Fünf am Meer - Roman

von: Emma Sternberg

Heyne, 2016

ISBN: 9783641191221 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Fünf am Meer - Roman


 

1

DAS LEBEN NIMMT ja manchmal Wendungen, bei denen du dir nicht gleich sicher bist, ob du sie gut finden sollst oder nicht.

Wenn im Haus gegenüber eine phänomenal gute Eisdiele aufmacht, zum Beispiel. Einerseits freust du dich, denn du kannst ab sofort jederzeit Schokoladeneis haben. Extrasahniges Schokoladeneis, dunkel und zart schmelzend und mit himmlischen, verboten großen Schokostückchen. Andererseits ahnst du schon nach der allerersten Kugel, dass dich der Laden entweder verdammt viel Beherrschung kosten wird – oder verdammt viele Kilos.

Oder wenn du einen neuen Online-Shop entdeckst, in dem es Hunderte herzergreifend netter Sachen gibt: Vintage-Schlüsselbretter, herrlich gemütliche Searsucker-Sofakissen oder niedliche Messingclips zum Verschließen offener Gummibärchentüten. Das ist gut für ein wohliges Gefühl – aber nur solange es dir gelingt, nicht auf deine Kontoauszüge zu blicken.

Oder wenn in deiner Firma eine neue Kollegin namens Katha anfängt, die irrsinnig nett und hübsch und witzig ist, und mit der du schon die allererste gemeinsame Mittagspause schwatzend überziehst – herrlich, oder? Auf der anderen Seite ist dein Vorhaben, ab sofort konzentrierter und schneller zu arbeiten, um deinen Hintern nach dem Büro wenigstens hin und wieder zum Laufen zu bringen, damit wohl endgültig dahin.

Wenn du allerdings an einem Donnerstag Anfang Juni vier Stunden früher als geplant von der Arbeit kommst, weil dort der Server ausgefallen ist und Katha und alle anderen Kollegen sowieso mit einer fiesen Sommergrippe darniederliegen, wenn du die Tür der Wohnung aufschließt, in der du seit dreieinhalb Jahren mit einem Mann lebst, von dem du hättest schwören können, dass er dich wirklich, wirklich liebt, wenn du dann aber im Flur stehst, den Schlüssel gerade ans Vintage-Schlüsselbrett hängen willst, die Wohnungstür immer noch offen hinter dir, und du eben diesen Mann vom Wohnzimmersofa her grunzen hörst wie ein Périgord-Trüffelschwein, das gerade den Fund seines Lebens auswühlt, und du im nächsten Augenblick starr vor Schreck siehst, wie sich ein perfekt gerundeter Melonenhintern auf dem Schoß dieses Mannes auf und ab bewegt … dann musst du nicht eine Sekunde lang nachdenken, um sicher zu wissen, dass dieser Moment nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts Gutes in sich birgt.

Denn dann ist klar, dass in haargenau dieser Sekunde der qualvolle Rest deines Lebens beginnt.

Oder, wie meine Freundin Annika sagen würde: Schlimmer geht’s nimmer.

Langsam, wie in Zeitlupe, bewege ich die Hand zum Mund, als würde ich gleich schreien, doch ich bleibe ganz still. Im selben Moment hört die Frau auf Martins Schoß auf sich zu bewegen, ganz so, als würde sie spüren, dass die beiden nicht mehr allein sind. Auch Martins bis eben noch verzückt geschlossene Augen öffnen sich einen Spalt.

Und sein Blick richtet sich auf mich.

Martin und ich sind seit vier und dreiviertel Jahren ein Paar. Wir haben uns auf einem Grillfest von gemeinsamen Freunden kennengelernt, auf dem er ein Polohemd mit hochgeklapptem Kragen trug und mir auf Anhieb unsympathisch war – bis wir am Büfett trotzdem ins Gespräch kamen und feststellten, dass wir nicht nur eine gesunde Abneigung gegen Nudelsalate mit Essiggurkenstückchen, sondern auch gegen Kerle mit hochgeklappten Polohemden teilen. Er hatte beim Losgehen bloß nicht in den Spiegel geschaut und lachte lauthals los, als ich ihm sagte, dass ich den ganzen Abend nur auf den versilberten Golfball-Schlüsselanhänger gewartet hatte, den er aus der Tasche ziehen würde, um damit herumzuspielen. Schon zwei Wochen später stellte er mich seinen Eltern vor und noch zwei Wochen später dem Rest seiner Familie – was nur dann anstrengend klingt, wenn man nicht weiß, wie wahnsinnig nett die Kuhns sind, und wie unglaublich herzlich sie mich empfangen haben. Ein gutes Jahr später zog ich bei Martin ein, und weil es ihm genauso wichtig war wie mir, dass meine Eltern ihn, na ja, ebenfalls einmal kennenlernen konnten, fuhr er mit mir raus nach Gerndorf, wo sich ihre Gräber befinden. Meine Eltern sind nämlich kurz nacheinander gestorben, als ich noch ein Kind war. Erst meine Mutter an Gebärmutterhalskrebs, damals war ich zehn, und zwei Jahre später dann mein Vater – ich bin sicher: aus Sehnsucht nach ihr. Ich habe den größten Teil meiner Jugend in Pflegefamilien verlebt, was manchmal ganz schön schwierig war: Immer wieder aufs Neue zog ich bei Familien ein, die ohne mich wunderbar funktioniert hatten und in die ich mich nun einfügen musste wie ein Besucher, wie ein Untermieter, wie ein Gast auf Zeit. Als ich Martin und die Kuhns gefunden hatte, die mich wie selbstverständlich in ihre Familie aufnahmen, war ich dermaßen froh, dass ich keine Sekunde auch nur daran gedacht hätte, dass irgendetwas zwischen uns kommen könnte.

Tja.

In diesem August wollten wir eine große Sommerparty im Kuhn’schen Garten schmeißen, um zu feiern, dass wir die fünf vollgekriegt haben. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll: Insgeheim hatte ich darauf spekuliert, dass wir unsere Verlobung bekanntgeben würden. Ich meine, wir wohnen jetzt seit dreieinhalb Jahren in dieser wunderhübschen, supersonnigen Dreizimmer-Dachgeschosswohnung in München-Trudering mit Echtholzparkett und Blick ins Grüne. Seit anderthalb Jahren arbeite ich in der Firma von Martins Eltern, die ein Reisebüro führen, das sich auf Flitterwochen spezialisiert hat und das den etwas unglücklich gewählten Namen HoneyKuhn trägt. Seit ein paar Monaten verhüten wir symptothermal, was im Prinzip heißt, dass wir gar nicht verhüten – es sei denn, ich habe mittels Temperatur- und Zervixschleimauswertung ermittelt, dass ich gerade meine fruchtbaren Tage habe. Wir haben zwei zueinander passende Messinglampen auf unseren antiken Nachtkästchen vom Flohmarkt stehen, haben erst kürzlich ein wunderschön verschnörkeltes Zwanziger-Jahre-Silberbesteck bei eBay gekauft und besitzen nicht nur ein supergemütliches Searsucker-Ecksofa mit passenden Kissen, sondern auch einen Couchtisch auf Rädern, der aus einer alten Schokoladenfabrik stammt.

Aber jetzt weiß ich, dass da kein Heiratsantrag kommen wird. Nichts wird mehr kommen. Martin, der heute offiziell zu Hause geblieben war, um die Umsatzsteuer-Voranmeldung zu machen, sieht nicht einmal sonderlich entsetzt oder verzweifelt aus, wie er mir da von seinem Platz auf dem Sofa aus ins Gesicht schaut, die Hose zwischen den Knöcheln und dem Melonenhintern auf dem Schoß. Es wirkt eher so, als sei er enttäuscht, dass sein Schäferstündchen damit dann wohl gelaufen wäre.

»Oh«, macht er mit müdem Gesichtsausdruck.

Oh.

Wenn ich bis jetzt bloß emotional torkelte, dann gibt mir dieses saftlose Oh den finalen Stoß, der mich psychisch zu Fall bringt, mich auf dem Boden meines Herzens aufschlagen lässt wie auf hartem, kaltem Beton.

Doch leider war das noch nicht alles. Das begreife ich genau in dem Augenblick, in dem die Frau auf Martins Schoß »Was?« fragt. Ich kenne diese Stimme, und noch ehe sie sich umdreht, weiß ich, wem die langen braunen Locken gehören, die gerade eben noch so lustig auf und ab wippten.

Schlimmer geht nimmer?

Haha.

»Katha«, sage ich langsam.

»Linn«, sagt meine Lieblingskollegin, die heute Morgen noch etwas von Sommergrippe ins Telefon geniest hat und der ich den überflüssigen, aber gut gemeinten Rat gegeben habe, viel, viel, viel zu trinken.

Mein Name kommt aus dem Schwedischen und bedeutet so etwas wie ›helle Sonne‹. Aber so, wie er in diesem Augenblick aus ihrem Mund kommt, klingt er eher nach Sonnenfinsternis.

»Linn«, sagt jetzt auch Martin und versucht immerhin, Katha von seinem Schoß zu schieben – was es allerdings nicht besser macht, weil ich so sehe, dass sein Ding da unten immer noch … na ja … im Stand-byModus ist. Ich starre es an und habe erst jetzt das Gefühl zu verstehen, was gerade passiert. Und einen winzigen Augenblick lang bilde ich mir ein, sein Ding starre höhnisch und einäugig zurück. »Linn, es ist nicht …«

Mein Blick wandert hoch zu Martins Gesicht.

»Es ist nicht …«, sagt er noch einmal, dann verstummt er, wahrscheinlich weil sogar ihm klar ist, dass der Satz »Es ist nicht so, wie es aussieht« etwas unpassend ist, wenn man mit einem Riesenständer auf seinem Stammplatz auf dem Wohnzimmersofa sitzt, während deine Lieblingskollegin gerade panisch ihren Schlüpfer hochzieht.

»Ich glaube, ihr solltet jetzt besser gehen«, krächze ich – ein Vorschlag, den Katha bereitwillig annimmt. Sie schnappt sich das türkisfarbene Kleid, das ich für sie beim Sale von Net-a-Porter ausgesucht habe, streift es hastig über und greift sich die beigefarbene Ledertasche, die sie erst neulich von einem verlängerten Wochenende in Berlin mitgebracht hat, das sie sich nur leisten konnte, weil sie als Mitarbeiterin von HoneyKuhn satte Rabatte auf Flüge und Übernachtungen kriegt. Sie schiebt sich mit glühenden Wangen an mir vorbei, schlüpft in ihre Schuhe, die mir beim Reinkommen nicht aufgefallen sind, und schleicht aus der Wohnungstür, die immer noch offen steht wie eine klaffende Wunde.

Ich sehe wieder Martin an, der inzwischen immerhin so viel Anstand zurückgewonnen hat, dass er sich seine Hose hochzieht.

»Du auch«, sage ich mit einer Stimme, die klingt, als würde ein kalter Hauch durch eine Gruft wehen.

»Linn …«, beginnt er, als wolle er zu einer Erklärung anheben, aber dann sagt er doch lieber...