Falsche Austern - Kriminalroman

von: Catherine Simon

Goldmann, 2018

ISBN: 9783641192983 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Falsche Austern - Kriminalroman


 

EINS

Albert Barat hatte schlecht geschlafen. Seit Tagen marterten ihn quälende Gedanken. Wie ein ständig sich abspulender Film tauchte eine Szene in Endlosschleife in seinem Kopf auf. Sobald er sich abzulenken versuchte, ergriffen die Bilder von ihm Besitz, Bilder, die er längst vergessen zu haben glaubte. Bei der Arbeit oder beim Essen mit der Familie überfielen sie ihn wie ein böses Insekt, das sich nicht abschütteln ließ und einen Giftstachel in sein Fleisch bohrte. Noch schlimmer war: Er hatte Angst, zum ersten Mal in seinem Leben hatte er furchtbare Angst und das Gefühl, verfolgt zu werden. Ich drehe noch durch, wenn das so weitergeht, dachte Barat, ich werde zu einem Psychopathen, der alle zwei Minuten kontrolliert, ob jemand hinter ihm her ist. Ich muss damit aufhören und zur Normalität zurückfinden. Aber wie? Albert Barat fühlte sich wie ein Gefangener in einer ausweglosen Situation. Was sollte er tun? An wen sich wenden?

Vorgestern hatte er seinen Freund Xavier angerufen, ihn jedoch nicht erreicht. Im Nachhinein dachte er: besser so. Als Anwalt hätte Xavier ihm geraten, juristische Schritte einzuleiten. Und das wäre keine Lösung für sein Problem und würde ihm die Angst nicht nehmen. Gestern war er nahe daran gewesen, sich Laure anzuvertrauen, hatte das Vorhaben aber wieder verworfen. Seine Frau wäre beunruhigt gewesen und hätte ihm doch nicht helfen können.

Die Leuchtziffern des Weckers zeigten sechs Uhr fünfzehn an. Es war noch dunkel, aber der durch die offenen Jalousien zu erkennende Himmel verhieß Morgendämmerung. Laure lag zusammengerollt auf der linken Seite. Ihr regelmäßiger Atem ließ darauf schließen, dass sie tief schlief. Es war Sonntag, was für Albert, Laure und die Kinder bedeutete, sie mussten nicht wie gewöhnlich um sechs Uhr dreißig aufstehen. Als Kunsthistoriker leitete Albert Barat zwei Museen, das Kunstmuseum in Le Havre und das kleinere Museum Eugène Boudin in Honfleur. Mehr Zeit verbrachte er in Le Havre, achtete aber darauf, dass das Museum in Honfleur nicht benachteiligt wurde. Normalerweise genoss Barat die Morgenstunden am Sonntag, wenn er sich noch einmal umdrehen und in einen Halbschlaf hineindämmern konnte. Heute nicht. Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte seine Füße auf den Dielenboden. Als er auf der Bettkante saß und sich mit den Händen durch die dichten schwarzen Haare fuhr, erwachte Laure und drehte sich zu ihm um. Er hatte die Tiefe ihres Schlafes überschätzt. Leise murmelte sie:

»Wie spät ist es?«

»Viertel nach sechs«, antwortete er, »schlaf weiter.«

»Wieso stehst du schon auf?«

»Ich geh aufs Boot.«

»Hm«, brummte sie zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und drehte sich auf die andere Seite.

Barat erhob sich, griff sich Jeans, Pullover und Unterwäsche, die er am Abend zuvor auf einem Stuhl abgelegt hatte, verließ das Schlafzimmer und ging über den Flur ins Bad. Dort zog er sich an. Der Spiegel warf ihm ein blasses, zerfurchtes Gesicht mit dunklen Augenringen entgegen. Lange würde er seinen aufgewühlten Zustand nicht mehr verheim­lichen können, zumindest vor Laure nicht. Es kam ihm vor, als hätte sie ihn in den letzten Tagen mehrmals besorgt angesehen, aber nicht den Mut oder den richtigen Zeitpunkt gefunden, ihn nach dem Grund zu fragen.

Leise stieg Barat die Treppe hinab. Die beiden Jungen, der vierzehnjährige Édouard und der zwölfjährige Edgar, schliefen noch. Innerhalb der nächsten Stunde würden sie mit der geballten Energie von Heranwachsenden in die Küche stürmen. Vor drei Jahren, als er den Posten als Museumsleiter angenommen hatte, war die ganze Familie mit Ausnahme seines ältesten Sohns von Paris nach Honfleur gezogen. Zugleich war, ein weiterer Glücksfall, Laures Bewerbung am Gymnasium in Honfleur erfolgreich gewesen, sie unterrichtete Philosophie, französische Literatur und Kunst. Deshalb hatten sie beschlossen, nicht in Le Havre zu wohnen, sondern auf dem Land, wie Laure sagte, und sie hatten dieses Haus im Chemin du Buquet gekauft, ein wenig oberhalb der Stadt im Grünen. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis es so umgebaut war, dass es ihnen gefiel, im Erdgeschoss ein großes Wohnzimmer mit offener Küche und Essbereich, im ersten Stock die Schlafzimmer, im zweiten Stock vier weitere Räume, die sie zum Arbeiten und zur Unterbringung von Gästen nutzten. Ihr ältester Sohn Julien besuchte nach dem Abitur eine Vorbereitungsklasse in Paris, um an der École Normale Supérieure, einer der angesehensten Eliteuniversitäten, studieren zu können. Sein Ziel war es, in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten und ein bedeutender Historiker zu werden. Der siebzehnjährige Julien, der auch den Namen seines Großvaters trug, lebte in Paris im Haus von Alberts Schwester und ihrer Familie.

Die Gedanken an die Kinder ließen Barat seine bedroh­liche Lage für einen Moment vergessen. Aber als ihm bewusst wurde, was sich da in seinem Kopf verschob, zerbröselte die Konzentration auf seine Kinder, und das Dahinterliegende trat umso stärker hervor. Wieder die Panik, wieder die Angst.

Ein paar Stunden Ruhe und Ablenkung, dachte Albert, dann kann ich auch wieder klar denken und überlegen, was zu tun ist. Auf dem Meer fühle ich mich sicher.

Er würde mit seinem Segelboot rausfahren, einen kleinen Törn die Küste entlang unternehmen. Das Wetter war günstig, goldene Herbsttage, morgens leichter Nebel, den im Lauf des Vormittags ein milder Wind zerstreute, um einen strahlenden Azurhimmel freizugeben – das Hochdruckgebiet hielt schon die ganze Woche an und sollte sich, nach der Wettervorhersage, auch heute nicht ändern. Ideal zum Segeln. Schon sein Vater war ein passionierter Segler gewesen und hatte Albert als Kind regelmäßig mitgenommen. Die Ferien hatten sie auf Jachten am Mittelmeer oder an der Kanalküste verbracht. Seine Mutter hatte diese Leidenschaft nicht geteilt und es bevorzugt, am sicheren Land zu bleiben, wo sie sich die Zeit mit Bridgeturnieren vertrieb. Der Umzug nach Honfleur hatte Barat dazu verleitet, sich ein eigenes Segelboot anzuschaffen. Er musste nicht lange warten, bis ihm jemand ein gebrauchtes verkaufte, ein zwölf Meter langer Langkieler mit Motor und einer kleinen Kajüte, ausgestattet mit zwei Schlafplätzen, Küche und Minibad. Er hatte ihm den Namen seiner Frau gegeben, Laure.

Barat stellte die Kaffeemaschine an und füllte die braune Flüssigkeit aus der gläsernen Kanne in eine Thermoskanne. Neben der Spüle stand eine Plastiktüte auf dem Boden, sie enthielt die Austernschalen vom gestrigen Abendessen. Er würde sie mitnehmen und in die Mülltonne werfen.

Es war Austernzeit. Am Wochenende überschwemmten Tagestouristen die Stadt. An den Ständen am Hafen konnte man frische Austern kaufen, und auf Schildern warben die Bistros mit »Fine de claire« oder der begehrten größeren »Pied de cheval«. Im Grunde war die Regel, nach der Austern im Sommer nicht verzehrt werden sollten, längst überholt. Die genmanipulierten Schalentiere wurden nicht mehr geschlechtsreif und waren daher das ganze Jahr über genießbar. Trotzdem begann für viele Franzosen die Austernsaison im September, man hielt auf Tradition.

Barat steckte die Thermoskanne in seinen Rucksack. Auf ein Blatt Papier, das er aus der Küchenschrankschublade gezogen hatte, schrieb er: »Bin segeln, zum Mittagessen zurück. A.« Er kontrollierte, ob er Schlüsselbund und Handy dabeihatte, zog die Segel­jacke über, griff den Müllbeutel mit den Austernschalen und verließ das Haus.

Die Uhr zeigte inzwischen Viertel vor sieben, Dunkelheit und Nebelschwaden hüllten den Frühaufsteher ein. Reflexhaft blickte Barat sich um, nach rechts, nach links. Niemand zu sehen, alles still. Zu seinen Füßen lag das Städtchen Honfleur wie eine ausgestreckte schlafende Katze. Er lief die Rue Charrière Saint-Léonard hinunter, bog links in die Rue Saint-Léonard ein, dann wieder rechts, bis er zum alten Hafenbecken kam. Nicht, dass er sich in Sicherheit gewiegt hätte, aber sein Atem wurde ruhiger, als er die Segelboote und Jachten an der Mole vertäut liegen sah. Seine Laure war allerdings nicht dabei. Barat hatte einen Platz außerhalb des Hafenbeckens bekommen, an dem Wasserarm, der direkt aufs Meer führte. Ein großer Vorteil, denn die Zugbrücke, die den Innenhafen mit dem Wasserarm verband, öffnete sich nur einmal in der Stunde, um Boote hinein- oder hinauszulassen. In der Rue du Dauphin betrat er den einzigen Bäckerladen, der am Sonntag um sieben öffnete. Er atmete den warmen, süßen Duft von frischen Brioches und Croissants ein, der sich mit dem für die herbst­liche Normandie typischen Geruch von Äpfeln mischte, die hier zu Apfeltarte verarbeitet wurden. Die Verkäuferin kannte ihn, die Familie zählte zu den Stammkunden der Bäckerei.

»Bonjour, Monsieur Barat«, begrüßte sie ihn, »so früh schon unterwegs?«

»Ich mache eine Tour mit dem Boot. Geben Sie mir bitte ein Croissant.«

»Gerne.« Die Verkäuferin steckte das Gebäck in eine Tüte.

»Und legen Sie mir vier Apfeltörtchen zurück. Ich bezahle sie gleich und hole sie nachher ab. Falls meine Frau vorbeikommt, sagen Sie ihr, dass ich schon welche gekauft habe, sonst haben wir am Ende acht. Aber vermutlich würden die Jungen mit ihrem Appetit auch das schaffen.«

Die Verkäuferin lachte. »Ist gut, Monsieur Barat.«

Die Bäckerei hatte Barat ein Gefühl der Sicherheit gegeben, es war die Hoffnung in ihm aufgekeimt, seine Angst sei nur ein Hirngespinst und würde sich in Luft auflösen, er müsse nur daran glauben, und die Normalität würde sich von selbst wieder einstellen. Aber kaum stand er auf der Straße, ging es erneut...