Grillwetter - Anwalt Fickel ermittelt

von: Hans-Henner Hess

DuMont Buchverlag , 2017

ISBN: 9783832189709 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Grillwetter - Anwalt Fickel ermittelt


 

§ 2

Der blutige Schweinespalter

Kriminalrat Recknagel, langjähriger leitender Beamter des Dezernats 1, Abteilung 1 der Meininger Polizeidiensstelle – Delikte gegen das Leben und die Gesundheit –, hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie der weitere Abend verlaufen sollte. Schon den ganzen Tag lang freute er sich auf das gemeinsame Abendessen in den eigenen vier Wänden mit dem seinerzeit zweitschönsten Mädchen der Klasse 10b an der Polytechnischen Oberschule am Pulverrasen, Abschlussjahrgang anno dunnemals, mit dem er seit nunmehr drei Jahrzehnten glücklich verheiratet war. Vielleicht würde man sich später gemeinsam einen Krimi oder eine Talkshow im Fernsehen ansehen. Oder ein gutes Buch lesen. Und am späteren Abend würde das Ehepaar Recknagel vielleicht einen Cognac trinken, oder zumindest der Teil des Ehepaars, der Weinbrand mochte. Womöglich hatte seine Frau auch etwas auf dem Herzen. Oder wer weiß: Wenn Sie so aufwendig kochte, gab es manchmal auch etwas zu feiern. Was könnte das wohl sein?

Als Recknagels Handy, das er wie immer auf der Kommode abgelegt hatte, klingelte, war die Versuchung groß, es einfach zu ignorieren. Das Display zeigte die Nummer von Christoph, einem jungen Mitarbeiter seiner Abteilung. Er rief so gut wie nie jenseits der Arbeitszeit an. Vielleicht suchte er mal wieder den Schlüssel für den Dienstwagen? Nach kurzem, aussichtslosem Ringen gab der Kriminalrat seinem Pflichtgefühl nach, jedoch nicht, ohne sich gleichzeitig selbst dafür zu verdammen.

»Was gibt’s?«, sagte der Kriminalrat knapp.

»Hallo, Chef. Ich stehe hier gerade in der Wurstfabrik in Rippershausen. Sie wissen schon: Ob im Osten oder Westen, Krautwurst schmeckt am besten

Natürlich war der Kriminalrat sofort im Bilde. Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten waren in Meiningen eine Institution. Doch wie der Recknagel wusste, steckte die Firma seit einiger Zeit in ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

»Können Sie mal herkommen? Ich brauche dringend Ihren Rat«, bettelte Christoph. Seine Stimme klang nervös. Seit seiner Beförderung, die er ebenso überstürzt wie unverdient für die Aufklärung des Langguth-Falles erhalten hatte, durfte er eigenständig Ermittlungen leiten. Allerdings gehörte er zu den Kollegen, die sich mit steigender Verantwortung zunehmend nach allen Seiten absicherten, anstatt selbstbewusste Entscheidungen zu treffen. Kriminalrat Recknagel klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und säbelte mit der freien Hand eine hauchdünne Scheibe Fleisch von einem kolossalen, von der Ofenhitze noch dampfenden Braten, während seine Frau in der Küche letzte Hand an den Nachtisch legte.

»Wo liegt denn das Problem?«, erkundigte sich Recknagel zögernd, während er beobachtete, wie sich das Messer wie von selbst in das langsam mürbe gegarte Fleisch grub. Unter der knusprigen Fettkruste sickerte eine dunkle Fleischbrühe heraus und verströmte einen mild würzigen Geruch, der die winzigen, Zilien genannten Härchen an den Epitheln in der Nase des Kriminalrates in Schwingung versetzte und somit sein gesamtes olfaktorisches System auf das Angenehmste reizte.

»Vorhin, kurz vor achtzehn Uhr, hat sich Insolvenzverwalter Enzian beim Notruf gemeldet, dass ein Schlachter ihn tätlich angegriffen habe. Aber als die Kollegen circa zwanzig Minuten später vor Ort waren, haben sie keinen von beiden mehr angetroffen.«

»Hm«, machte der Recknagel. »Wieso haben die Kollegen denn so lange gebraucht?«

»Alle verfügbaren Kräfte waren durch die Massenkarambolage bei Grabfeld gebunden. Der Notruf schien dem Einsatzleiter nicht besonders dringlich.«

Recknagel seufzte. Das war mal wieder typisch: den Notruf eines Rechtsanwalts nicht als eilig anzusehen … Dabei hatte der Name Ludwig Enzian in Meiningen einen Klang wie Donnerhall. Der Volksmund hatte dem smarten Rechtsanwalt nicht umsonst den Ehrentitel »Plattmacher« verliehen, da er ganz Südthüringen seit der Wende praktisch im Alleingang deindustrialisiert hatte: ob Piko Elektrik6, Welton-Herrenwäsche oder leider, leider auch die allseits beliebte Schlosspils-Brauerei – unzählige Meininger Unternehmen hatte Insolvenzanwalt Enzian in den letzten Jahrzehnten erfolgreich abgewickelt beziehungsweise: gesundgeschrumpft. Seine bevorzugte Therapiemethode war hierbei die Rosskur. Denn viele tausend Mitarbeiter und Subunternehmer hatten im Laufe der Jahre ihre Arbeitsplätze und/oder Existenzen verloren, während Rechtsanwalt Enzian auf der Rangliste der wohlhabenden Meininger Stufe um Stufe emporgeklettert war. Jetzt hatte es also auch Krautwurst erwischt.

»Haben Sie schon Nachforschungen über den Verbleib des Herrn Enzian angestellt?«, erkundigte sich der Kriminalrat und schob sich die hauchdünne, fast durchsichtige Scheibe des Bratens zwischen die Zähne. Das Fleisch zerfiel beinahe auf Recknagels Zunge und zündete dort ein wahres Feuerwerk der Aromen. Welcher Philosoph hatte gesagt, Essen sei die Erotik des Alters? Das hier war entschieden besser. Und so alt war der Recknagel noch gar nicht. Zwar war das Haar lichter und der Bauch fülliger als – sagen wir mal – mit Mitte vierzig, und auch sein Gesicht verhehlte nicht, dass er bereits einiges durchgemacht hatte, aber in Sachen Genuss fühlte er fast wie ein Adoleszent. Und das war schließlich das Entscheidende, dass man dem Alter etwas entgegenzusetzen hatte.

»Zu Hause geht niemand ran, und sein Handy ist tot. Außerdem haben wir hier in seinem Büro frische Blutspuren entdeckt«, erklärte Christoph. »Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen …«

Recknagel kaute langsam runter und blickte wehmütig auf das Stillleben, das sich vor ihm ausbreitete: Neben dem Bratenteller dampften in einer original Meißner Porzellanschüssel ein halbes Dutzend rohe Thüringer Klöße vor sich hin. Auch die mit gedünsteten Zwiebeln und gebratenem Speck veredelten Brechbohnen sahen einladend aus. Und die Soße erst. Dem Kriminalrat lag bereits das süß-saure Aroma mit Anklängen von geschmorter Birne, Sellerie und Wacholder auf der Zunge, das einzig und allein Frau Recknagel in dieser Finesse hinbekam.

»Also gut«, seufzte Recknagel pflichtbewusst. »Ich bin gleich bei Ihnen.«

Zehn Minuten später saß der Kriminalrat schlecht gelaunt und mit knurrendem Magen in seinem hochmodernen, übermotorisierten Dienstwagen und lenkte ihn in nördlicher Richtung aus dem Meininger Stadtgebiet hinaus Richtung Walldorf; dort bog er scharf nach links ab, kurz darauf wieder rechts, und schon befand er sich in den sanften Vorläufern der Rhön. Er schaltete das Fernlicht ein. Eine gottverlassene Gegend war das hier. Und gerade deshalb reizvoll. Wenn es nur nicht so finster wäre. Der Recknagel fluchte leise vor sich hin. Nach wenigen hundert Metern passierte er das Ortsschild von Rippershausen, ein pittoreskes Dorf in the middle of nowhere, berühmt für sein Schwimmbad, das auch als Löschteich diente, seine Landwirtschaft, bevorzugt Schweinezucht, sowie das Gasthaus »Zur Sonne«, das leider inzwischen geschlossen hatte, aber ein Mal im Jahr noch seine Pforten für den Kulturbiergarten öffnete, der den Ort für drei Tage in einen kulturellen Ausnahmezustand versetzte.

Was war das? Der Kriminalrat hatte einen Schatten registriert, der seinen Weg kreuzte. Der hochmoderne Dienstwagen bremste scharf ab. Im Scheinwerferkegel blickten dem Recknagel die grünen Augen einer schwarzen Katze vorwurfsvoll entgegen, als hätte sie noch nie ein Auto gesehen. Von rechts nach links, Glück bringt’s, memorierte der Kriminalrat und hupte, da das Tier keine Anstalten machte, den Weg freizugeben. Die Katze drehte sich seelenruhig um die eigene Achse und verließ die Straße gemessenen Schrittes nach rechts. Zum Glück war der Kriminalrat nicht abergläubisch. Er trat wieder aufs Gaspedal.

Etwas außerhalb des Dorfkerns erhob sich ein schmuckloser, quaderförmiger Zweckbau aus der Landschaft, der von einem mit Stacheldraht bewehrten Zaun umfasst war und von allen Seiten gleißend hell angestrahlt wurde. Dieser schmucklose Bunker bildete die Heimat des größten und bekanntesten Fleischartikelherstellers der Region: Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten – seines Zeichens Hersteller des wichtigsten Exportschlagers aus dem Freistaat seit dem Werther: der Original Thüringer Rostbratwurst.

Kriminalrat Recknagel stellte den Wagen ab, stieg aus und blähte die Nüstern. Reinste Landluft: feucht und erdig, veredelt mit Silage- und Güllenoten, und über dem ganzen Bukett schwebend ein dezent süßlicher Verwesungsgeruch, der direkt von der Wurstfabrik herüberwehte. Zu DDR-Zeiten stank das volkseigene Fleischverarbeitungskombinat noch zum Himmel, heute müffelte es hier streng nach EU-Emissionsschutzrichtlinie. Auf den Lampen und Geländern der Wurstfabrik hockten Heerscharen von Aaskrähen. Grau-schwarze Hyänen der Lüfte. Einige der Vögel kreisten über dem Gebäude und krächzten: Hitchcock at his best.

Recknagel hielt sich fröstelnd den Mantel zu und schloss den Wagen ab. An der beschrankten Einfahrt befand sich ein hell erleuchtetes Pförtnerhäuschen, in dem ein älterer, ausgesprochen hagerer Mann in einer Art Security-Uniform hockte, die eher an einen Schaffner der Deutschen Reichsbahn erinnerte. Der Pförtner schien jedoch keine Augen für seine Umgebung zu haben, sondern stierte intensiv auf einen alten Laptop. Im Profil erinnerte er ein wenig an Clint Eastwood in einem seiner späteren Filme. Wie der Recknagel sehen konnte, spielte er durchaus gekonnt eine Partie Tetris. Der Kriminalrat klopfte energisch ans Fenster und zeigte seinen Dienstausweis...