Die Magie der tausend Welten - Der Wanderer - Roman

von: Trudi Canavan

Penhaligon, 2015

ISBN: 9783641158958 , 704 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Magie der tausend Welten - Der Wanderer - Roman


 

1 Rielle

Als Betzi – angeblich mit Kopfschmerzen – früher als alle anderen zu Bett ging, wusste Rielle, dass sie etwas im Schilde führte. Etwas sehr Gefährliches. Und Rielle bezweifelte, dass sie es ihrer Freundin würde ausreden können.

Also sagte sie nichts. Aber bevor sie sich zur Nachtruhe zurückzog, schlüpfte sie in die Werkstatt, nahm zwei Webkämme und hängte sie an den alten Wandteppich, der als Tür für den Raum diente, den sie sich miteinander teilten. Als das Klirren von Metall sie weckte und Betzi laut fluchte, setzte sie sich schnell auf.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein gehen lasse«, murmelte sie.

Betzi drehte sich mit raschelnden Röcken um. Und auch in dem Punkt hatte ich recht, dachte Rielle. Sie ist in ihren Kleidern zu Bett gegangen, damit ich nicht aufwache, wenn sie sich anzieht.

»Du kannst mich nicht daran hindern zu gehen«, erwiderte Betzi und entfernte die Kämme.

»Betzi, es ist zu gefährlich für …«

Aber das Mädchen beachtete sie nicht weiter und verschwand hinter dem Wandteppich. Rielle erhob sich und folgte ihr rasch. Das schwache Licht der frühen Morgendämmerung, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, erhellte kaum die staubige Luft. Die jüngere Frau hielt auf der obersten Sprosse der Leiter zum nächsten Stockwerk inne, als sie sah, dass Rielle ihr folgte.

»Warum bist du angezogen?«

»Weil ich dich nicht allein gehen lasse.«

Die Falte zwischen den Brauen des Mädchens verschwand. »Du kommst mit?«

»Wie du schon sagtest, ich kann dich nicht daran hindern zu gehen.«

Die Falten auf ihrer Stirn waren wieder da. »Meister Grasch hat dir das aufgetragen, nicht wahr?«

»Er mag blind sein, aber er ist nicht dumm.«

Betzi zuckte die Achseln und kletterte dann die Leiter hinunter. Ihre Schuhe verursachten keinerlei Geräusch – weil sie sie an den Schnürsenkeln zusammengebunden und sich über die Schulter geworfen hatte. Rielle hatte nicht daran gedacht. Es war ziemlich unbequem gewesen, in ihren Stiefeln zu schlafen.

Sie folgte Betzi hinunter ins Wohnzimmer. Die Weberwerkstatt erstreckte sich über drei Stockwerke: Der Hauptarbeitsraum lag auf Straßenhöhe, das Wohnzimmer darüber und die Schlafzimmer ganz oben. »Wohnzimmer« war eine passende Beschreibung, da dort alles außer Schlafen und Arbeiten stattfand. Privatsphäre und genügend Platz waren ein seltenes Gut in schpetanischen Häusern. Nur die Haustür und die Tür zur Toilette waren massiv, alles andere waren Wandteppiche oder Ähnliches – die vor der Werkstatt waren so ausgeblichen, dass niemand mehr das ursprüngliche Bild darauf erkennen konnte.

Sie setzten sich auf die Bank am Ofen, und die jüngere Frau schnürte sich ihre Stiefel zu. Nicht zum ersten Mal beneidete Rielle ihre Freundin um deren zierliche Füße. Betzi kam mit ihrer Figur dem Idealbild einer Schpetanerin sehr nahe. Nicht besonders groß, wohlgeformt, mit kleinen Händen und Füßen und einem blassen, herzförmigen Gesicht, das von einer Fülle blonder Locken eingerahmt wurde, erregte sie überall Bewunderung. Neben ihr fühlte sich Rielle groß, schlaksig und dunkel, während sie unter ihren eigenen Leuten lediglich »reizlos« gewesen war, auch wenn Izare sie »ansprechend« und »interessant« gefunden hatte.

Izare. Sie hatte lange nicht mehr an ihren ehemaligen Liebsten gedacht. Der Schmerz, der ihren schrecklichen Abschied damals begleitet hatte, war abgeklungen, und die Schuldgefühle wegen all dem, was er ihretwegen durchgemacht hatte, waren in den Hintergrund getreten, obwohl es sie manchmal immer noch quälte, wenn sie nachts wach lag und über die Vergangenheit nachsann.

Nach fünf Jahren denkt er wahrscheinlich ebenso wenig an mich wie ich an ihn – und zweifellos würde er es vorziehen, überhaupt nicht an mich zu denken.

Gelegentlich fragte sie sich, was er jetzt wohl machte. Wohnte er immer noch in Fyre? Verdiente er sich seinen Lebensunterhalt immer noch mit Malen, oder hatte sie seinen Ruf ruiniert, weil man ihn mit ihr in Verbindung brachte? In fünf Jahren kann sich viel verändern. Vielleicht ist er verheiratet und hat Kinder, die er sich doch so sehr gewünscht hat. Ich hoffe es für ihn. Auch wenn ich mich nicht mehr nach ihm verzehre, wünsche ich ihm dennoch kein Unglück.

Betzi stand auf und ging zu dem kleinen Raum zwischen dem Wohnzimmer und der Weberwerkstatt, in dem Meister Grasch Besucher empfing. Hinter einem der kleinen Musterwandteppiche zog sie ein kleines Bündel hervor, an dem eine Schnur befestigt war, und band es sich an den Gürtel. Dann ging sie zur Haustür und schob vorsichtig den schweren Riegel zurück. Ohne innezuhalten und noch einmal darüber nachzudenken, wohin sie ging, oder zu kontrollieren, ob die Straße frei war, trat sie hinaus. Rielle folgte ihr und sah zu ihrer Erleichterung, dass sonst niemand unterwegs war. Sie nahm die Kette, die am Ende des Riegels befestigt war, fädelte sie durch ein Loch neben dem Türrahmen und zog, als die Tür geschlossen war, daran, sodass der Riegel wieder vorgeschoben wurde.

Es war unmöglich, das lautlos zu tun, und Betzi zischte sie angesichts des Lärms böse an.

»Wir können sie doch nicht schutzlos zurücklassen«, erklärte Rielle.

»Ich weiß, Rel, aber kannst du das nicht leise machen?«

»Wenn du das für möglich hältst, hättest du es selbst tun sollen«, erwiderte Rielle. Sie führte die Kette zurück durch das Loch. Innen schlug sie klirrend gegen die Wand. Irgendwo im Haus fing ein Baby an zu weinen. Betzi fasste sie am Arm und zog sie über die Straße und in den Schatten einer kleinen Gasse. Dann hielt sie inne, um sich davon zu überzeugen, dass sie allein waren, bevor sie Rielle losließ und sich wieder in Bewegung setzte.

Ihr Schritt war voller Selbstbewusstsein. Wenn Rielle es nicht besser gewusst hätte, hätte sie angenommen, dass er der naiven Arroganz einer verwöhnten, hübschen jungen Frau geschuldet war, die zu leicht bekam, was sie wollte. Tatsächlich hatte sie Betzi zu Anfang so eingeschätzt. Ihre Kühnheit war jedoch kein Zeichen von Schwäche und Unwissenheit; sie beruhte vielmehr auf Stärke und Entschlossenheit. Betzis kurzes Leben war schwierig gewesen, aber jeder Rückschlag hatte in ihr nur den Wunsch geweckt, jeden Glücksmoment, der sich ihr bot, umso fester zu ergreifen.

Selbst wenn das bedeutete, sich auf die Straßen einer verzweifelten Stadt zu wagen, die schon zu lange belagert wurde.

»Komm weiter, Rel«, sagte Betzi und schritt schneller aus. »Wenn die Kämpfe wieder anfangen, wird man uns nicht einmal in die Nähe der Mauer lassen.«

Rielle wandte sich um und raffte ihre Röcke hoch genug, dass sie ihre Schritte beschleunigen und ihre Freundin einholen konnte. Betzi zog die Augenbrauen nach oben, sagte jedoch nichts, da sonst niemand in der Nähe war, der es sehen würde. Die junge Frau war im Vorteil, da sie von klein auf die vielen Kleiderschichten getragen hatte, die die Schpetaner als schickliche Gewandung betrachteten. Rielle hatte es nie geschafft, sich so schnell darin zu bewegen wie die einheimischen Frauen. Leichter war es ihr gefallen, sich an die schpetanische Sitte zu gewöhnen, das Haar in der Öffentlichkeit unbedeckt zu lassen; es hatte ihr immer widerstrebt, ein Kopftuch zu tragen, obwohl es bedeutete, dass ihr dunkles, glattes Haar sie als Fremdländerin auswies.

Als ein Soldat in die Straße einbog, blieben beide Frauen reglos stehen. Der Mann humpelte und schwankte, und er sah nicht auf, als er näher kam. War er betrunken? Angeblich gab es keinen Alkohol mehr in der Stadt. Hatte man ein geheimes Lager entdeckt?

Als er vorbeiging, hörte sie, dass er jedes Mal die Luft anhielt, wenn er sein rechtes Bein belastete. Sie drehte sich nach ihm um und sah einen glänzenden dunklen Fleck hinten auf seiner Hose.

»Er ist verletzt«, flüsterte sie.

»Er kann noch laufen«, entgegnete Betzi.

Sie wechselten einen grimmigen Blick, dann eilten sie weiter.

Nicht lange nach dem Eintreffen des Königs und seiner Armee waren Berichte über Misshandlungen der Stadtbewohner bekannt geworden. Zu Anfang hatte es in Doum von Soldaten nur so gewimmelt. Als sich die Belagerung hinzog, stellten sich Hunger und Langeweile ein, und das vertraute Labyrinth der Straßen verwandelte sich langsam in ein Schlachtfeld ganz anderer Art. Nahrungsmangel machte verzweifelte Menschen zu Dieben. Kampferprobte Männer, die fürchteten, am Ende ihres Lebens angelangt zu sein, suchten nach letzten erreichbaren Vergnügungen.

Am sichersten war es, im Haus zu bleiben. Glücklicherweise erinnerten sich die alten Weberinnen noch an die Erzählungen ihrer Großmütter, die die letzte Belagerung überlebt hatten, indem sie auf dem Dach Getreide und Ähnliches angebaut hatten. Sie schickten die jüngeren Weberinnen mit den Strünken von Wurzelgemüse und kostbaren Saatkörnern nach oben.

Wir haben fast alle gedacht, die Belagerung würde nicht so lange andauern, dass in der Zwischenzeit irgendetwas wachsen kann, erinnerte sie sich. Wir haben es nur getan, um sie zu beruhigen. Und das war unser Glück.

Die Belagerung währte nun schon über drei Halbmondzeiten – oder Vierergruppen, wie die Einheimischen die Tage zählten. Fünfzig Tage. Die armseligen kleinen Pflanzen, die in Töpfen und Ritzen wuchsen, waren jetzt ihre einzige Nahrung, abgesehen von den kleinen Tieren, die normalerweise als Ungeziefer galten und jetzt von den Kindern gefangen wurden.

Die meisten Weberinnen...