Als die Sonne im Meer verschwand - Roman

von: Susan Abulhawa

Diana Verlag, 2015

ISBN: 9783641126575 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Als die Sonne im Meer verschwand - Roman


 

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Die Witwe des Imkers hatte keine Blutsbande zu uns, nur Bande der Liebe. Diese kinderlose Frau war überall glücklich, solange sie ihre Hände nur in fruchtbare Erde schlagen und mit ihren Pflanzen reden konnte. Solange der lebensspendende Dreck unter ihren Nägeln gedieh.

Mamduh starrte auf sein Zuteilungsbüchlein vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, in dem geschrieben stand, dass er der Haushaltsvorstand sei. Aber einen Haushalt gab es nicht. Er lebte in einem Zelt, das er mit seiner Schwester Nazmiyya, deren Ehemann Atiyah und dessen Familie teilte. Er war selten dort. Während der ersten zwei Jahre nach der Vertreibung aus Beit Daras schlief er am Strand von Gaza unter dem Sternenhimmel. Er fand Arbeit als Gehilfe eines Schmieds und gab ein Drittel seines Lohns an seine Schwester Nazmiyya weiter, ein anderes Drittel an die Witwe des alten Imkers. Das fand er nur angemessen, denn er wollte den Mann ehren, der ihm ein Ersatzvater gewesen war. Aber es gab noch einen weiteren Grund. Während seiner Jahre als Lehrling des Imkers hatte er sich in dessen jüngste Tochter, Yasmin, verliebt. Die beiden sprachen nie darüber und lebten die gegenseitige Zuneigung natürlich auch nie aus, denn sie war anderweitig verlobt gewesen und hatte bald geheiratet. Selbst nachdem ihr Ehemann von den Juden getötet worden war, hatten sie und Mamduh, der regelmäßig vorbeikam und ihrer Stiefmutter das Geld überbrachte, sich nur ganz selten mit Blicken über ihre Gefühle verständigt.

Die Witwe des Imkers war eine fröhliche Frau, die gern kochte, auch noch nach den vielen Schicksalsschlägen, die sie hatte erdulden müssen: Krieg, Vertreibung, Verwitwung, Armut. Sie war die dritte Frau des Imkers gewesen, nicht viel älter als Yasmin. Die beiden Frauen hatten zu Friedenszeiten kein besonders enges Verhältnis zueinander gehabt, waren jetzt aber als die einzigen Überlebenden ihrer Familie zusammengewachsen. Sie litten an denselben Wunden und Verlusten und teilten die Liebe zu gutem Essen. Die Witwe verbrachte ihre Tage meist damit, zu kochen und sich die besten Zutaten für das Mahl des nächsten Tages zu sichern. Schon nach wenigen Wochen des Lebens im Zelt war ihr gebrochenes Herz wieder ein wenig geheilt, und sie suchte nach einem Stückchen Land, auf dem sie einen kleinen Garten anlegen konnte.

Jeden Tag erntete die Witwe des Imkers die Früchte ihrer Bemühungen. Ihr selbst gezogenes Gemüse tauschte sie gegen frische Ziegenmilch, die sie zu Butter stampfte, zu Quark und Joghurt oder Laban verarbeitete oder zu Käse machte. Sie tauschte ihre Rote Bete, ihren Kohl, ihre Gurken und Kartoffeln auch gegen Hühner und Eier ein. Während die anderen Frauen schicksalsergeben in ihren Zelten saßen und auf die Zeitung des nächsten Tages, die nächste Essenszuteilung, irgendeine Neuigkeit, den Regen, den Sonnenuntergang oder auf die Rückreise nach Beit Daras warteten, verbreitete die Witwe des Imkers eine Stimmung der Normalität. Sie inspirierte die anderen Frauen, die begannen, sich um die Verschönerung ihrer provisorischen Behausungen zu kümmern. Bald trafen sich die Frauen wieder so wie früher, um zusammen die Wäsche zu waschen, zu tratschen, Weinblätter zu rollen, Reiskörner nach Steinchen und Insekten zu durchsuchen. Ihre Ehemänner stellten Ständer für Wäscheleinen auf, bauten Gemeinschaftsküchen und unterirdische Öfen, in denen die Frauen Brot backen konnten. In dieser Zeit, in der Nationen erschüttert wurden und kollektive Trauer in die Geschichte einsickerte, um über Generationen weitergegeben zu werden, kehrten die Flüchtlinge von Beit Daras zurück zu ihren fröhlichen Witzen, zu Klatsch und Tratsch. Während sie darauf warteten, zurück nach Hause gehen zu dürfen, wurden Babys geboren und Hochzeiten geplant. Die Banalitäten des täglichen Lebens holten sie heraus aus ihren Zelten und hinein in die Gemeinschaft, wo sie zusammen beteten, den Morgenkaffee und den Nachmittagstee tranken. Der Krieg hatte alle gleichgemacht, jetzt galten weder große Namen noch ehemals große Vermögen etwas. Alle schliefen in denselben Zelten, die in exakt angeordneten Reihen auf den offenen, schattenlosen Feldern standen. Alle Kinder spielten zusammen, und bald gingen alle, Jungen und Mädchen, in den Schulunterricht, der unter freiem Himmel oder im Zelt abgehalten wurde. Inmitten ihres neuen verunstalteten Schicksals kehrten die Menschen wieder zu ihren früheren Verhaltensweisen zurück: Halunken, Heilige, Klatschtanten, Mütter, Huren, Frömmler, Kommunisten, Egoisten, Hedonisten und auch alle anderen -isten.

Mit der Zeit wurden die Stoffzelte durch Hütten aus Lehmziegeln und Wellblech ersetzt, und in den Flüchtlingslagern entstand eine Subkultur aus eisernem Stolz, Trotz und dem festen Glauben an ein würdevolles Heim, ganz egal, wie lange man daran baute oder wie viel es kostete. Die Flüchtlingslager wurden zum Epizentrum eines der kompliziertesten Orte auf der Welt und zum Geburtsort einiger der größten arabischen Dichter und Künstler. Und dort, mitten im Herzen der nationalen Heimatlosigkeit, wurde die Behausung der Witwe zu einem Quell des Lebens, der den Duft von Zwiebeln, Rosmarin, Zimt, Kardamom und Koriander im Lager verströmte und auf diese Weise Erinnerungen, Geschichten und Hoffnung verbreitete. Zu den Essenszeiten war ihre Hütte immer voller Menschen. Nachbarn, neue Freunde, alte Freunde. Und einmal im Monat kam auch Mamduh. Sein Gang war unrund, aber er gab sich enorme Mühe, so elegant und aufrecht wie möglich zu laufen. Die Kugel, die während der Nakba in sein Bein eingedrungen war, hatte eine Wachstumsfuge beschädigt und jenen Bereich vom weiteren Wachstum abgehalten, während sein restlicher Körper sich ganz normal entwickelt hatte. Dadurch wirkten sein Gang und seine Bewegungen etwas eigentümlich. In einen Schuh hatte er sich eine Erhöhung gebastelt, doch sie half nur begrenzt.

Die Witwe des Imkers bereitete Mamduh immer seine Lieblingsgerichte: Gartengemüse mit einer besonderen hashwah, einer Füllung aus ihrer eigenen Gewürzmischung, Reis und Fleisch. Mamduh liebte ganz besonders kosa, gefüllte Zucchini in scharfer Tomatensauce. Das Essen bei ihr an jedem Zahltag war ihm eine besondere Freude, nicht nur wegen der köstlichen Mahlzeiten, sondern auch, weil er Yasmin zu sehen bekam. Alle ahnten, dass er eines Tages, wenn er genug Geld für eine Familie gespart hatte, um ihre Hand anhalten würde.

Tatsächlich sparte er das letzte Drittel seines Lohns genau für diesen Zweck, und in weniger als einem Jahr hatte er genug beisammen, um in Kairo nach Arbeit suchen zu können. Dort bekam er eine Stelle bei einem großen Bauunternehmen. Bevor er nach Kairo aufbrach – damals das Verwaltungszentrum, dem Gaza unterstand –, nahm er seine Schwester und deren Mann mit in das Haus der Witwe, um sie um Yasmins Hand zu bitten. Er brachte eine bescheidene Mitgift von zweihundert ägyptischen Pfund und eine Verlobungs-shabka in Form einer Goldkette mit passenden Ohrringen. Um Yasmin in der Familie willkommen zu heißen, nahm Nazmiyya eins ihrer beiden shabka-Armbänder ab – die ihr Ehemann nachgekauft hatte, um die von den Soldaten gestohlenen zu ersetzen – und legte es ihrer zukünftigen Schwägerin liebevoll um das Handgelenk. Die Frauen stimmten das traditionelle zagharit an, ein Freudengeheul, das aus tiefstem Herzen kam und allen zeigte, wie glücklich sie waren.

Das Zungentrillern verkündete der Welt, dass Yasmin Ja gesagt hatte. Eine spontane Feier begann. Die Nachbarn warteten bereits erwartungsvoll vor Yasmins Hütte, denn eine bevorstehende Hochzeit konnte man in palästinensischen Gemeinschaften nie geheim halten. Und erst recht nicht hier, in den beengten Verhältnissen des Flüchtlingslagers, wo so gut wie jeder alles über jeden wusste. Man tanzte und sang bis in die Nacht hinein. Die Witwe des Imkers und Nazmiyya – als die weiblichen Verwandten von Braut und Bräutigam – verkündeten, dass die offizielle Verlobungsfeier in zwei Wochen stattfinden und dass Mamduh danach allein nach Kairo gehen werde, um Geld für die Hochzeit und den neuen Hausstand zu verdienen.

Am Tag der Verlobungsfeier kaufte die Witwe des Imkers Fleisch auf Kredit; später würde sie die Schuld mit frischem Gemüse begleichen. Dann kochte sie ein Festmahl aus zartem Lammfleisch in Kreuzkümmel, Zimt und Piment mit gerösteten Pinienkernen auf Reis, gerollten Weinblättern, gefüllten Zucchini, verschiedenen Salaten, Mezze und Gurke in Joghurtsauce mit Pfefferminze und Knoblauch. Von jenem Mahl sprach man noch Wochen später. »Niemand kann kochen wie die Witwe des Imkers«, sagten alle. Und Mamduh erwiderte: »Das stimmt, denn sie kocht mit dem Herzen.« Die weiblichen Gäste redeten freundlich über Mamduh. Sie fanden, Yasmin hätte Glück gehabt mit ihm, obwohl er ein lahmes Bein und keine Familie hatte bis auf eine Schwester. Eine Frau gab ein missbilligendes Geräusch von sich und sagte: »Jeder weiß doch, dass diese Nazmiyya schamlos über alle herzieht, das ist wirklich nichts, auf das man stolz sein könnte.« Eine andere widersprach. »Allah beschütze uns lieber vor deiner Zunge«, sagte sie. »Diese arme Frau ist seit dem Krieg so still wie eine Maus und spuckt ein Baby nach dem anderen aus. Beiß dir auf die Zunge und bereue deine Worte. Ich...