Stiefelschritt und süßes Leben - Ein Intermezzo

von: Klaus Müller

mdv Mitteldeutscher Verlag, 2017

ISBN: 9783954628414 , 288 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 13,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Stiefelschritt und süßes Leben - Ein Intermezzo


 

ZWEITES KAPITEL: „BEI KÜNSTLERS“


(November 1965 bis Januar 1968)

„Secundogenitur“


Gleich in den ersten Tagen meiner wiedergewonnenen Freiheit zwang mich die Erschöpfung meiner Liquidität wieder zur feuerroten Helga in die „Kaskade“. Die Genossin Gerster tat sehr erfreut, mich wiederzusehen. Sie meinte, ich könne sofort in der neueröffneten Tanzbar „Secundogenitur“ anfangen, wenn ich mich in den laufenden Qualifizierungskursus an der Betriebsakademie der HO-G einklinken würde, um dort den Facharbeiterbrief „Kellner“ zu erwerben. Die zwei Monate, die der Kursus schon laufe, nachzuholen, würde mir doch bei meiner Intelligenz nicht schwerfallen, so schmeichelte Helga mit ihrem undefinierbaren Blick aus den grünblauen Augen unter dem feuerroten Wuschelkopf.

Ich akzeptierte und begann am nächsten Tag meinen Kellnerjob in der Tanzbar „Secundogarnitur“. Es waren jene Räume, die heute das noble Wiener Kaffeehaus gleichen Namens auf der Brühlschen Terrasse beherbergen.

Die „Secundogenitur“ war ursprünglich dazu gedacht, den Zweitgeborenen (daher der Name) der sächsischen Kurfürsten aus dem Hause Wettin eine standesgemäße Bleibe zu bieten. Das Gebäude an der Brühlschen Terrasse war beim großen Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 nicht völlig zerstört worden, so dass es gelang, es, ähnlich anderen Dresdner Repräsentationsbauten, mit den bescheidenen Mitteln der DDR-Bauwirtschaft vor dem völligen Verfall zu bewahren.

In einem historisch vergleichbar bedeutenden Gebäude residierte die Betriebsakademie der HO-Gaststätten Dresden, die ich an meinem ersten Ruhetag aufsuchte. Diese Einrichtung, die innerbetriebliche Qualifizierungen auf Facharbeiterniveau durchführte, befand sich in der Goetheallee, Ecke Lothringer Weg, in der Nähe der „Kaskade“, deren bevorzugte Lage schon beschrieben worden ist. Es war jenes „Judenhaus“ von 1943, das Victor Klemperer in seinem beeindruckenden Erinnerungswerk namhaft gemacht hat. Dabei handelte es sich um eine repräsentative Villa mit einem geradezu einschüchternden Treppenhaus und herrschaftlichen Räumen, in denen nun die Schulungen durchgeführt wurden.

Es hatte natürlich sein Gutes, dass die DDR-Führung ständig bemüht war, ihre „herrschende Klasse“, die Arbeiter und Bauern, zu qualifizieren, weil stets Mangel herrschte und aus Wenigem etwas gemacht werden musste.

Heute ist das umgekehrt: Wenige produzieren Überfluss, der von den Massen konsumiert werden soll. Damit diese Konsumentenmassen nicht die Grundfrage stellen: Wozu das ganze überflüssige, teure und hässliche Zeug, das uns die Herrschaft über die Zeit, unsere Zeit, raubt, müssen sie möglichst dumm sein.

Dem Qualifizierungswahn der DDR-Führung verdanke ich grundlegende Kenntnisse der Lebens- und Genussmittelkunde. Besonders beeindruckend waren die Unterweisungen von Herrn Albrecht aus Hamburg, der von seiner Lehrzeit im Alsterpavillon und seiner Kellnerzeit in Frankreich und an der Riviera erzählte. Herr Albrecht bläute uns noch das alte deutsche Weingesetz ein: Rheinwein in brauner Schlegelflasche zu 0,7 Liter, Moselwein in grüner Schlegelflasche, Frankenwein im Bocksbeutel; farblose Flaschen sind nur für billigen Schnaps oder für Haushaltchemikalien gedacht – alles graue Vorzeit. Und weiterhin: Biergläser werden nur in klarem Wasser gespült, wenn überhaupt, denn wenn Franz sein Glas über die Theke zum Nachfüllen reicht, wird, um der stehenden Blume willen, überhaupt nicht gespült! Alles vergessen!

Es wurde natürlich auch Speisenkunde gelehrt. Hier stand noch immer der Nährwert im Mittelpunkt der Belehrungen. Die Kundenkarten waren gerade erst wieder abgeschafft worden, hochwertige Nahrungsmittel hingegen blieben nach wie vor knapp. Neben den gastronomischen Fachfächern wurde auch Betriebs- und Volkswirtschaft, die damals aber „Politökonomie“ hieß, aus planwirtschaftlicher Sicht gelehrt. Ergo, eine solide, berufliche Ausbildung wurde vermittelt.

Ich war erst wenige Tage in der Tanzbar „Secundogenitur“ tätig, als am Abend auf dem Veranstaltungsplan der Empfang einer 15-köpfigen DKP-Delegation aus dem Westen angekündigt wurde, die in einem Extraraum, dem „Coselzimmer“, empfangen und beköstigt werden sollte. Nach dem Revierplan war das meine Aufgabe. Ich machte mich schon ans Tische- und Stühlerücken, um eine Tafel zu stellen, als der Oberkellner an mich herantrat und fragte: „Was hast du denn bei der Armee ausgefressen? Ich habe gerade vom Direktor die Anweisung erhalten, dich nicht bei der Bedienung von Gästen aus dem kapitalistischen Ausland einzusetzen. Das ist in deinen Kaderakten ganz dicke vermerkt!“

Vor dem offenen Durchgang zu jenem „Coselzimmer“ schnappte ich dann doch so manchen Gesprächsfetzen auf, den die SED-Betreuer der DKP-Delegation zum Besten gaben. Man hatte wohl gerade über den Mauerbau debattiert; eine SED-Funktionärin erläuterte nämlich unter dem beifälligen Nicken der DKP-Genossen, dass man, wenn man in einer kapitalistischen Nachbarschaft den Sozialismus aufbauen wolle, nicht zulassen dürfe, dass der Gegner die Arbeitskräfte abwirbt. Um den Weggang tüchtiger Arbeiter und bürgerlicher Leistungsträger nach dem Westen zu unterbinden – dieser Abwanderungsstrom drohte die DDR zu destabilisieren – habe schließlich der „Antifaschistische Schutzwall“ errichtet werden müssen.

Das war allgemein bekannt. Ich hatte diesen Zynismus nur noch nicht öffentlich von SED-Bonzen gehört; stellte das nicht die Frage nach der Existenzberechtigung von DDR und SED überhaupt?! Wie tief mussten die ideologische Verblendung und der Hass der DKPler sein, dass keiner aufheulte und dieser menschenfeindlichen These widersprach.

Fast eine Familie


Der Silvestertag des Jahres 1965 fiel auf einen Ruhetag der „Secundogenitur“. Betriebswirtschaftliches Unvermögen und Starrheit der HO-Direktion ließen mich diesen Jahreswechsel im Kreise Harrys, der damals zufällig in der „Secundogenitur“ mit seinem Schlagzeug Krach machte, und einiger Künstlerinnen privat verbringen. Es sollte der Auftakt einer langjährigen und sehr schönen Liaison werden.

Eine der Künstlerinnen, die schon nahe dem Alter war, das Sigmund Freud als das für die Liebesfähigkeit des Weibes optimale bezeichnete („Mit vierzig werden sie würzig“, sagt der Volksmund), beschäftigte mich am meisten. Wen wundert’s, dass der Neujahrskuss schon ein recht weitgehender war und dass ich in der folgenden Zeit oft bei der Künstlerin zu Gast, ja eigentlich schon bei ihr eingezogen war. Die Künstlerin sang einen „lyrischen Sopran“ und brillierte einst als Zerline in Mozarts Oper „Don Giovanni“. So will ich sie, der Diskretion halber, fürderhin auch nennen. Zerline wohnte, besser, residierte in einer Belle-etage-Wohnung an der Elbe, die zwar noch mit Kohle beheizt wurde, doch dies, Spitze der damaligen Wohnkultur, von einer einzigen, zentralen Stelle aus. Etagenheizung, sagt man heute dazu. Zu den gehobenen Lebens- und Umgangsformen kam noch die herrschaftliche Lage ihrer Bleibe.

Zerline hatte eine neunjährige Tochter, die mich aber nicht mit Eifersucht betrachtete, was in solcher Situation oft der Fall ist, sondern als Bereicherung des Familienlebens ansah, ich war ihr oft bei den Hausaufgaben behilflich und schmierte ihr morgens die „Schulbemmen“. Ich war voll in eine Familie aufgenommen, ohne die eigentlichen Pflichten eines Familienvaters inne zu haben. Offiziell wohnte ich noch in meiner elterlichen Wohnung, in jenem Elf-Quadratmeter-Zimmer, das mir von meiner Großmutter vererbt worden war.

Da Zerline ihr festes Bühnenengagement aufgegeben hatte und nun als freischaffende Konzertsängerin tätig war, besaß sie mehr freie Zeit als ich. Anders als der ehemalige Dreher Philipp bei „Madix“ übte ich meinen knochenharten Brotberuf weiter aus. Wenn ich Zeit fand, war ich natürlich bei Zerlines Auftritten dabei, wobei es anschließend, nach der Veranstaltung, noch oft in Künstlerkreisen zu lebhaften Feiern kam.

In den sechziger Jahren war es in der DDR kaum üblich, dass gesetzte Damen der Traurigkeit ihrer Ehen oder ihrem Alleinsein dadurch entflohen, dass sie sich mit jungen Liebhabern trösteten. Wie eine Vorkämpferin der Emanzipation führte mich Zerline, nicht ohne Stolz, in ihre Künstlerkreise ein. Zerline war geschieden, und ihr ehemaliger Gatte, der alte Beinlich, oft Gegenstand ihrer Rede, war auch der Vater ihrer Tochter.

Dann trat er plötzlich in Erscheinung, wollte seine Tochter besuchen und fand mich als den neuen Mann im Leben seiner Geschiedenen. Er war ein großer Mann, der mich noch um einige Zentimeter überragte, 55 Jahre alt, schielte stark und war leger gekleidet. Bald tauschten wir uns über unsere Lebensumstände aus. Ich erfuhr, dass er bei der Heeresgruppe Süd in einer Propagandaeinheit den Kaukasusfeldzug mitgemacht hatte und von daher noch über fundierte Kenntnisse der illegalen Schnapsproduktion verfügte. Nach dem Krieg, immerhin schon Mitte 30, vervollkommnete er sein Klavierspiel, wurde Klavierlehrer, Musikkritiker und begleitete nun einen berühmten Agitprop-Sänger (mit israelischem Pass, wenngleich in der DDR wohnend) als Pianist zu dessen Tourneen durch Westdeutschland.

Der alte Beinlich war demnach einer der wenigen DDR-Bürger, die in der finstersten Zeit...