Das Original

von: John Grisham

Heyne, 2017

ISBN: 9783641219482 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Original


 

4.

Drei Wochen später war er wieder da, diesmal jedoch nicht als Professor Manchin. Glatt rasiert, die Haare rötlich blond gefärbt, trug er eine Fensterglasbrille mit rotem Gestell und hatte einen gefälschten Studentenausweis mit passendem Foto bei sich. Falls ihn jemand ansprach, womit er nicht rechnete, würde er behaupten, er sei Gaststudent aus Iowa. Im echten Leben hieß der Mann Mark. Von Beruf – falls man das so bezeichnen durfte – war er professioneller Dieb, spezialisiert auf sorgfältig geplante Überfälle zur Erbeutung teurer Kunstgegenstände und Raritäten, die den verzweifelten Opfern hinterher zurückverkauft werden konnten. Er gehörte zu einer Fünfergang, die von Denny angeführt wurde, einem ehemaligen Elitesoldaten, der die Verbrecherlaufbahn eingeschlagen hatte, nachdem er aus dem Militär geflogen war. Bislang war Denny nie erwischt worden und hatte keine Vorstrafen, ebenso wie Mark. Bei zwei ihrer Komplizen sah das anders aus: Trey war zweimal verurteilt worden und zweimal aus der Haft geflohen, zuletzt aus einem Bundesgefängnis in Ohio. Dort hatte er Jerry kennengelernt, einen Gelegenheitsdieb, der ebenfalls in Kunst machte und zurzeit auf Bewährung frei war. Von einem Langzeithäftling, der wegen Kunstraubs einsaß und mit dem er sich eine Zelle geteilt hatte, wusste er von den Fitzgerald-Schriften.

Die Voraussetzungen für den Coup waren perfekt. Es gab insgesamt nur fünf Originalmanuskripte, alle von Hand geschrieben, alle an einem Ort aufbewahrt. Und für Princeton waren sie Gold wert.

Das fünfte Gangmitglied bevorzugte es, von zu Hause aus zu arbeiten. Ahmed war Computergenie, Meisterfälscher und Schöpfer von Scheinwelten, allerdings fehlte ihm der Mut, eine Waffe zu tragen. Er arbeitete von seinem Keller in Buffalo aus und war noch nie ertappt oder verhaftet worden, weil er keine Spuren hinterließ. Fünf Prozent der Beute würden an ihn gehen, den Rest würden die anderen unter sich aufteilen.

An einem Dienstagabend um einundzwanzig Uhr befanden sich Denny, Mark und Jerry als Studenten getarnt in der Firestone Library, den Blick auf ihre Armbanduhren gerichtet. Ihre gefälschten Studentenausweise hatten sich bewährt und bei niemandem auch nur den leisesten Verdacht geweckt. Denny fand ein Versteck in einem Damen-WC im zweiten Stock, wo er über der Toilette ein Deckenpaneel hochdrückte. Er warf seinen Rucksack in das Loch, kletterte hinterher und machte es sich für ein paar Stunden in der stickigen Enge bequem. Unterdessen öffnete Mark mithilfe eines Dietrichs die Tür zum zentralen Versorgungsraum im Erdgeschoss und wartete, ob der Alarm ausgelöst würde, was nicht geschah, weil Ahmed sich erfolgreich in das Sicherheitssystem der Uni eingehackt hatte. Mark ging zum Notstromgenerator und zog die Benzineinspritzleitungen ab. Zur gleichen Zeit fand Jerry einen Platz in einer abgelegenen Lesekabine, verborgen hinter Regalreihen voller Bücher, denen seit Jahrzehnten niemand Beachtung geschenkt hatte.

Trey schlenderte in seinem Studentenoutfit auf dem Campus umher, den Rucksack über der Schulter, und sah sich nach Stellen um, wo er seine Bomben deponieren konnte.

Um Mitternacht schloss die Bibliothek. Die vier Gangmitglieder und Ahmed in seinem Keller standen in Funkkontakt. Um 0.15 Uhr gab Denny, der Anführer, durch, dass alles so ablaufen könne, wie sie es geplant hätten. Um 0.20 Uhr betrat Trey das McCarren Residential College, ein Tagungs- und Bildungszentrum mit Schlafunterkünften, das mitten auf dem Unigelände lag. Die Kameras waren immer noch dort, wo er sie letzte Woche gesehen hatte. Er nahm die nicht überwachte Treppe zum ersten Stock, schlüpfte in ein Unisex-WC und schloss sich in eine Kabine ein. Um 0.40 Uhr holte er einen Blechzylinder von der Größe einer Halbliter-Getränkedose aus seinem Rucksack. Er aktivierte einen Zeitschalter und versteckte den Zylinder hinter der Toilette. Dann verließ er das WC und begab sich in den zweiten Stock, wo er in einer Duschkabine eine weitere Bombe deponierte. Um 0.45 Uhr entdeckte er in dem im ersten Stock untergebrachten Schlaftrakt des Zentrums einen schwach beleuchteten Flur und warf ein Päckchen aus zehn Black-Cat-Böllern hinein. Während er die Treppe hinunterhastete, krachte und knallte es bereits hinter ihm. Sekunden später detonierten beide Rauchbomben und füllten die Flure mit widerlich stinkendem Nebel. Auf dem Weg nach draußen hörte Trey erste panische Schreie. Er trat hinter ein Gebüsch in der Nähe des Gebäudes, nahm sein Wegwerfhandy aus der Tasche und wählte den Notruf der Universität, um eine schockierende Mitteilung zu machen. »Im ersten Stock des McCarren-Zentrums ist ein Kerl mit einer Waffe und schießt um sich!«

Aus einem Fenster im zweiten Stock drang Rauch. Jerry, der immer noch in der dunklen Lesekabine der Bibliothek saß, machte einen ähnlichen Anruf mit seinem Prepaidhandy. Je stärker die Panik um sich griff, umso mehr nahmen die Anrufe zu.

An jeder amerikanischen Schule oder Universität gibt es klare Anweisungen für die Bedrohung durch »bewaffnete Eindringlinge«, nur schreckt jeder im ersten Moment davor zurück, sie umzusetzen. Die diensthabende Beamtin brauchte ein paar Sekunden, um sich aus ihrer Schreckstarre zu lösen und die richtigen Tasten zu drücken, doch dann heulten die Sirenen los. Sämtliche Studenten, Professoren und Verwaltungsangestellten der Universität erhielten automatisch eine SMS und eine E-Mail mit Anweisungen. Alle Türen seien zu schließen und zu verriegeln, alle Gebäude zu sichern.

Jerry wählte noch einmal die Notrufnummer und gab durch, dass zwei Studenten angeschossen worden seien. Aus dem McCarren-Zentrum quelle Rauch. Trey warf drei weitere Bomben in verschiedene Mülleimer. Studenten rannten zwischen den Gebäuden hin und her; niemand wusste, wo man sicher war und wo nicht. Sicherheitsleute vom Campus und Polizeibeamte der Stadt Princeton strömten herbei, gefolgt von einem halben Dutzend Feuerwehrfahrzeugen und Krankenwagen. Das erste von vielen weiteren Fahrzeugen der New Jersey State Police traf ein.

Trey legte seinen Rucksack an der Tür zu einem Verwaltungsgebäude ab und wählte dann den Polizeinotruf, um einen verdächtigen Fund zu melden. Die Zeitschaltuhr an der Rauchbombe im Rucksack sollte in zehn Minuten losgehen, während die Bombenexperten bereits vor Ort waren und aus der Ferne zusehen konnten.

Um 1.05 Uhr funkte Trey an die anderen: »Panik ausgebrochen. Alles voller Rauch. Überall Polizei. Ihr könnt loslegen.«

»Schalt die Beleuchtung ab«, ordnete Denny an.

Ahmed, der in Buffalo bei starkem Tee auf dieses Zeichen gewartet hatte, klickte sich durch das Sicherheitssystem der Uni, loggte sich in die digitale Stromsteuerung ein und deaktivierte das gesamte Netz, nicht nur der Firestone Library, sondern auch von etwa einem halben Dutzend umliegender Gebäude. Zur Sicherheit legte Mark, der inzwischen eine Nachtsichtbrille trug, auch den Hauptschalter im Versorgungsraum um. Mit angehaltenem Atem wartete er, ob der Generator ansprang, und atmete auf, als nichts geschah.

Der Stromausfall löste in der Überwachungszentrale einen Alarm aus, doch niemand achtete darauf. Ein bewaffneter Eindringling trieb sein Unwesen. Für Bagatellen blieb da keine Zeit.

Jerry hatte in der letzten Woche zwei Nächte in der Firestone Library verbracht und herausgefunden, dass sich keine Wachen im Gebäude befanden, solange es geschlossen war. Nachts machte ein uniformierter Sicherheitsbeamter ein- oder zweimal einen Rundgang um das Gebäude, um mit seiner Taschenlampe kurz die Türen anzuleuchten und dann seinen Weg fortzusetzen. Auch ein Polizeifahrzeug drehte seine Runden, doch diesen Beamten ging es mehr darum, betrunkene Studenten aufzugreifen. Normalerweise ähnelte das Gelände von Princeton dem jeder anderen Universität – zwischen ein Uhr nachts und acht Uhr morgens war tote Hose.

In dieser Nacht jedoch herrschte der Ausnahmezustand. Jemand hatte es auf die klügsten Köpfe des Landes...