Forensisches Therapieprogramm für junge Straftäter - Das ForTiS-Manual

von: Thomas Best, Marcel Aebi, Cornelia Bessler

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783840923128 , 302 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 39,99 EUR

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Forensisches Therapieprogramm für junge Straftäter - Das ForTiS-Manual


 

Kapitel 1 Antisoziales Verhalten und psychosoziale Interventionsmöglichkeiten (S. 11-12)

1.1 Antisoziales Verhalten

Aggressives Verhalten ist Teil der menschlichen Natur. Die Fähigkeit, sich selbst gegen physische und verbale Angriffe zu verteidigen, trägt zum Überleben eines Individuums und dessen Gene bei. Bereits kleine Kinder zeigen ein großes Repertoire an aggressiven Verhaltensweisen: Sie schlagen, beißen, spucken, kicken und kratzen oder ziehen andere an den Haaren. Werden die Kinder älter, so lernen die meisten von ihnen, ihre aggressiven Impulse zu hemmen und zu kontrollieren. Die Interaktion mit Betreuungspersonen spielt in der Sozialisation und der Aggressionskontrolle von Kindern und Jugendlichen eine wesentliche Rolle. In den Interaktionen mit einem Gegenüber lernen sie, ihre Bedürfnisse in sozial tolerierter Weise auszudrücken und ihre Impulse zu steuern und zu kontrollieren. Einem Teil der Kinder gelingt aber dieser Anpassungsprozess nicht und sie zeigen im Jugendalter antisoziale Verhaltensweisen.

Antisoziale Verhaltensweisen beinhalten aggressives, gewalttätiges, delinquentes und kriminelles Verhalten mit dem gemeinsamen Kennzeichen der Verletzung von altersgemäßen, sozialen Erwartungen und Normen. Diese relativ heterogenen Problemverhaltensweisen zeigen vielfältige Zusammenhänge im Entwicklungsverlauf. Aufgrund der Häufigkeit und der relativen Stabilität des Problemverhaltens im Entwicklungsverlauf sowie der daraus entstehenden Kosten stellen antisoziale Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen eine Herausforderung für die Gesellschaft dar. Das Thema steht immer wieder im Brennpunkt der öffentlichen Diskussion. Daher stoßen Interventionen, die bereits anbahnende Negativentwicklungen unterbrechen, auf großes Interesse.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden antisoziale Verhaltensweisen als „Störung des Sozialverhaltens“ (SSV) in den gängigen internationalen Diagnoseklassifikationssystemen beschrieben.

Die „International Classification of Deseases“ (ICD-10; Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte- Markwort, 2006) und das „Diagnostic Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-5, American Psychiatric Association, 2013) unterscheiden zwei Formen von Verhaltensstörungen: eine leichtere Form mit vorwiegend oppositionell aufsässigem Verhalten und eine schwerere Form der SSV, welche ein Muster von dissozialen und regelverletzenden Verhaltsweisen umschreibt. Gemäß dem im europäischen Raum gebräuchlicheren ICD-10 müssen für das Vorliegen der schwereren Form der SSV drei der in Kasten 1 aufgelisteten Symptome vorhanden sein. Mindestens ein Symptom muss sechs Monate vorgelegen haben. Es kann gemäß ICD-10 weiter unterschieden werden, ob sich die SSV auf den familiären Rahmen beschränkt, mit wenig Beziehungen zu Gleichaltrigen (Isolation, Zurückweisung, Unbeliebtheit) oder mit normalen Beziehungen zu Gleichaltrigen einhergeht. Zudem kann der Beginn der Störung (Auftreten von Symptomen vor oder nach dem 10. Lebensjahr) und der Schweregrad (gering, mittelgradig, schwer) klassifiziert werden. Im kürzlich erschienenen DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) kann eine SSV zudem in Bezug auf eine mangelnde prosoziale Emotionalität weiter spezifiziert werden. Diese Kinder oder Jugendlichen mit gefühlsarmen Persönlichkeitszügen (englisch „callous unemotional traits“) zeigen zusätzlich zu den SSV-Symptomen ein Fehlen von Schuldgefühlen, mangelnde Empathie, geringe Leistungsmotivation und/oder einen oberflächlichen Affekt (Kahn, Frick, Youngstrom, Findling & Kogos Youngstrom, 2012).

Die Häufigkeit des Auftretens der SSV wird im Durchschnitt in verschiedenen internationalen Studien zwischen 1 und 12 Prozent angegeben (Hinshaw & Lee, 2003; Steinhausen 2010). Im Entwicklungsverlauf konnte bis zum Jugendalter ein kontinuierlicher Anstieg der antisozialen Verhaltensweisen gefunden werden. Der kontinuierliche Anstieg im Verlauf der Kindheit bis zur Jugend wurde allerdings nur bei Jungen festgestellt (Moffitt & Caspi, 2001). Bei den Mädchen liegt die Störungsrate bis zu Beginn des Jugendalters auf niedrigem Niveau und steigt erst dann deutlich an. Das heißt, dass geschlechtsspezifische und entwicklungsabhängige Faktoren das Erscheinungsbild der antisozialen Verhaltensstörungen bedingen (Moffitt & Caspi, 2001). Die meisten Studien geben eine Häufung der Verhaltensstörung in der mittleren Kindheit und frühen Jugend an (Moffitt, 1993). Betrachtet man aber die verschiedenen Erscheinungsformen, zeigt sich im Längsschnitt, dass offenes physisch aggressives Verhalten im Verlauf der Kindheit und frühen Jugend abnimmt, während delinquente Verhaltensprobleme mit dem Alter zunehmen (Steinhausen, 2010).

Aufgrund des breiten Spektrums und der verschiedenen Ausprägungen an möglichen Erscheinungsformen kann sich die SSV bei Jugendlichen sehr unterschiedlich darstellen. Es wurden daher verschiedene Dimensionen von aggressivem und delinquentem Verhalten empirisch untersucht (Frick, Lahey, Loeber, Tannenbaum, van Horn, Christ & Hart, 1993; Breslau, Saito, Tancredi, Nock & Gilman, 2012). Eines der bekanntesten und empirisch am besten abgestützten Modelle (Frick et al., 1993) berücksichtigt die Dimensionen des offenen und verdeckten und des destruktiven und nicht destruktiven Verhaltens (vgl. Abbildung 1). Dadurch lässt sich antisoziales Problemverhalten in vier Typen kategorisieren (Eigentumsverletzung, offene Aggression, Normverletzung und oppositionelles Verhalten).