenblick an, als du dich entschieden hast, sie zur Frau zu nehmen, bist du ihrer wahren Natur gegenüber blind geworden.«

Wynter seufzte. »Ich hätte meine Bedenken nicht mit dir teilen sollen.« Wyn war ein sehr verschlossener Mann, aber vor seinem Bruder hatte er keine Geheimnisse. Nach dem Tod ihrer Eltern vor zehn Jahren hatte Wyn seinen Bruder großgezogen, und in diesen Jahren hatte er nie versucht, die hässliche Welt der Politik zu beschönigen, nie versucht, seine Ängste oder Sorgen zu übertünchen – nicht einmal, wenn es sich um die sehr persönliche und dennoch politische Angelegenheit...