Der Hirte - Thriller

von: Ingar Johnsrud

Blanvalet, 2017

ISBN: 9783641186852 , 528 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Der Hirte - Thriller


 

4

Hätte er schätzen müssen, hätte er auf fünfundvierzig getippt, auch wenn er wusste, dass sie älter war. Schon über fünfzig. Ihr Alter war ein Grund, warum sie nur stellvertretende Vorsitzende geworden war. Die dunklen Haare waren im Nacken hochgesteckt, und sie trug ein schmal geschnittenes graues Kostüm. Um ihren Hals hing ein kleines Silberkreuz.

»Ich habe Annette seit einem halben Jahr weder gesehen noch gesprochen«, erklärte sie.

Ihre Stimme klang jetzt tiefer als zuvor. Offenbar wollte Wetre den Eindruck erwecken, dass sie Herrin ihrer Gefühle war. Kein ungewöhnlicher Zug bei Personen, die es gewohnt waren, dass andere zu ihnen aufsahen. Schwäche galt ihnen als unverzeihlich. Am meisten die eigene.

»In aller Regel verzweifeln Eltern doch daran, dass ihre Kinder rebellieren. Dass sie sich betrinken, mit Drogen experimentieren, Sex haben, was weiß ich? So war es bei uns nie. Meine Tochter ist wütend auf mich, weil sie der Ansicht ist, ich wäre zu liberal. Und ich bin wütend auf sie, weil sie mit meinem Enkelkind abgetaucht ist. Und weil sie ein erzkonservatives Weibsstück ist.« Wetre verzog das Gesicht, ehe sie fortfuhr: »Für Annette …«

Der Stuhl knarzte, als sie sich zurücklehnte und den Blick starr zur Decke richtete, als würden die Worte, nach denen sie suchte, irgendwo dort oben unter dem Stuck stehen.

»Annette lebt ausschließlich für Gott.«

Wetres Haar war glatt und gepflegt, jedes einzelne lag akkurat an seinem Platz. Ständig wanderte ihre Hand nach oben, um jegliche Widerspenstigkeit im Keim zu ersticken.

Es hatte schon im Teenageralter begonnen. Annette hatte sich geweigert, mit ihnen in die Kirche zu gehen, weil sie die dortige Pfarrerin verabscheut hatte. Homophile Pfarrer im Allgemeinen. Jede Abweichung von der Liturgie. Die Kirche spotte ihrem eigenen Gott, war ihre Ansicht gewesen.

Wetre lachte kurz und schüttelte den Kopf. Die feinen Fältchen um ihre Augen schienen ein wenig deutlicher hervorzutreten, als es die Kameras für gewöhnlich preisgaben. Trotzdem war die Politikerin ihrem Alter Ego aus dem Fernsehen verblüffend ähnlich, wie er fand. Das diskrete Make-up war perfekt aufgetragen, der rote Mund strahlte Glaubwürdigkeit und Wärme aus. Und noch etwas stellte er zögernd fest: Der Farbton ihres Lippenstifts war gerade so dunkel, dass er sinnlich wirkte. Dezent elegant. Das war kein Lippenstift, das war eine Hinwendung an Kopf, Herz und den Schwanz.

Wahrhaftig einer Politikerin würdig.

»Trotzdem hatten wir einen gewissen Respekt voreinander. Erst als sie ein Teil von Gottes Licht wurde – dieser Glaubensgemeinschaft, wie Sie es nennen –, änderte sich auch das.«

Ein rothaariger Schwede servierte ihnen Kaffee. Wetre wartete, bis er ihren Tisch wieder verlassen hatte.

Vor sieben Jahren hatte Annette angefangen, Gottesdienste von Gottes Licht zu besuchen, einem Ableger der Filadelfia-Gemeinde. Sie hatte ihre Ausbildung zur Laborantin nur wenige Monate, bevor sie ihre letzte Prüfung hätte ablegen sollen, abgebrochen.

»So verflucht dumm«, sagte die Politikerin und atmete schwer aus.

Dann hatte Annette ihre Wohnung auf dem Sankthanshaugen verkauft, die ihre Eltern ihr geschenkt hatten, und war auf das Gelände der Gemeinde gezogen. Dort hatte sie Per Olav kennengelernt, Williams Vater. Kirchlich hatten sie nicht heiraten wollen. Stattdessen hatten sie sich für irgendeine Art Zeremonie entschieden.

»Wir waren nicht mal eingeladen.« Wetre blinzelte und rieb sich mit den schlanken Zeigefingern über die Unterlider. »Das Ganze musste wohl sehr schnell gehen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Annette mit jemandem ins Bett gegangen wäre, ehe das Verhältnis … gesegnet worden war. Sie verstehen schon, so ein Mädchen ist sie nicht.«

»Es wirkt nicht so, nein.«

»Das Glück war nicht von langer Dauer. Per Olav starb, als William gerade auf die Welt gekommen war. Irgendeine Infektion … Im Krankenhaus konnten sie nicht allzu viel dazu sagen. Die Lotterie des Lebens. Oder Gottes Wille – das kommt wohl darauf an, wen Sie fragen«, sagte Wetre nachdenklich.

Andreas sah von seinem Notizblock auf. »Wo befindet sich diese Glaubensgemeinschaft?«

»Im Maridalen. Auf einem Hof, den sie Solro nennen. Mein Mann und ich dürfen sie dort nicht besuchen. Niemand dürfe sie besuchen, sagt Annette. Irgendeine paranoide Überzeugung, die sie dort haben.«

Wetre spreizte die Finger. Musterte ihre perfekt rot lackierten Nägel.

Allerdings hatte Annette ihre Eltern besucht. Nicht oft, aber doch ab und zu. Womöglich waren es die Tränen der Mutter gewesen, die sie angerührt hatten, jedes Mal, wenn die ihr Enkelkind sah. Vielleicht war es auch ein Anflug von schlechtem Gewissen, das gute Leben einfach aufgegeben zu haben, das die Eltern ihr ermöglicht hatten. Doch mittlerweile war ein halbes Jahr vergangen. Ein halbes Jahr ohne ein einziges Wort.

»Ich hatte an einer Radiodebatte teilgenommen, über junge Schwangere und Abtreibung. Ich bin gegen Abtreibung. Man findet nicht viele in meiner Partei, die dafür sind. Aber ich bin andererseits auch der Meinung, dass es Situationen gibt, in denen eine Abtreibung als Alternative ermöglicht werden sollte. Das hat Annette offenbar gehört. Sie hatte einen Wutausbruch und schrie mich an, ob ich gewollt hätte, dass sie William abgetrieben hätte …« Wetre verdrehte die Augen. »Als hätte das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun. Sie war der Ansicht, ich würde mich über die Schöpfung erheben. Ich hätte mit Gott gebrochen. Seither haben wir keinen Kontakt mehr.« Sie senkte den Blick. »In den vergangenen Monaten habe ich sie täglich angerufen. Mein Mann und ich haben unzählige Nachrichten geschickt, wir haben regelrecht um ein Lebenszeichen gebettelt. Zweimal sind wir auf dem Hof gewesen, aber dort wurden wir schroff abgewiesen. Sie haben Männer unten am Zufahrtsweg postiert, Wachleute.« Sie begegnete Fredriks Blick. »Bei einer Glaubensgemeinschaft …«

Draußen schlüpfte Fredrik unter Wetres schwarzen Regenschirm. Sie schlenderten am Umweltministerium in der Nedre Slottsgate vorbei. Um sie herum fiel Sommerregen. Andreas war mit dem Auto zurück zur Dienststelle gefahren.

»Was wissen Sie über diese Glaubensgemeinschaft? Über Gottes Licht?«, fragte Fredrik.

»Erinnern Sie sich noch an Bjørn Alfsen junior?«

Er schüttelte den Kopf.

»Bjørn Alfsen hat seine Eltern und den großen Bruder bei einem Autounfall verloren. Als Alleinerbe des Familienkonzerns Alfsen Skogindustrier war er mit einem Mal Hunderte Millionen schwer. Hätte er seine Karten clever ausgespielt, wäre er noch heute einer der reichsten Männer Norwegens. Aber Mitte der Siebziger, kurz nach dem Tod seines Großvaters, verkaufte er alles, und im Laufe weniger Jahre hatte er das gesamte Familienvermögen verjubelt. Partys, fehlgeschlagene Investitionen – riesige Summen verschwanden in einer Diamantengrube in Südafrika. Er kooperierte mit dem Apartheid-Regime, wurde dann von ein paar dortigen Geschäftsleuten über den Tisch gezogen. Die frühen Achtziger hat er quasi im Gerichtssaal verbracht – Konkurse, wütende Geschäftspartner«, erläuterte Wetre.

Der Fluch des Geldes, dachte Fredrik. Die erste Generation verdient ein Vermögen, die zweite Generation verwaltet es, und die dritte verprasst es. Nicht allzu verwunderlich im Grunde. Etwas wertzuschätzen, wofür man nie hatte kämpfen müssen, musste unendlich schwer sein.

»Über Jahre war er verschwunden. Mitte der Neunziger tauchte er urplötzlich wieder auf: als einflussreicher Sponsor der Pfingstgemeinde«, sagte sie.

»Da war er also wieder reich?«

»Ich weiß nicht … Solche Millionärskinder haben wohl immer irgendwo noch ein paar Kronen versteckt. In Wertefragen war er allerdings überaus konservativ geworden. Fing an, eine Reihe von Forderungen an die Gemeinden zu stellen, die er unterstützte – Forderungen, denen nicht alle nachkommen wollten. Es kam zum großen Bruch, er kehrte ihnen den Rücken und gründete seine eigene Sekte.«

»Gottes Licht«, murmelte Fredrik.

»Er nennt sich sogar Pastor.«

Fredrik sah an den Fassaden der Fachwerkhäuser am Christiania torv hinauf. Hier standen einige der ältesten Bauwerke der Stadt. Sie waren von Leuten mit viel Geld errichtet worden. Heute wusste niemand mehr, wer sie gewesen waren.

Der Asphalt vibrierte unter ihren Füßen, als eine Straßenbahn schwerfällig an ihnen vorbeiratterte.

»Ich erinnere mich noch an Gottes Licht – es muss jetzt elf, zwölf Jahre her sein, als sie massiv auf die Straße gingen, oder nicht?«

»Stimmt genau. Gegen eine Gesellschaft, die sich angeblich im moralischen Verfall befand«, sagte Wetre. »Damals demonstrierten sie gegen den Bau von Moscheen. Sie demonstrierten vor Krankenhäusern, in denen Abtreibungen vorgenommen wurden. Sie tauchten bei gleichgeschlechtlichen Hochzeiten auf, machten Radau, auch vor Kirchengemeinden mit Pfarrerinnen. Gott werde uns bestrafen, sagten sie, und dass das Jüngste Gericht bevorstehe … Irgendwann beruhigte es sich wieder, und sie verschwanden von der Bildfläche. Ich dachte damals ehrlich gesagt, die Sekte hätte sich aufgelöst.«

Vor dem Parlament, in dem Kari Lise Wetre einen Großteil ihres Erwachsenenlebens verbracht hatte, blieben sie stehen, um sich voneinander zu verabschieden. Sie war immer schon eine Person des öffentlichen Lebens gewesen. Er fragte sich, wie es wohl sein mochte, eine Mutter zu haben, die das ganze Land kannte. War dies der Grund für Annettes Verschwinden? Die...