Schwarzes Wasser - Die Nordsee-Morde (3)

von: Isa Maron

DuMont Buchverlag , 2017

ISBN: 9783832189525 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Schwarzes Wasser - Die Nordsee-Morde (3)


 

1

 

»Jesse?«

Sophie Verster steht am Zaun bei den Eseln, an einem der hinteren Gehege des Kinderbauernhofs. Ihr Atem kondensiert zu kleinen weißen Wölkchen. Suchend wandert ihr Blick die Umgebung ab, streift die Besucher. Heute ist nicht viel los. Der Weg zu den Pfauen liegt verlassen da, und nur weiter vorn zwischen den Hühnern und Enten stehen ein paar Erwachsene mit Kindern.

»Jesse?«

Wo steckt er nur? Immer entfernt er sich von ihr, ohne ihr Bescheid zu sagen. Sie lässt ihr Handy in die Jackentasche gleiten. Schafe, Esel, eine leere Weide mit schiefen Zäunen, gesäumt von einem Wassergraben. Er ist nirgendwo zu sehen.

»Jesse!«, ruft sie jetzt leicht gereizt.

Wieder schaut sie bei den Schafen und dem Gehege am Ende des Weges nach, sucht weiter hinter den Büschen am Spielplatz. Kein Jesse. Mist!

Sie kehrt um und bleibt an einem verwitterten grünen Picknicktisch stehen. Eben war er noch da. Er stand mit dem Päckchen Hühnerfutter in den Händen direkt neben ihr und beobachtete die Esel. Sie hatte nur kurz zum Handy gegriffen und auf die Nachricht einer Freundin geantwortet. Als sie wieder aufsah, war er weg.

Einfach weg.

Sie rennt in Richtung des Eingangs, dorthin, wo die Hühner sind. Vielleicht ist er schon vorgegangen, um sie zu füttern. Aber auch da ist er nicht.

»Jesse!«, ruft sie wieder.

Es hilft nichts. Wenn er sie hören könnte, würde er schon kommen. Der Kleine ist nicht verschlagen. Er gehört nicht zu denen, die andere ärgern oder provozieren.

Wo ist er nur?

»Jesse!« Ihre Stimme klingt schrill. Sie dreht sich einmal um die eigene Achse. Sie rennt wieder zurück, obwohl sie dort schon zwei Mal nachgeschaut hat. Sie kann nicht glauben, dass er plötzlich verschwunden ist.

Jesse ist nicht auf dem Weg zum Eingang und auch nicht im hinteren Bereich. Sie steht an den Außengehegen des Kinderbauernhofs, wo der Weg endet und in einem Knick zum Hinterausgang führt, einem Tor, das abgeschlossen ist. Der Bauernhofgeruch schlägt ihr plötzlich auf den Magen; feuchtes Holz und Schlamm, gemischt mit Hühnerdreck und Eselkacke. Sie läuft zum Zaun, der das Gelände begrenzt und hinter dem die schmale Straße zum Noordhollands Kanaal verläuft. Sie drückt die Klinke des Tors hinunter. Abgeschlossen. Er kann hier unmöglich allein hinausgeschlüpft sein.

Sophie stellt sich auf die Zehenspitzen, beugt sich so weit wie möglich über den Zaun und blickt hilflos die Straße hinunter. Komm schon, Jesse, zeig dich. Links, bei der Mühle, ist er nicht. Rechts, am Eingang des Bauernhofs, auch nicht. Sie lässt sich zurücksinken, umklammert das Gitter und rüttelt daran. Der Zaun ist zu stabil und zu hoch, als dass Jesse darüberklettern könnte. Er muss noch irgendwo hier drin sein. Sie kehrt zur Eselweide zurück.

Die Tiere stehen reglos auf dem kahlen Auslauf. Nur ein kurzer Augenblick ist verstrichen, seitdem Sophie bemerkt hat, dass Jesse nicht mehr neben ihr stand. Mein Gott, sie ist sein Kindermädchen und für ihn verantwortlich. Schon seit Jahren vertraut ihr Ilonka van Dijk Jesse an.

Sophie läuft es kalt den Rücken hinunter, und einen Moment lang dreht sich alles um sie herum in schwindelerregendem Tempo. Sie sieht nur noch lang gezogene Streifen, während sie allein dort steht, in der Totenstille, im Auge des Sturms, bis jemand die Notbremse zieht, alles anhält und ihr ist, als drehe nur sie selbst sich weiter bis zur Übelkeit.

»Jesse!«

Sie kann nicht anders, als ihn wieder und wieder zu rufen. Sophie rennt los, zwischen den Sträuchern hindurch zurück zu dem kleinen, versteckten Spielplatz. Dort muss er sein!

Niemand.

Eine knallblaue Plastikrutsche endet verlassen im Sandkasten. Eine schwarz-weiße Spielzeugkuh ist liegen geblieben. Daneben ein Schild: Spielen ist fein, aber Aufräumen muss sein. Der Deckel der Plastikkiste, in die das Spielzeug gehört, ist geöffnet. Sie rennt darauf zu. Vielleicht versteckt er sich. Vielleicht spielt er ihr doch einen Streich.

Kein Jesse.

Sie rennt an der Wippe vorbei, springt hinter die Bank und schaut noch einmal im Gebüsch nach. Das kann doch nicht sein! Verdammt noch mal, Jesse, wo bist du? Sie überquert den Spielplatz und zwängt sich hektisch durch die Hecke hindurch, zurück zum Weg und zu dem kleinen Platz am Eingang.

»Jesse!«

Das hier ist der kleinste Streichelzoo der Welt. Zwei Esel, ein paar Schafe, ein Dutzend Ziegen. Wie kann er verschwunden sein?

»Mein Kind ist weg!«, ruft Sophie. Väter und Mütter blicken erschrocken in ihre Richtung. »Ein kleiner Junge! Jesse!!«

»Wie sieht er aus?«, fragt ein Vater, der mit zwei kleinen Kindern inmitten der Hühnerschar steht.

»Blaue Jacke, Jeans, blonde Locken, blaue Mütze«, antwortet sie außer Atem.

Kyra Slagter sitzt am Fußende ihres Doppelbetts und starrt die Wand mit den Informationen über Sarina an. Ihr Foto in der Mitte, eine Karte von Texel – wo sie vor vier Jahren spurlos verschwunden ist – mit der Strecke, die sie gelaufen ist, Stichworte aus Zeugenaussagen: Kleidung, Ortsnamen, der Name des Jungen, mit dem sie sich dort offenbar getroffen hat, Kopien der perfide Hoffnung erweckenden Ansichtskarten, die vier Jahre nach dem Absendedatum plötzlich bei ihnen aufgetaucht sind.

Vor gut einem Jahr wollte ihre Mutter sie daran hindern, sich weiterhin so intensiv mit dem Verschwinden ihrer älteren Schwester zu befassen. Sie hatte von ihr verlangt, die Sachen von der Wand zu nehmen, sich auf die Schule zu konzentrieren anstatt auf Sarina, auf Dinge, die sie beeinflussen könne, so sagte sie, anstatt auf solche, die weit außerhalb ihrer Reichweite lägen.

Außerhalb ihrer Reichweite. Ihre eigene Schwester. Das konnte sie nicht hinnehmen.

Diese Phase liegt nun hinter ihnen. Kyra ist inzwischen neunzehn und studiert Kriminalistik an der Hochschule von Amsterdam. Sie hat vieles durchgemacht im letzten Jahr – nicht zuletzt während ihrer verrückten Suche nach dem Mörder ihres Lehrers Marc Gaullier –, das ihre Position gegenüber ihrer Mutter verändert hat.

Sarina lacht sie an. Blondes Haar umrahmt ein mageres Gesicht. Große grünbraune Augen und volle rote Lippen, genau wie ihre. Eine merkwürdige Vorstellung, dass sie jetzt genauso alt ist wie Sarina auf dem Foto. Etwas älter sogar.

Wo bist du hingegangen, Schwester? Was ist mit dir geschehen?

Ihr Handy, das neben ihr auf dem Bett liegt, fängt an zu summen. Sophie. Komisch, dass sie anruft, sonst schreibt sie immer.

»Hallo«, meldet sich Kyra, und sofort sprudelt es aus Sophie heraus.

»Jesse ist weg«, keucht sie außer Atem. »Ich bin mit ihm zum Kinderbauernhof gegangen, und plötzlich war er verschwunden. Könntest du bitte zu ihm nach Hause fahren und nachsehen, ob er da ist? Ich möchte lieber hierbleiben, falls er doch noch auftaucht. Ich kapiere das nicht! Auf einmal war er weg.«

»Bin schon unterwegs«, erwidert Kyra. »Ich nehme den Roller. Hast du Ilonka angerufen?«

»Ich trau mich nicht.«

»Ruf auf jeden Fall die Polizei.«

»Ja. Das sollte ich. Ich –«, Sophies Stimme versagt. »Er kann doch nicht … Ich versteh das nicht.«

»Was hat er an?«

»Eine Jeans, eine blaue Jacke und eine blaue Mütze, so ein leuchtendes Blau.«

Kyra schlüpft in ihre Schuhe und eilt die Treppe hinunter. Rollerschlüssel. Wintermantel, Handschuhe. Schnell.

Sophie kann nicht fassen, dass er weg ist. Die wenigen Besucher des Kinderbauernhofs helfen bei der Suche. Sie hat noch einmal im hinteren Bereich des Geländes nachgeschaut, in den Gehegen der Pfaue und der Hühner, im kleinen Eselstall. Ihr fällt kein Fleckchen mehr ein, an dem sie nicht schon zweimal gewesen wäre. Vielleicht hat sie bei der Ziegenweide nicht richtig nachgesehen, oder er ist doch am Spielplatz. Jetzt steht sie in dem kleinen Haus des Verwalters.

»Könnte er nach Hause gegangen sein?«, fragt eine Mitarbeiterin, eine kleine Frau mit üppigem Busen. Sie trägt ein graues, fleckiges T-Shirt mit einem verwaschenen Mickymaus-Aufdruck und hat die Stirn in Falten gelegt.

»Eine Freundin von mir ist hingefahren und sieht nach, aber er würde nie einfach so nach Hause laufen. Er würde auf jeden Fall Bescheid sagen.«

»Ich rufe die Polizei«, sagt die Frau.

Sophie nickt wie betäubt, dann stürzt sie zur Tür hinaus.

»Ich schau noch mal bei den Ziegen nach!« Sie reißt das Gatter auf, rennt über das Gras, an dem alten Traktor vorbei, zur Hütte mit den Heuballen, die mitten auf dem hintersten Feld steht. Sie keucht. Das kann nicht wahr sein! Der ganze Bauernhof ist umzäunt, für kleine Kinder ist es unmöglich, über den Zaun oder durch ihn hindurch zu kommen. Sie rennt über das Feld. Nichts. Auch nicht hinter dem Zaun. Die Wiese außerhalb des Geländes liegt verlassen da. Wie ist das möglich? Es scheint, als seien ihre Gedanken in einer Endlosschleife gefangen, ein sich ewig wiederholender Refrain.

Sie rennt um die Heuscheune herum zum Misthaufen, wo ein paar Hühner scharren. Dort sucht eine Mutter nach Jesse.

»Nichts«, sagt die Frau. »Tut mir leid.«

Sophie rennt zurück zum Haus des Verwalters.

»Er ist wirklich nirgendwo«, stößt sie hervor. Sophie atmet tief ein, doch der Sauerstoff scheint nicht in ihre Lungen zu dringen. Fünf Jahre Jesse hüten verdichten sich in diesem einen Moment. Er ist zwei, und sie bauen Türme aus Bauklötzen. Er ist fünf, und sie lesen Benjamin Blümchen. Jetzt ist er sieben und findet sich viel zu groß für einen Babysitter. Er kann doch nicht plötzlich weg sein?

»Setzen Sie sich doch mal hin«, sagt die Frau mit dem...