John Sinclair 708 - Verliebt in eine Tote (1. Teil)

von: Jason Dark

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783838734385 , 64 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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John Sinclair 708 - Verliebt in eine Tote (1. Teil)


 

Verliebt in eine Tote (1. Teil)


Der einsame Mann wartete auf der nachtdunklen Wiese wie ein schöner Jüngling auf seine Angebetete, die er nach langer sehnsuchtsvoller Zeit endlich in die Arme schließen wollte.

Es war eine laue Sommernacht. Der Wind trug den Geruch von Gras und Heu wie unsichtbare Wolken vor sich her, und der Mond zeigte sich, als wäre er aus der Finsternis herausgeschnitten worden.

Obwohl es Nacht war, konnte der Wartende weit schauen. Er blickte über die Hügelwellen hinweg, er schaute aber auch auf die glitzernde Pracht der Sterne, legte sich dann auf den Rücken und ließ ein Lächeln um seine Lippen spielen.

Es war wunderbar, und es würde noch wunderbarer werden, wenn sie endlich eintraf …

Sie sah sich als seine Geliebte an.

Für ihn war sie das nicht.

Er betrachtete sie als Opfer!

Die Zeit verstrich. Aber so etwas war für ihn bedeutungslos geworden. Er wusste sehr genau, dass sie nicht anders konnte. Der schöne Jüngling hatte sie in seinen Bann gezogen, und sie würde vor ihm stehen und einfach hingerissen sein.

Irgendwann hörte er sie.

Es waren die Schallwellen, die den Boden durcheilten und an seine Ohren drangen. Sehr weich und leicht, eigentlich wie ihre Schritte. Für ihn klangen sie aufgeregt, voller Erwartung, und sein Lächeln wurde noch breiter.

Der Jüngling blieb noch liegen. Erst nach einer Weile richtete er sich auf und schaute nach Süden.

Er sah ihre Gestalt!

Sie hob sich zwischen den kleinen Hügeln ab wie ein wandernder Scherenschnitt. Sie ging schnell, und wenn es der Untergrund zuließ, dann lief sie sogar, als könnte sie es kaum erwarten, endlich an ihn heranzukommen.

Er wusste das, und nahm es sehr gelassen hin.

Dann richtete er sich auf. Seine Bewegungen waren gut nachvollziehbar, und sie hatten etwas Tänzerisches an sich, als stünde er dicht davor, sich in ein Wesen zu verwandeln, das eher in das Reich der Märchen und Legenden gepasst hätte.

Seine Kleidung war hell, sie glänzte im Licht des Mondes, und auch sein Gesicht streichelte der Schein, sodass er beinahe seine dunklen Augen füllte.

Den krassen Gegensatz dazu bildete das hellblonde Haar seiner Geliebten. Es umrahmte das fein geschnittene Gesicht, das viele Menschen schon mit dem Antlitz eines Engels verglichen hatten.

Sie hieß Joanna. Sie war schön, sie war willig, sie würde für ihn alles tun.

Er ging einige Schritte zur Seite, sodass er in einem besseren Licht stand. Wenn die Heraneilende jetzt den Kopf hob, musste sie ihn einfach sehen. Sie schaute ihm entgegen und winkte heftig mit den Armen.

Und er winkte zurück.

Sie lief schneller. Ihr helles Gewand flatterte im Wind wie eine Fahne. Es bauschte sich an den Seiten auf, sodass es den Eindruck hinterließ, als würde die Gestalt vom Wind über die dunklen Wiesen hinweggetragen werden.

Es war einfach schön …

»Joanna …«, rief er mit einer Stimme, deren Klang das Entzücken in ihr hochschnellen ließ, und sie rief seinen Namen noch lauter und jubelnder zurück.

»Diese Nacht gehört uns, nur uns allein«, begrüßte der Jüngling sie, als sich Joanna in seine offenen Arme warf und sich an ihn schmiegte. »Nur uns allein.«

»Ja … ja …!« Joanna spürte das Herz in ihrer Brust, das nicht nur Blut durch ihre Adern pumpte, sondern auch Liebe, die sie diesem jungen Mann entgegenbrachte.

Er war der König, sie die Königin, und er hatte versprochen, sie auf Händen zu tragen, was er auch tat. Dabei schlang sie ihre Arme um seinen Nacken, als wollte sie diesen Mann nie mehr loslassen.

Ihre Gesichter befanden sich ziemlich nahe beieinander. Groß und sehnsuchtsvoll blickten ihre Augen. Liebe und Vertrauen wollte sie ihm schenken und auch noch mehr.

»Wohin?«, flüsterte sie, »wohin wirst du mich bringen?«

»In den Himmel?«

»Ja, tu es. Bitte, bring mich in den Himmel.«

Er lachte auf, drehte sich um, und Joanna, die Verliebte, hörte den Triumph und die Falschheit nicht heraus. Sie glaubte, die große Liebe ihres Lebens gefunden zu haben.

Du irrst dich, dachte er. Du irrst dich gewaltig. Es wird zwar eine Liebe werden, aber eine ganz andere, als du sie dir vorgestellt hast. Eine Liebe, wie nur ich sie geben kann, denn ich bin derjenige, der bestimmt.

Er ging mit ihr weiter, und sie geriet in einen wahren Taumel vor Lust und Glück.

Bei jedem Schritt schwangen ihre Arme von einer Seite zur anderen. Sie pendelten wie die Klöppel von Glocken, und in ihrem Inneren schlugen ebenfalls Glocken an.

Eine Melodie der Liebe, des Glücks, und sie schlang ihre Arme noch fester um ihn.

»Schau nach vorn!«, sagte er. »Schau genau dorthin, wo sich die Mulde befindet.«

»Ja, Liebster!«, flüsterte sie und drehte ihren Kopf zur Seite. Der Blick fiel in eine weite Mulde, die ihr vorkam wie ein gewaltiges Bett, in das sie gelegt werden würde, um den ersten großen Zauber der Liebe genießen zu können. Sie würde das Wunder erleben, sie würde weggetragen werden, hinein in die Unendlichkeit des Himmels, den Wolken entgegen, den Sternen und …

Joanna war so mit ihren sehnsuchtsvollen Gedanken beschäftigt, dass sie erst dann merkte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, als der Mann sie ins Gras sinken ließ.

Es war weich wie der schönste Teppich. Er besaß tausend Finger, die sich bogen und sie streichelten. Es war einfach wunderbar, auf dem noch warmen Boden zu liegen, der die Strahlen der Sonne gespeichert hatte.

Der Geliebte stand vor ihr und schaute lächelnd auf sie herab. »Wie fühlst du dich?«, fragte er.

»Gut«, flüsterte sie, »Sehr gut …«

»Das freut mich.«

Joanna hob ihre Arme an. Sie tat es mit einer weichen Bewegung. »Bitte«, flüsterte sie, »komm … komm endlich.«

Er schüttelte den Kopf. »Gleich.«

»Wann ist gleich?«

»Ich bin bald wieder da.« Ohne ein Wort der Erklärung drehte er sich um und verschwand.

Er ließ eine etwas enttäuschte Joanna zurück, die gegen einen dunklen Himmel schaute und das Funkeln der Sterne ebenso genoss wie das bleiche Licht des Mondes, dessen Strahlen die Umgebung verzauberten.

Warum war er gegangen? Wollte er sie nicht mehr, oder hielt er eine besondere Überraschung für sie versteckt?

Alles konnte stimmen, alles konnte wahr sein. Niemals zuvor hatte sie einen Menschen wie ihn gefunden. Er würde sie auf Händen tragen, sie würde von hier weggehen und …

Er hörte ihren Ruf.

»Joanna …«

»Ja?« Hastig richtete sie sich auf.

»Komm her zu mir!«

»Ich? Wann?«

»Sofort.«

Sie stand auf. Ihre Bewegungen waren hektisch geworden. Sie ahnte nicht nur, nein, sie wusste auch, dass sie an einer entscheidenden Stelle angelangt war.

Nur wenige Schritte trennten sie von dem großen Ereignis. Als sie lief, stellte sie fest, dass sie schwankte. Trunken kam sie sich vor. Ihr Gesicht war dem Wind zugedreht, der ihre langen silberblonden Haare erfasste und sie zurückwehte, sodass sie den Eindruck einer sich durch das Gras bewegenden Elfe hinterließ.

Der Geliebte schaute ihr entgegen, und sie sah, dass aus dem hohen Gras etwas hervorwuchs, das dicht neben ihm stand, von dem sie aber nicht erkennen konnte, um was es sich handelte. Es sah aus wie eine Kiste oder wie eine Truhe.

Seltsam. Ein ungutes Gefühl beschlich Joanna, das sie jedoch unterdrückte, denn sie sagte sich, dass so etwas eben zu dem Besonderen gehörte, mit dem der Geliebte sie überraschen wollte.

Das Gras wuchs hier höher als an den anderen Stellen. Beim Laufen schlug es gegen ihre Beine, als wollte es sich wie Peitschenschnüre um Waden und Knöchel drehen.

Ihr Geliebter wartete. Er hatte den linken Arm angewinkelt und die Hand in die Hüfte gestemmt. Den rechten hielt er hoch, als wollte er ihr zuwinken.

Er wirkt wie ein Sieger, dachte sie. Wie ein großer Sieger. Und so etwas Ähnliches war er auch, denn er hatte über sie gesiegt, über sie nur allein.

Sie war etwas außer Atem, schwitzte leicht, denn die Nacht war einfach zu warm.

Und dann blieb sie stehen.

Diesmal fiel sie ihm nicht in die Arme, denn er deutete mit dem Finger auf den Gegenstand, der so ungemein wichtig für sie war.

Er stand auf dem Boden, und Joanna erkannte, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Es war eine Truhe.

Allerdings nicht mit den normalen Ausmaßen, sondern wesentlich größer, fast vergleichbar mit einem Sarg.

Und dieser Gedanke erschreckte sie. Er machte ihr Angst. Er fuhr wie ein feuriger Strahl durch ihren Körper, setzte sich in ihrem Hirn fest und ließ sie schwindeln.

Sarg und Liebe – wie passte das zusammen?

Plötzlich begann sie zu frösteln, und als sie genauer hinschaute, da erkannte sie, dass dieser rechteckige Gegenstand eine dunkelgrüne Farbe besaß.

Ob dieser ungewöhnliche Sarg aus Holz oder Stein bestand, konnte sie nicht erkennen. Jedenfalls besaß die Oberfläche eine Maserung, die sich schlangenlinienförmig verteilte.

Ihre Irritation bewies sie durch ein Kopfschütteln. »Was … was bedeutet das?«

Der Mann lächelte nur sehr breit, bevor er mit stolzer Stimme seine Antwort gab. »Er ist für dich, meine Liebe, nur für dich.«

Joanna ging zurück. Es war nur ein kleiner Schritt, dann stoppte sie. Schnappte nach Luft. »Wa … warum für mich? Was habe ich denn damit zu tun?«

»Du wirst hineingehen.«

»Und dann?«

»Klappe ich ihn zu!«

Er hatte die Antwort mit einer Stimme gegeben, die ihr einen Schauer über den Rücken...