Totgeschwiegen - Romantic Suspense

Totgeschwiegen - Romantic Suspense

von: Brenda Novak

MIRA Taschenbuch, 2012

ISBN: 9783955762483 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Totgeschwiegen - Romantic Suspense


 

1. KAPITEL


Grace Montgomery hielt am Rand des Feldwegs an und sah hinüber zum großen Farmhaus. Dort hatte sie ihre Kindheit verbracht. Sogar in dieser bedeckten Nacht konnte sie im blassen Licht des Halbmondes erkennen, dass ihr älterer Bruder den Hof gut in Schuss hielt.

Aber das war bloß der äußere Schein. Die Wahrheit lag im Verborgenen. So war es auch im Fall dieser hübschen kleinen Südstaatenidylle. Deshalb hatte sie sich eigentlich geschworen, nie mehr hierher zurückzukommen.

Das Licht im ersten Stock erlosch. Clay ging zu Bett, wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie jeden Abend. Grace verstand nicht, wie er es ganz allein hier draußen aushielt. Wie konnte er hier essen, schlafen und arbeiten – nur vierzig Schritte entfernt von der Stelle, an der sie ihren Stiefvater verscharrt hatten?

Sie stieg aus ihrem kleinen BMW. Das Warnsignal ertönte, weil sie den Schlüssel im Zündschloss hatte stecken lassen. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, das Grundstück zu betreten. Aber jetzt war sie hier, und sie fühlte sich auch nach all den Jahren noch immer zu diesem Ort hingezogen.

Sie ging die Auffahrt entlang. Der kühle Stoff ihres Baumwollrocks strich über ihre Beine. Es war windstill. Bis auf das Zirpen der Grillen, das Quaken der Frösche und das Knirschen ihrer Sandalen auf dem Kiesweg war nichts zu hören. Sie hatte ganz vergessen, wie ruhig die Nächte in dieser Gegend waren und wie hell die Sterne hier draußen leuchteten, fernab der Stadt.

Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer jüngeren Schwester Molly und ihrer älteren Stiefschwester Madeline auf der Wiese vor dem Haus geschlafen hatte. Das waren ganz besondere Abende. Sie hatten geplaudert, gelacht und gemeinsam in den tiefschwarzen Himmel geschaut, wo die Sterne ihnen zugeblinzelt und versprochen hatten, ihre Wünsche zu erfüllen. Damals waren sie noch so unschuldig: Wenn Madeline da war, kannte Grace keine Angst. Aber sie konnte natürlich nicht die ganze Zeit bei ihr sein. Sie hatte ja keine Ahnung, was damals in Grace vorgegangen war. Und an dem Abend, als es passierte, war sie gar nicht zu Hause.

Obwohl es sehr warm war, lief Grace ein Schauer über den Rücken, als sie die alte Scheune erreichte. Sie lag auf der rechten Seite zwischen den Trauerweiden und Pappeln. Sie hasste dieses alte Gebäude und die Erinnerungen, die es in ihr wachrief. Dort drinnen hatte sie den Stall des Pferdes ausgemistet, das nur ihr Stiefvater reiten durfte. Dort drinnen hatte sie nach Eiern gesucht und sich mit dem verrückten Hahn herumgeschlagen, der immer wieder hochflatterte, um ihr die Augen auszukratzen. Dort drinnen, im vorderen Teil der Scheune, hatte ihr Stiefvater, der Reverend, sich ein kleines Büro eingerichtet, in dem er seine Sonntagspredigten schrieb.

Der Geruch nach feuchter Erde und Magnolien brachte die Erinnerung zurück. Grace brach kalter Schweiß aus. Sie ballte die Fäuste so heftig, dass ihre Fingernägel sich tief in die Haut gruben. Du bist kein kleines Mädchen mehr, sagte sie sich verzweifelt. Es ist vorbei!

Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie musste die Erinnerung an dieses schreckliche kleine Kabuff unbedingt loswerden. Doch sie konnte nicht vergessen.

Das enge Zimmer war bis heute unberührt. Alles war so geblieben, wie er es hinterlassen hatte. Alles schien auf seine Rückkehr zu warten. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, nichts zu verändern. Von Reverend Lee Barker sprachen sie weiterhin in der Gegenwart. Die Leute in der Stadt waren schon misstrauisch genug.

Die Einwohner von Stillwater, einer kleinen Gemeinde im Staat Mississippi, hatten ein gutes Gedächtnis. Würden sie es achtzehn Jahre nach dem Verschwinden des Reverends akzeptieren, wenn Clay das Büro ausräumte?

“Runter von meinem Grundstück, oder ich schieße!”, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme.

Grace wirbelte herum. Ihr gegenüber stand ein über ein Meter neunzig großer, kräftiger Mann, der aussah wie aus Stein gemeißelt. Es war ihr Bruder. Und er zielte mit dem Gewehr auf sie.

Einen kurzen Moment lang wünschte Grace, er würde schießen.

Aber dann musste sie lächeln. Clay war auch früher schon immer wachsam. Er war der große Bruder. Er passte auf alle auf.

“Hey! Erkennst du deine eigene Schwester nicht mehr?”, sagte sie und trat aus dem Schatten.

“Grace?” Der Gewehrlauf senkte sich, und ihr Bruder machte eine unbeholfene Bewegung. Er wollte sie umarmen. Aber obwohl Grace ebenso danach zumute war, ging sie keinen Schritt auf ihn zu. Ihre Beziehung war viel zu … kompliziert.

“Grace! Du bist seit dreizehn Jahren weg! Ich erkenne dich kaum wieder! Du bist wirklich unvorsichtig. Ich hätte dich glatt über den Haufen schießen können”, fügte er grimmig hinzu.

Und wenn schon, dachte sie. Wie schnell es doch gehen könnte. Es bräuchte nur eine einzige Kugel …

“Wirklich?”, murmelt sie stattdessen. “Ich hab dich sofort wiedererkannt.” Vielleicht, weil sie so oft an ihn gedacht hatte. Abgesehen davon hatte er sich wirklich nicht sehr verändert. Sein dichtes Haar war immer noch schwarz – dunkler noch als Grace’ eigene Haare – und fiel ihm widerspenstig in die Stirn. Seine ernsten dunklen Augen, die ihren eigenen so sehr ähnelten, seine ausgeprägten Wangenknochen, seine Muskeln, die seither noch kräftiger geworden waren. Neben ihm fühlte sie sich mit ihren ein Meter fünfundsechzig und den fünfundfünfzig Kilo Gewicht ziemlich klein. Aber abgesehen davon ähnelten sie einander sehr.

“Ich dachte, du schläfst schon”, sagte sie.

“Ich habe dein Auto kommen sehen.”

“Immer auf der Hut.”

Falls er den ironischen Unterton in ihrer Stimme bemerkt haben sollte, reagierte er jedenfalls nicht darauf. Aber er warf einen kurzen Blick auf die alten Bäume, unter denen sich das Grab ihres Stiefvaters befand.

Nach einem peinlichen Moment des Schweigens sagte er: “Das Leben in Jackson scheint dir zu bekommen. Du siehst gut aus.”

Sie war tatsächlich gut zurechtgekommen in der großen Stadt. Jedenfalls bis zu dem Moment, als George E. Dunagan ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Als er das zum dritten Mal tat und sie sich immer noch nicht zu einem Ja entschließen konnte, war ihre Beziehung zerbrochen. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als mit ihm zusammen zu sein. Und weil er das wusste, hatte er ihr nach seinem letzten Antrag zu verstehen gegeben, dass er sie erst wiedersehen wollte, wenn sie eine Therapie hinter sich gebracht hatte. Sie sollte die Probleme lösen, die in ihrer Kindheit begründet lagen.

Sie ging tatsächlich zu einer Therapeutin, doch das brachte nichts. Es gab einfach viel zu viele Themen, über die Grace nicht reden wollte oder konnte – nicht einer Therapeutin und auch nicht George gegenüber. Und obwohl er dann einlenkte und sie wieder anrief, standen Grace’ Probleme weiterhin zwischen ihnen.

Sie hoffte inständig, dass es damit bald vorbei sein würde. Sie hatte sich vorgenommen zu handeln. Entweder würde sie die Vergangenheit besiegen oder die Vergangenheit würde sie besiegen. Der Ausgang war offen, das Ergebnis unsicher, aber sie würde erst dann nach Jackson zurückkehren, wenn sie mit Stillwater ins Reine gekommen war.

“Ich komme ganz gut zurecht.”

“Mom hat erzählt, dass du auf der Uni die Beste deines Jahrgangs warst.”

Das war jetzt sechs Jahre her … Sie lächelte unbestimmt. Es schien ihn zu beeindrucken. Sie selbst war nie sehr lange mit dem zufrieden, was sie erreicht hatte. “Ist schon erstaunlich, was man alles schaffen kann, wenn man sich ganz auf sich selbst konzentriert.”

“Und du hast dir natürlich die tollste Uni ausgesucht”, stellte er fest.

Zwei Tage nach ihrem Abschluss an der Highschool in Stillwater hatte sie ihre Heimatstadt verlassen und als Kellnerin in einem Imbiss in Jackson angefangen. Nebenbei hatte sie zwei Jahre lang jede freie Minuten genutzt, um für ihre Aufnahmeprüfung zu lernen. Als sie dann ein regelrechtes Traumergebnis bei der Prüfung erzielte, schien sich niemand mehr für ihren Notendurchschnitt im Schulabschlusszeugnis zu interessieren. Zunächst studierte sie an der University of Iowa und konnte schließlich einen der begehrten Studienplätze an der Georgetown University ergattern.

Aber warum sollte sie all das hier und jetzt mit ihrem Bruder Clay diskutieren? Sie dachte nicht oft an das College zurück. Damals hatte sie nur drei bis vier Stunden pro Nacht geschlafen. Alle anderen hatten es irgendwie geschafft, das Studium und ihr Privatleben einigermaßen zu vereinbaren, Grace hingegen lernte die ganze Zeit. Sie wollte einen guten Abschluss machen, und dafür musste alles andere zurückstehen.

Sie hatte versucht, ihre Vergangenheit zu bewältigen, indem sie besser war als alle anderen. Aber nachdem sie die Universität hinter sich gelassen und fünf Jahre lang im Büro des Bezirksstaatsanwalts gearbeitet hatte, war ihr klar geworden, dass es einfach nicht möglich war, vor den eigenen Problemen wegzulaufen. Dennoch konnte sie immer noch kein ganz normales Leben führen.

“Ich hatte eben Glück”, sagte sie schlicht.

Er warf einen Blick zum Haus. “Kommst du mit rein?”

Sie vernahm den hoffnungsvollen Unterton in seiner Stimme und warf einen Blick zur Veranda, auf deren Stufen sie früher immer gesessen hatten, wenn ihre Mutter ihnen aus der Bibel vorlas. Reverend Barker hatte darauf bestanden, dass sie sich jeden Abend eine Stunde lang mit der Bibel beschäftigten. Es war sicherlich keine schlechte Erfahrung. Die kleine Grace hatte mit einem...