Leere Herzen - Roman

von: Juli Zeh

Luchterhand Literaturverlag, 2017

ISBN: 9783641195748 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Leere Herzen - Roman


 

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Auch der nächste Tag ist strahlend, ein blank geputzter Himmel, auf dem frisch gewaschene Wölkchen stecken. Dazu leichter Wind, der schon am Morgen ungewöhnlich warm ist. Da Richard heute Vera zur Schule bringt, fährt Britta mit dem Fahrrad zur Arbeit. Sie tritt so wenig wie möglich in die Pedale, wählt einen Zick-Zack-Kurs durchs Viertel, schaut über Zäune und Hecken in die Gärten, grüßt gelegentlich einen Nachbarn, der sich entschlossen hat, das bedingungslose Grundeinkommen zum Rasenmähen und Bäumeschneiden zu verwenden. Lehndorf ist eine ruhige Gegend, Ein- und Zweifamilienhäuser, einst von den Nazis erbaut, perfekt für Kinder, ebenso hässlich und praktisch wie der Rest der Stadt. Gerade weil Britta wenig geschlafen und die ganze Nacht darauf gewartet hat, endlich mit Babak sprechen zu können, zwingt sie sich zu einem langsamen Tempo. Mentale Kontrolle, Chefin im eigenen Haus.

Als sie die Autobahn unterquert, wird sie ein wenig schneller, genießt das Fahren entlang der breiten Schneisen, schön gerade und mit großzügigen Bürgersteigen versehen, wie für Panzerparaden erbaut. In der Innenstadt sind die Straßen noch nass von den Wasserwerfern der Reinigungstrupps. An manchen Tagen liebt Britta Braunschweig, als hätte sie es selbst erfunden. Den klobigen Prunk totalitärer Prachtbauten, die aussehen wie Schlösser und in Wahrheit nur Einkaufszentren sind. Das »Deutsche Haus«, in dem sie gelegentlich Klienten unterbringt und auf dessen Fluren es irgendwie nach Sozialismus riecht. Die nicht vorhandene Aura der Stadt, eine Folge von verkehrsgerechter Entsorgung jeglicher Ästhetik. All das stellt eine Erleichterung dar im Vergleich zur klaustrophobischen Pluralität der Metropolen. Schon nach ihrem Abitur in den Nullerjahren, als es noch relativ schick war, nach Berlin zu ziehen, verspürte Britta wenig Lust auf die Hauptstadt. Es gab Werbespots, die allein darauf basierten, dass irgendjemand jung und unrasiert war und eine Wohnung im Prenzlauer Berg gemietet hatte. Damals zog Britta zum Studieren nach Leipzig, später zum Arbeiten nach Braunschweig, und inzwischen gibt der Trend ihr recht. In Scharen verlassen die Freiberufler Prenzlauer Berg, um in kriegszerstörte Mittelstädte zu ziehen, die im Geist des Rationalismus wiederaufgebaut wurden – Funktion, Konstruktion und Form.

Während Britta an einer Fahrradampel wartet, liest sie die Schlagzeilen auf den Displays, die an den Masten des Verkehrsleitsystems hängen.

Schönes Wetter hält an – Fünftes Effizienpaket auf dem Weg in den Reichtstag – Dinkel-Sesam-Stück wird Brot des Jahres – Regula Freyer auf Besuch in China.

Braunschweig passt so gut zu Britta, weil man hier irgendwie unter dem Radar fliegt. Gut durchdachte Mittelmäßigkeit, unauffälliges Durchwurschteln. Britta will eine friedliche Existenz für sich und ihre Familie, sie will ihre Arbeit machen, Verantwortung tragen, aber nur für Dinge, die sie anfassen kann. Warum sollte sie sich für den Rest zuständig fühlen? Heutzutage weiß doch niemand mehr, wofür oder wogegen er sein soll. Natürlich bauen die Besorgten Bürger eine demokratische Errungenschaft nach der anderen ab. Aber trotzdem geht es den Menschen gut, vielleicht sogar besser als früher. Bei Trumps Amtsantritt sprach man vom Untergang des Abendlands, und dann hat er nach seiner Verbrüderung mit Putin ganz nebenbei den Syrienkrieg beendet. Der amerikanische Isolationismus hat die israelische Siedlungspolitik gestoppt und damit quasi versehentlich Zwei-Staaten-Lösung und Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina herbeigeführt. Der Wirtschaftskrieg zwischen Europa und den USA hat den Nahen Osten in einen lukrativen Absatzmarkt für amerikanische Produkte verwandelt, was die ganze Region aufblühen lässt. Auf einmal ist der islamistische Terror kein globales Problem mehr und Daesh vom Schreckgespenst der westlichen Welt auf eine Handvoll dekadenter Warlords geschrumpft.

Einstweilen haben die Leute das politische Spekulieren aufgegeben. Sie leben ihr Leben und stecken die Köpfe in den Sand, weil sie in einer Welt, in der man jemanden wie Trump nicht einfach scheiße finden kann, nichts Besseres damit anzufangen wissen.

Britta macht sich nichts vor. Sie glaubt nicht, die Entwicklungen zu verstehen, und versucht nicht, etwas besser zu wissen. Sie wohnt in einem sauberen Haus in einer sauberen Stadt und führt ein sauberes Unternehmen. Das ist ihr Beitrag. Vor langer Zeit, noch vor Gründung der Brücke, hat sie einmal einen Satz gelesen, der sich ihr eingeprägt hat: Moral ist Pflicht für die Schwachen, die Starken beherrschen die Kür.

Als sie sich dem Hauptbahnhof nähert, beginnt ihr Herz, wieder schneller zu schlagen. Seit gestern Abend unterdrückt sie den Wunsch, ihr Smartphone herauszuholen und nach weiteren Informationen zu suchen. Stattdessen hat sie sich beim Frühstück die Braunschweiger Zeitung gegriffen, die in kleiner Auflage noch immer für nostalgische Ironiker wie Richard gedruckt wird, und auf Seite drei eine knappe Meldung über die Vorgänge in Leipzig gefunden, kurz vor Redaktionsschluss ins Blatt geklemmt. Das Foto kannte sie bereits aus den Nachrichten: schwarze Uniformen in einer Halle, ein länglicher Schatten am Boden. Der Text erzählte genauso wenig wie das Bild. Zwei mutmaßliche Terroristen waren am vergangenen Abend ins Frachtterminal des Leipziger Flughafens eingedrungen, wobei sie eine Substanz mit sich führten, bei der es sich vermutlich um Sprengstoff handelte. Aufgrund eines anonymen Hinweises konnten die Sicherheitsbehörde zugreifen und das Schlimmste verhindern. Ein Täter wurde erschossen, der andere befindet sich in Untersuchungshaft. Innenministerin Wagenknecht sagte dazu, Deutschland befinde sich nach wie vor im Visier der Terroristen, es gebe Anlass zu erhöhter Wachsamkeit, aber nicht zur Panik. Man tue weiterhin alles, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Ein Beispiel dafür seien die erweiterten Kompetenzen für Polizei und Geheimdienste, die neben der Föderalismusreform im fünften Effizienzpaket enthalten seien.

Während Britta die Kurt-Schumacher-Straße hinunterbraust, hebt sie das Gesicht und genießt es, wie ihr der Fahrtwind die Haare nach hinten streicht. Sie ist ihrer Mutter dankbar für die Vererbung dieser Haare, dick, glatt, weizenblond, perfekt geeignet für Kurzhaarfrisuren, die man nur durchwuscheln muss, um gut auszusehen. Haare, die man nicht bürsten, Hemden, die man nicht bügeln, Staubsauger, die man nicht schieben muss – das sind Dinge, die Britta gefallen. Genau wie ein Mitarbeiter, der die ganze Nacht aufbleibt, um die aktuelle Nachrichtenlage für sie zusammenzustellen. Funktionieren ist für Britta das oberste Gesetz.

Die Kurt-Schumacher-Blöcke an der Nordwestseite des Hauptbahnhofs sind ein seltsames Viertel, sauber, aber gesichtslos. Die Wohnungen hoch gestapelt, Wäsche auf den Balkonen, in den Erdgeschossen Gewerbeeinheiten, vor allem Ärzte arabischer Herkunft, lauter Nabils, Sahids und Djawads, die röntgen, massieren, in Mund, Nase, Ohren gucken, Zähne bohren und Leberflecke ausschneiden. Ein Stück Trostlosigkeit in bester Zentrallage. Ein Beispiel für die Ghettoisierung, von der die BBB standhaft behauptet, es gäbe sie nicht.

Zwischen den Blöcken liegt eine Passage, eine Ansammlung flacher Gebäude, grau und unscheinbar, wie geschaffen für schlecht laufende Gewerbe aller Art. Britta schiebt ihr Fahrrad in einen Ständer und öffnet eine Tür, auf der ihr eigener Name klebt: »Die Brücke, Britta Söldner und Babak Hamwi«. Darunter in kleinerer Schrift: »Heilpraxis für Psychotherapie und angewandte Tiefenpsychologie, Self-Managing, Life-Coaching, Ego-Polishing« und ein paar weitere Begriffe, die mit dem, was sie wirklich machen, nicht das Geringste zu tun haben. Im Dentallabor gegenüber sitzt ein blondes Pferdeschwanzmädchen am Empfang, grüßt nicht, regt sich nicht, starrt auf seinen Bildschirm. Britta fragt sich jeden Morgen, ob die Kleine echt ist.

Drinnen riecht es nach Kaffee; von Babak keine Spur.

Wegen der umstehenden Hochhäuser ist es düster in der Praxis, wie immer brennt die Deckenbeleuchtung, trübes Neonlicht aus quadratischen Kästen, das Tages- und Jahreszeit auf grell-depressive Weise überstrahlt. Für eine Heilpraxis sind die Räume der Brücke denkbar ungeeignet, die Schaufenster zu groß, die Atmosphäre zu trüb, ein Tattoo-Studio hätte besser hierher gepasst, ein Hunde-Salon oder der nächste Humana-Second-Hand. Auf dem Boden liegt bräunlicher Teppich, die Empfangstheke haben sie von den Vorbesitzern übernommen, obwohl sie dafür keine Verwendung haben. Darüber hinaus gibt es eine Sitzgruppe, in der Britta Erstgespräche mit neuen Kandidaten führt, sowie einen großen Arbeitstisch, den nur Babak benutzt. Alles ist abgewetzt, aber klinisch rein; immerhin ist es Britta, die hier eigenhändig für Sauberkeit sorgt. Die wenig einladende Atmosphäre ist Absicht; kein Laufkunde soll dazu verleitet werden, die Räume zu betreten.

Britta beugt sich über den Arbeitstisch, auf den mit Spezialklammern ein zwei Quadratmeter großer Papierbogen befestigt ist, eine Sonderanfertigung, die Babak direkt vom Hersteller bezieht. In einer Ecke scheint das Papier beschmutzt, geht man jedoch näher heran, erkennt man, dass es von unzähligen Pünktchen in verschiedenen Farben bedeckt ist, so dicht, dass kaum Zwischenräume zu sehen sind. Bei der Brücke gibt es lange Flauten, kein Anlass zur Sorge, sondern Teil des normalen Arbeitsrhythmus. Während Britta in solchen Phasen Papierkram macht, Vera früh aus dem Hort abholt, im Garten arbeitet und an heißen Tagen das Planschbecken aufbläst, hält Babak in der Praxis die...