So still in meinen Armen - Thriller

von: Mary Higgins Clark, Alafair Burke

Heyne, 2016

ISBN: 9783641177744 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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So still in meinen Armen - Thriller


 

4

Laurie Moran blieb auf dem Weg zu ihrem Büro im Rockefeller Center 15 stehen und bewunderte das gold-rote Blütenmeer in den Channel Gardens. Diese Gärten, benannt nach dem Ärmelkanal, weil sie das British Empire Building vom Maison Française trennten, erstrahlten in üppiger Farbenpracht. Die blühenden Tulpen konnten es natürlich nicht mit dem Weihnachtsbaum aufnehmen, der im Winter auf diesem Platz aufgestellt wurde, aber Laurie erleichterten sie den Abschied von ihrer liebsten Jahreszeit. Während sich viele New Yorker über die Touristenhorden beklagten, die während der Weihnachtsfeiertage in die Stadt einfielen, genoss Laurie vor allem die kalte Luft und die festliche Dekoration.

Vor dem Lego-Store fotografierte ein Vater seinen Sohn neben einem Riesendinosaurier. Ihr Sohn Timmy musste auch immer unbedingt in den Laden und die neuesten Sachen inspizieren, wenn er sie im Büro besuchte.

»Wie lange haben die gebraucht, bis sie ihn gebaut haben, Dad? Wie viele Steine braucht man dafür?« Der Junge sah zu seinem Vater auf, als verfüge dieser über alles Wissen der Welt. Laurie versetzte es einen Stich. Auch Timmy hatte Greg immer so angesehen, mit der exakt gleichen Erwartungshaltung. Sie sah, wie der Vater sie bemerkte, und wollte sich schon abwenden.

»Entschuldigen Sie, aber könnten Sie vielleicht ein Foto von uns machen?«

Die siebenunddreißig Jahre alte Laurie wusste, dass sie über eine freundliche Ausstrahlung verfügte. Sie war schlank, hatte honigfarbene Haare und haselnussbraune Augen und wurde gemeinhin als »gut aussehend« und »elegant« beschrieben. Die Haare hatte sie meistens zu einem einfachen schulterlangen Pferdeschwanz gebunden, mit Make-up gab sie sich nur selten ab. Sie war attraktiv, ohne einschüchternd zu wirken; der Typ Frau, den man nach dem Weg fragte oder, wie in diesem Fall, darum bat, ein Foto zu machen.

»Natürlich«, sagte sie.

Der Mann reichte ihr sein Handy. »Man kann mit dem Ding ja eine Menge anstellen, aber unsere Familienfotos sind alles nur noch Selfies. Wäre nett, wenn wir den anderen mal was zeigen könnten, was nicht aus einer Armlänge Entfernung aufgenommen wurde.« Er zog seinen Sohn zu sich, und Laurie trat einen Schritt zurück, um den gesamten Dinosaurier mit aufs Bild zu bringen.

»Und jetzt: Bitte lächeln!«, forderte sie die beiden auf.

Sie grinsten bis über beide Ohren. Vater und Sohn, dachte Laurie wehmütig.

Der Vater dankte ihr, als sie ihm das Handy zurückgab. »Ich hätte gar nicht gedacht, dass die New Yorker auch so nett sein können.«

»Ich kann Ihnen versichern, die meisten von uns sind ziemlich nett. Wenn Sie hier in New York nach dem Weg fragen, werden Ihnen neun von zehn gern weiterhelfen«, antwortete Laurie im Brustton der Überzeugung.

Sie verabschiedete sich von den beiden, dann überquerte sie die Straße und betrat die Räumlichkeiten der Fisher Blake Studios. Im vierundzwanzigsten Stock stieg sie aus dem Aufzug und eilte zu ihrem Büro.

Grace Garcia und Jerry Klein saßen schon an ihren Plätzen. Als Grace Laurie bemerkte, sprang sie auf.

»Hallo, Laurie.« Die sechsundzwanzigjährige Grace war Lauries Assistentin. Wie immer war sie stark, aber perfekt geschminkt. Ihre langen, pechschwarzen Haare hatte sie heute zu einem festen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug ein knallblaues Minikleid, dazu eine schwarze Strumpfhose und Stiletto-Stiefel, in denen Laurie sofort der Länge nach hingeknallt wäre.

Jerry, in einem für ihn typischen Cardigan-Pullover, erhob sich ebenfalls und folgte Laurie in ihr Büro. Trotz Graces hohen Absätzen überragte der schlaksige Jerry sie bei Weitem. Er war nur ein Jahr älter als Grace, gehörte aber seit dem College zum Unternehmen und hatte sich vom Praktikanten zu einem geschätzten Produktionsassistenten hochgearbeitet, bevor er vor Kurzem zum Regieassistenten befördert worden war. Ohne Grace und Jerry hätte Laurie ihre Sendung Unter Verdacht nie auf die Beine stellen können.

»Was ist los?«, fragte Laurie. »Ihr beide tut ja so, als würde im Büro eine Überraschungsparty auf mich warten.«

»So könnte man es sagen«, erwiderte Jerry. »Nur wartet sie nicht im Büro auf dich.«

»Sondern hier drin«, sagte Grace und reichte Laurie einen A4-Umschlag. Als Absender war ROSEMARY DEMPSEY, OAKLAND, KALIFORNIEN angegeben. Der Umschlag war aufgerissen. »Entschuldige, wir konnten es nicht erwarten.«

»Und?«

»Sie hat zugesagt!«, platzte Jerry heraus. »Rosemary Dempsey ist mit dabei, sie hat unterzeichnet. Glückwunsch, Laurie. Der nächste Fall in Unter Verdacht wird der Cinderella-Mord sein.«

Grace und Jerry nahmen wie immer auf dem weißen Ledersofa vor den Fenstern Platz, von denen man einen herrlichen Blick über die Eislaufbahn hatte. Nirgendwo fühlte sich Laurie sicherer als in der eigenen Wohnung, aber ihr geräumiges, elegantes, modernes Büro war Ausdruck der vielen, harten Arbeit, die sie in den vergangenen Jahren geleistet hatte. Hier ging sie ihrem Beruf nach. Hier war sie die Chefin.

Kurz hielt sie inne und wünschte dem einzigen Foto auf dem Schreibtisch in Gedanken einen guten Morgen. Das Bild, aufgenommen vor dem Strandhaus eines Freundes in East Hampton, war das letzte, auf dem sie, Greg und Timmy als Familie zu sehen waren. Bis vor einem Jahr hatte sie sich strikt geweigert, Fotos von Greg in ihrem Büro aufzustellen. Bis dahin war sie überzeugt gewesen, jeder Besucher würde damit nur daran erinnert werden, dass ihr Ehemann tot und sein Mord unaufgeklärt war. Jetzt hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens einmal am Tag das Foto bewusst anzusehen.

Nachdem sie damit ihr kleines Morgenritual absolviert hatte, ließ sie sich auf ihrem grauen Drehstuhl gegenüber dem Sofa nieder und ging die von Mrs. Dempsey unterschriebene Erklärung durch, in der sie sich zur Teilnahme an Unter Verdacht verpflichtete. Die Idee zu der Reality-Show stammte von Laurie. Im Mittelpunkt standen ungelöste Kriminalfälle, aber statt Schauspielern traten Freunde und Familienangehörige des Opfers auf, denen die Sendung die Gelegenheit bot, das Verbrechen aus ihrer Sicht zu schildern. Obwohl der Sender vom Konzept anfangs wenig überzeugt gewesen war – und Laurie noch dazu einige Flops produziert hatte –, konnte sie sich schließlich durchsetzen. Die erste Episode, mit dem Titel »Abschlussgala«, erzielte nicht nur überraschend hohe Einschaltquoten, sondern führte auch dazu, dass der besprochene Fall gelöst werden konnte.

Mittlerweile war fast ein Jahr vergangen. Seitdem hatten sie Dutzende ungelöste Mordfälle begutachtet und verworfen, da keiner ihren Vorgaben entsprochen hatte – unablässige Bedingung war natürlich, dass die nächsten Verwandten und Freunde, von denen einige nach wie vor »unter Verdacht« stehen konnten, als Gäste in der Sendung auftraten.

Unter sämtlichen Altfällen, die Laurie für die nächste Sendung in Betracht gezogen hatte, war der mittlerweile zwanzig Jahre zurückliegende Mord an der damals neunzehnjährigen Susan Dempsey immer ihre erste Wahl gewesen. Susans Vater war drei Jahre zuvor gestorben, Laurie aber hatte die Mutter, Rosemary Dempsey, aufspüren können. Sie war zwar äußerst aufgeschlossen für jeden neuen Versuch, den Mörder ihrer Tochter zu finden, schränkte ihre Bereitschaft zur Teilnahme aber ein, da sie in der Vergangenheit mit einigen Leuten, die in dieser Sache auf sie zugekommen waren, ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht hatte – laut eigener Aussage sei sie »ein gebranntes Kind«. Daher wollte Laurie auf jeden Fall sichergehen, dass man Susan in der Sendung den nötigen Respekt entgegenbrachte. Ihre Unterschrift unter dem Vertrag zeigte nun also, dass Laurie ihr Vertrauen gewonnen hatte.

»Wir müssen behutsam vorgehen«, schärfte sie ihren beiden Mitarbeitern ein. »Der Name ›Cinderella‹ wurde von den Medien geprägt. Susans Mutter verabscheut ihn. Wenn wir also mit Familienangehörigen oder Freunden reden, werden wir immer nur den Namen des Opfers nennen: Susan.«

Ein Reporter der Los Angeles Times hatte dem Fall die Bezeichnung »Cinderella-Mord« verpasst, weil Susan nur noch einen Schuh am Fuß gehabt hatte, als sie tot im Laurel Canyon Park, südlich des Mulholland Drive in den Hollywood Hills, aufgefunden wurde. Die Polizei hatte zwar schnell den zweiten Schuh in der Nähe des Parkeingangs entdeckt – vermutlich hatte sie ihn verloren, als sie vor ihrem Mörder flüchten wollte –, aber das Bild des verlorenen silberfarbenen Pumps blieb im Bewusstsein der Öffentlichkeit haften.

»Der Fall ist wie geschaffen für die Sendung«, sagte Jerry. »Eine hübsche, intelligente Studentin, wir haben die Universität von Los Angeles als Schauplatz. Dazu die einmalige Aussicht vom Mulholland Drive in der Nähe des Laurel Canyon Park. Wenn wir den Hundebesitzer ausfindig machen können, der Susan damals gefunden hat, könnten wir an der Stelle drehen, wo er an jenem Morgen seinen Hund ausgeführt hat.«

»Ganz zu schweigen von Frank Parker, dem Regisseur«, nahm Grace den Faden auf. »Mittlerweile wird er als moderner Woody Allen gehandelt. Vor seiner Ehe galt er als großer Schürzenjäger.«

Frank Parker war vierunddreißig gewesen, als Susan Dempsey ermordet wurde. Nach drei Independent-Produktionen war es ihm damals gelungen, für sein nächstes Projekt ein Studio zu gewinnen. Allgemeine Aufmerksamkeit erlangte er allerdings erst durch den Mordfall, weil er Susan am Abend des Mordes zu...