Rumo & die Wunder im Dunkeln - Roman

von: Walter Moers

Knaus, 2017

ISBN: 9783641223021 , 704 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 14,99 EUR

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Rumo & die Wunder im Dunkeln - Roman


 

meik und Rumo nutzten das Tageslicht und wanderten den ganzen Tag. Licht, freier Himmel, unverstellter Blick, Natur, Wolken – an diese selbstverständlichen Dinge mußten sie sich erst wieder langsam gewöhnen, und obwohl sie jetzt endlich festen Boden unter sich hatten, schien er immer noch zu schwanken wie die Teufelsfelsen im Meer. Smeik hatte tausend Fragen, mit denen er Rumo löcherte, während sie sich durch die Dünenlandschaft bewegten. Smeik tat dies in der Art von Seekühen, den Oberkörper hoch aufgerichtet, während der hintere Teil des Körpers in rhythmischen Wellenbewegungen vorwärts rutschte. Zu Rumos Erstaunen kamen sie zügig voran, wenngleich Smeik wesentlich mehr Pausen benötigte als der Wolpertinger.

Smeiks Fragen betrafen hauptsächlich die Kämpfe in den Labyrinthen der Teufelsfelsen: Wie hatten sich die Zyklopen im Kampf verhalten? Was waren Rumos Methoden, seine instinktiven Strategien? Und immer wieder ließ er sich die Szene erzählen, wie Rumo geblendet worden war.

Als es Abend wurde, befanden sie sich in einer Gegend, wo die flache Küstenlandschaft in spärlich bewaldete Hügel überging. Hier gab es immerhin Büsche und Sträucher, von denen sich ein paar Beeren und Nüsse pflücken ließen, und dann fanden sie sogar einen Baum voller kleiner saurer Äpfel. Rumo war es egal, was er zu sich nahm. Nach den Ereignissen auf den Teufelsfelsen war er grundsätzlich lieber hungrig als satt. Fast schien es so, als hätte er alles an Essen, was er für sein Leben brauchte, im Käfig der Zyklopenhäuptlinge zu sich genommen. Der Vorgang der bloßen Nahrungsaufnahme sollte ihn zeitlebens an die Bestialität der Einäugigen erinnern, und das Gefühl des Sattseins und die damit einhergehende Schwerfälligkeit verursachten ihm Unbehagen. Schlafen und Essen würden nie zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehören: Rumo war lieber wach und hungrig.

Smeik hingegen schwelgte, nachdem sie sich in einem kleinen Wäldchen zur Ruhe gelegt hatten, in kulinarischen Phantasien. Die frischen Äpfel hatten in ihm eine kaum zu bändigende Begierde auf anständige Nahrung geweckt, die er auf den Teufelsfelsen mühsam unterdrückt hatte. Jetzt waren sie an Land, und Land bedeutete für Smeik kultivierter Boden, auf dem gesunde Kühe saftiges Gras wiederkäuten, um ihre Fettreserven zu vergrößern und ihre Euter mit rahmiger Milch zu füllen, aus der man die köstlichste Sahne schöpfen konnte, mit der man dann wiederum die herrlichsten Torten … – und so weiter, und so weiter, seine Einbildungskraft war fast unerschöpflich. Bis er endlich bei der Vorstellung eines Gerichtes, bei dem gefüllte Mäuseblasen eine zentrale Rolle spielten, sanft entschlummerte.

Auch Rumo schlief zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich tief und fest. Er träumte von dem Silberfaden, wie er über einer goldgelben Kornlandschaft wehte. Der Faden hatte diesmal eine Stimme, aber die Stimme sprach nicht, sondern sie sang eine seltsame und betörende Melodie.


Die Zivilisation

Der Landstrich, den Rumo und Smeik in den Morgenstunden des neuen Tages erkundeten, war von zahlreichen Flüssen und Bächen durchzogen. Es wäre dem Wolpertinger vollkommen unmöglich gewesen, durch etwas Tieferes als einen hüfthohen Bach zu waten, und so machte Smeiks Fähigkeit, schwimmen zu können, die zahlreichen durch ihn verursachten Pausen mehr als wett.

Das Wasser hatte die ganze Gegend in ein Paradies verwandelt: Überall wuchsen Beerensträucher, Rhabarber, Apfelbäume und Blumen, die Tiere aller Art anlockten. Bienen summten, Vögel jagten nach Insekten, und es wimmelte nur so von Kaninchen, Rebhühnern, Rehen, Enten und Tauben. Rumo hätte mit Leichtigkeit eines der Rehe oder Kaninchen erlegen können, die kaum Scheu zeigten, aber das erschien ihm aufgrund seiner Erinnerungen an die Zyklopen wie ein Frevel – was wiederum Smeik ausdrücklich und wortreich bedauerte.

Nach einem halben Tagesmarsch wurde die Landschaft flacher und eintöniger, die Flüsse seltener, die Wege häufiger und ausgetretener. Hier und da stand ein einsamer Bauernhof auf einem Hügel, statt Wäldern und wilden Wiesen bestimmten Getreidefelder und eingezäunte Weideflächen die Aussicht.

»Riechst du das?« fragte Smeik.

Natürlich roch Rumo es, sogar durch seine triefende Nase. Schon seit geraumer Zeit lag ein aufdringlicher Geruch in der Luft: das Aroma von Schweinefleisch, über Buchenholz gegrillt. Rumo hatte versucht, diesen Geruch zu ignorieren, weil er sich mit anderen, eher unangenehmen Gerüchen vermischte. Mit Tabakqualm und Schweiß. Mit Pferdekot.

»Da wird irgendwo ernsthaft gekocht«, sagte Smeik mit bebender Stimme.

»Drei Lebewesen. Da vorne, hinter dem Hügel.« Rumo wies in die Richtung, aus der er seine Informationen empfing. Smeik verdoppelte das Tempo.

In einer Talsenke hinter dem Hügel, an der Kreuzung zweier Wanderwege, stand ein dunkles Blockhaus. Es war nicht gerade fachmännisch aus Baumstämmen zusammengezimmert, mit schrägen Balken, dreieckigen Fenstern und einem absurden Dach. Jetzt konnte auch Smeik es riechen, die Mischung aus kalter Asche, verbranntem Fett und abgestandenem Bier. So roch nur eine ganz bestimmte Art von Gebäuden.

»Ein Wirtshaus«, stöhnte er. An einer Tränke neben dem Haus waren zwei Ackergäule angebunden, mit schwarzem Fell und weißer Mähne.

»Da drin sind Blutschinken«, flüsterte Smeik. »Mindestens zwei. Nur Blutschinken reiten Ackergäule ohne Sattel. Es sind also mindestens drei, mit dem Wirt.«

Rumo nickte. »Drei Lebewesen. Alle ungewaschen.«

Smeik dachte einen Augenblick nach.

»Hör zu«, sagte er dann, »ich möchte dich um etwas bitten, was dir wahrscheinlich nicht gefallen wird.«

Rumo horchte auf.

»Ich möchte, daß du auf allen vieren gehst, wenn wir dieses Gasthaus betreten.«

»Warum?«

»Es hat etwas mit einer kämpferischen Taktik zu tun, die ich Überraschungsvorteil nennen möchte. Du kannst dabei nur lernen.«

»Hm.« Rumo erinnerte sich daran, wie er die Höhle mit den zwölf Zyklopen auf allen vieren betreten hatte. Das war keine gute Idee gewesen.

»Paß auf: Wenn wir drin sind, sagst du kein Wort. Kein einziges, verstanden? Das Reden übernehme ich. Ich werde irgendwann den Raum kurz verlassen. Dann hörst du einfach nur zu, was gesagt wird. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird es etwas Gutes oder etwas Böses sein. Ist es etwas Böses, gibst du mir ein Zeichen, wenn ich zurückkomme: Du scharrst mit der rechten Pfote über den Boden. Der Rest wird sich dann ergeben.«

Rumo nickte und begab sich auf alle viere.


Die Geschichte eines Hauses

Jedes Haus hat seine Geschichte. Diese Geschichten können mehr oder weniger aufregend sein, je nachdem, wer darin wohnt. Ist das Haus von einem nattifftoffischen Notar bewohnt, darf man auf eine verhältnismäßig ereignisarme Geschichte spekulieren, in der regelmäßig der Vorgarten geharkt und regelmäßig die Steuern bezahlt werden. Wohnen in dem Haus aber Werwölfe, dann verbringen die Bewohner den Tag in versiegelten Särgen im Kohlenkeller, und nachts, nachdem sich die Särge geöffnet haben, spielen sich Szenen ab, für die dicke Mauern eigentlich erfunden wurden. So unterschiedlich können zamonische Häusergeschichten sein. Dies hier ist die Geschichte des Gasthauses Zum Gläsernen Mann:

Kromek Tuma war ein Blutschink zweiter Klasse, was bedeutet, daß er selbst unter Blutschinken als minderbemittelt galt. Die Blutschinken hatten irgendwann – wann genau, weiß niemand, weil kein Wissenschaftler, der Wert auf seinen Ruf legt, sich mit blutschinkischer Historie abgegeben hätte – ein nicht besonders kompliziertes Zweiklassensystem eingerichtet, das die nicht ganz so beschränkten Blutschinken von den sehr beschränkten unterscheiden sollte. Es stellte sich aber bald heraus, daß die Unterschiede zwischen mäßiger und massiver Beschränktheit schwer festzulegen und die Übergänge ziemlich fließend waren, also geriet dieses Klassensystem im Lauf der Zeit wieder in Vergessenheit. Was hier gesagt werden soll: Hätte man die Meßlatte des alten Klassensystems an Kromek Tuma angelegt, hätte man noch eine dritte Klasse hinzufügen müssen.

Blutschinken gelten in Zamonien als die Daseinsform mit den am niedrigsten entwickelten sozialen Instinkten unter den sprachbegabten Bewohnern. Die meisten Blutschinken arbeiten in Berufen, in denen Grobschlächtigkeit und Unsensibilität nicht nur geduldet, sondern Voraussetzung sind: Rausschmeißer und Leichenwäscher, Kirmesboxer und Fußsoldaten, Kopfschlächter und Scharfrichter. Wem selbst für diese Beschäftigungen die Qualifikationen fehlen, der macht eine Kneipe auf, wie Kromek Tuma.

Das war nicht immer so gewesen, Kromek hatte eine für Blutschinken relativ solide Laufbahn eingeschlagen. Er hatte in der Privatarmee des Ornischen Kleinfürsten Hussain Jenadepuer gedient, hundert Jahre lang, von seinem zehnten Lebensjahr an. Er war mit Fürst Hussain in jeden seiner zahlreichen Grenzkriege gezogen und hatte dabei vier Zehen verloren, ein Auge und zwei Finger. Auf seinem Körper gab es hundertundvierzehn Großnarben und zahllose kleinere, er konnte auf einem Ohr nichts mehr hören, weil er ein paarmal zu oft die Kanone bedient hatte, und er litt unter gelegentlichen Zuckungen, seitdem ihn ein Giftpfeil ins Rückgrat getroffen...