Die Stunde der Schuld - Roman

von: Nora Roberts

Blanvalet, 2017

ISBN: 9783641201685 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Stunde der Schuld - Roman


 

1

29. August 1998

Sie hätte nicht sagen können, was sie geweckt hatte, und ganz gleich, wie oft sie die Nacht in Gedanken wieder durchlebte, ganz gleich, wohin der Albtraum sie jedes Mal jagte, sie kam nie dahinter.

Der Sommer verwandelte die Luft in nassen, brodelnden Eintopf: einen Eintopf, der nach Schweiß und aufgeweichtem Grünzeug roch. Der summende Ventilator auf ihrer Kommode rührte lediglich darin herum, trotzdem war es, als schliefe man in dem Dampf, der aus dem Topf aufstieg.

Aber sie war daran gewöhnt, auf sommerfeuchter Bettwäsche zu liegen, bei weit geöffneten Fenstern, durch die das unermüdliche Zirpen der Grillen drang – in der schwachen Hoffnung, dass eine leichte Brise durch die Jalousien wehen würde.

Es war nicht die Hitze, die sie weckte, auch nicht das leise Donnergrollen des Gewitters, das sich in der Ferne zusammenbraute. Naomi war mit einem Mal hellwach, als hätte jemand sie geschüttelt oder ihr ins Ohr geschrien.

Sie setzte sich auf, blinzelte in die Dunkelheit und hörte trotzdem nichts außer dem Surren des Ventilators, dem hohen Gesang der Zikaden und dem trägen, wiederholten Schu-hu einer Eule: alles ländliche Sommergeräusche, die sie so gut kannte wie ihre eigene Stimme. Kein Grund also für dieses bange Gefühl, das ihr auf einmal die Kehle zuschnürte.

Wach spürte sie plötzlich die Hitze, wie in heißes Wasser getauchte Gaze legte sie sich um jeden Körperteil. Sie wünschte sich, es wäre bereits Morgen und sie könnte sich hinausschleichen und sich im Fluss abkühlen, bevor die anderen wach würden.

Aber zuerst die Pflicht, so lautete die Regel. Nur war es so heiß, dass sie das Gefühl hatte, die Luft wie einen Vorhang auseinanderziehen zu müssen, um überhaupt einen Schritt vor den anderen setzen zu können. Und es war Samstag (oder würde es alsbald sein), und manchmal lockerte Mama an Samstagen die Regeln ein bisschen – sofern Daddy gute Laune hatte.

Auf einmal grollte der Donner. Entzückt sprang sie aus dem Bett und stürzte ans Fenster. Sie liebte Gewitter. Wie sich die Bäume im auffrischenden Wind bewegten, wie der Himmel dunkel und unheimlich wurde, wie die Blitze zuckten und leuchteten.

Vielleicht würde dieses Gewitter ja Regen, Wind und kühlere Luft bringen. Vielleicht …

Sie stützte die Arme auf das Fensterbrett und richtete den Blick fest auf die Mondsichel, die dunstig durch die Hitze und die Wolken schimmerte.

Vielleicht …

Sie wünschte es sich so sehr – ein Mädchen, das in zwei Tagen zwölf würde, aber immer noch an Wünsche glaubte. Ein schweres Gewitter, dachte sie, mit Blitzen und Donner wie Kanonengrollen.

Und einer Unmenge Regen.

Sie schloss die Augen, hob ihr Gesicht und versuchte, die Luft zu riechen. Dann stützte sie das Kinn auf und musterte die Schatten.

Wieder wünschte sie sich, es wäre bereits Morgen, und da Wünsche nichts kosteten, wünschte sie sich auch gleich, es wäre schon der Morgen ihres Geburtstags. Sie wünschte sich so sehr ein neues Fahrrad. Sie hatte diesbezüglich unzählige Andeutungen fallen gelassen.

Sie stand eine Weile da, in ihrem Sabrina-total-verhext-T-Shirt, ein großes, schlaksiges Mädchen, dem – obwohl sie es täglich überprüfte – immer noch keine Brüste wuchsen. In der Hitze klebten ihr die Haare im Nacken. Sie schob sie über die Schulter. Am liebsten hätte sie sie kurz geschnitten – so richtig kurz, wie diesen Pixie-Schnitt in ihrem Märchenbuch, das die Großeltern ihr geschenkt hatten, bevor sie einander nicht mehr hatten treffen dürfen.

Aber Daddy fand nun mal, Mädchen müssten lange Haare haben und Jungen kurze. Deshalb wurden ihrem kleinen Bruder in Vick’s Barbershop in der Stadt auch regelmäßig die Haare geschnitten, während sie selbst ihr Haar nur zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden durfte.

Andererseits wurde Mason ihrer Meinung nach ohnehin maßlos verwöhnt, weil er eben ein Junge war. Er hatte einen Basketballkorb mit Korbbrett und einen offiziellen Wilson-Basketball zum Geburtstag bekommen. Und er durfte in der Little League Baseball spielen, was nach Daddys Regeln ebenfalls nur Jungen vorbehalten war (und das rieb Mason ihr auch ständig unter die Nase), und da er dreiundzwanzig Monate jünger war (das wiederum rieb sie ihm immer unter die Nase), hatte er auch nicht so viele Pflichten.

Es war nicht fair, aber wenn sie das laut sagte, bekam sie nur umso mehr Pflichten auferlegt und riskierte ein Fernsehverbot.

Aber all das war ihr egal – solange sie nur ein neues Fahrrad bekäme!

Es blitzte leicht auf – nur ein schwaches Schimmern tief am Himmel. Es würde kommen, sagte sie sich. Das Wunschgewitter würde kommen und Kühle und Nässe mit sich bringen. Wenn es in Strömen regnete, würde sie im Garten kein Unkraut jäten müssen.

Die Vorstellung begeisterte sie so sehr, dass sie beinahe das nächste Aufblitzen verpasst hätte. Allerdings war es diesmal kein Blitz. Es war der Strahl einer Taschenlampe.

Ihr erster Gedanke war, dass jemand hier herumstrolchte und womöglich sogar versuchen wollte einzubrechen. Sie war schon drauf und dran, zu ihrem Vater zu rennen.

Doch dann sah sie, dass es ihr Vater war. Er bewegte sich vom Haus weg in Richtung Waldrand, schnell und zielsicher im Schein der Taschenlampe.

Vielleicht lief er gerade zum Fluss, um sich dort abzukühlen? Würde er böse werden, wenn sie jetzt auch dort hinginge? Wenn er gute Laune hätte, würde er lachen.

Sie überlegte nicht lange, griff zu ihren Flip-Flops, steckte ihre kleine Taschenlampe ein und huschte aus dem Zimmer.

Sie wusste genau, welche Stufen knarrten – das wussten alle –, und vermied sie schon aus alter Gewohnheit. Daddy mochte es nicht, wenn sie oder Mason nach dem Schlafengehen noch mal runterliefen, um etwas zu trinken.

Erst an der Hintertür schlüpfte sie in ihre Flip-Flops, dann zog sie die Tür gerade so weit auf, dass sie nicht quietschte, und schlich hinaus.

Eine Minute lang befürchtete sie, sie hätte den Lichtstrahl aus den Augen verloren, aber dann sah sie ihn wieder und lief ihm nach. Sie würde sich so lange nicht zeigen, bis sie die Laune ihres Vaters abschätzen könnte.

Er entfernte sich vom flachen Band des Flusses und bewegte sich tiefer in den Wald hinein.

Wohin war er unterwegs? Neugier trieb sie an und die Aufregung, mitten in der Nacht durch den Wald zu laufen. Das Donnergrollen und die zuckenden Blitze trugen zu dem Abenteuer bei.

Sie hatte keine Angst, auch wenn sie sonst nie so tief in den Wald vordrang, weil es ihr verboten worden war. Würde sie dabei ertappt, würde ihre Mutter ihr das Fell gerben, also ließ sie sich besser nicht erwischen.

Ihr Vater bewegte sich schnell und mit sicheren Schritten. Offensichtlich wusste er genau, wohin er ging. Sie hörte das Rascheln des trockenen Laubs unter seinen Stiefeln und blieb ein ganzes Stück zurück, damit er sie nur ja nicht hörte.

Ein lautes Kreischen ließ sie zusammenzucken. Sie schlug die Hand vor den Mund, um ihr Kichern zu unterdrücken. Nur eine Eule auf nächtlicher Jagd.

Wolken verdeckten den Mond. Sie wäre beinahe gestolpert, als sie mit dem nackten Zeh gegen einen Stein stieß, und wieder schlug sie die Hand vor den Mund, diesmal jedoch, um einen leisen Schmerzensschrei zu ersticken.

Als ihr Vater stehen blieb, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie stand stocksteif da, wie eine Statue, und traute sich kaum zu atmen. Zum ersten Mal fragte sie sich, was sie tun sollte, wenn er sich jetzt umdrehte und auf sie zukäme. Rennen könnte sie nicht, dachte sie, das würde er ganz sicher hören. Vielleicht könnte sie ins Gebüsch kriechen und sich dort verstecken? Und einfach hoffen, dass dort keine Schlangen schliefen?

Als er weiterlief, blieb sie noch einen Augenblick lang stehen. Womöglich sollte sie besser nach Hause gehen, bevor sie ernsthafte Schwierigkeiten bekäme. Doch das Licht wirkte auf sie wie ein Magnet und zog sie geradezu magisch an.

Einen Moment lang schwankte es auf und ab. Sie hörte ein Knacken und Kratzen, und irgendwas quietschte – wie die Hintertür ihres Hauses.

Und plötzlich war das Licht verschwunden.

Sie stand inmitten des dunklen Waldes, atmete flach, und trotz der heißen, schweren Luft kroch Kälte über ihre Haut. Sie machte einen Schritt zurück, dann noch einen, und mit einem Mal verspürte sie den unbändigen Drang davonzulaufen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, sie konnte kaum noch schlucken. Die Dunkelheit schien sich um sie zu legen – und zwar viel zu eng.

Lauf nach Hause, lauf! Leg dich wieder ins Bett, und mach die Augen zu!

Die Stimme in ihrem Kopf überschlug sich regelrecht. Sie war schrill wie das Zirpen der Zikaden.

»Angsthase«, murmelte sie vor sich hin und schlang die Arme um den Oberkörper. »Sei doch kein Angsthase!«

Sie schlich vorwärts, musste sich den Weg beinahe ertasten. Die Wolken zogen über sie hinweg, und fahles Mondlicht fiel auf eine verfallene Hütte.

Als hätte es hier mal gebrannt, dachte sie, sodass nur die Grundmauern und ein alter Schornstein stehen geblieben waren.

Der kurze Moment der Angst war verflogen, sobald sie fasziniert beobachtete, wie das bleiche Mondlicht über die rußschwarzen Steine und die verkohlten Balken glitt.

Wieder wünschte sie sich, es wäre schon Morgen. Da hätte sie sich genauer umsehen können. Wenn sie sich tagsüber hier herschleichen würde, könnte dies ihr Ort...