Bei lebendigem Leib

von: Souad

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN: 9783732552733 , 264 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Bei lebendigem Leib


 

Erinnerung


Ich kam in einem winzigen Dorf zur Welt. Man hat mir gesagt, es liege irgendwo in Jordanien, später hieß es Transjordanien, dann Westjordanland, doch da ich nie zur Schule gegangen bin, weiß ich nichts über die Geschichte meines Landes. Außerdem sagte man mir auch, dass ich dort 1958 oder 1957 geboren wurde ... Ich dürfte also heute ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich nur Arabisch gesprochen und hatte mich nie mehr als wenige Kilometer von meinem Dorf entfernt. Ich wusste, dass es irgendwo weit weg Städte gab, hatte sie aber nicht gesehen. Ob die Erde rund oder flach ist, wusste ich nicht, ich hatte überhaupt keine Vorstellung von der Welt! Ich wusste, dass man die Juden verabscheuen muss, weil sie uns unser Land weggenommen hatten. Mein Vater nannte sie »Schweine«. Man durfte ihnen nicht zu nahe kommen, weder mit ihnen sprechen noch sie berühren, sonst wurde man selbst ein Schwein wie sie. Mindestens zweimal am Tag musste ich mein Gebet verrichten; wie meine Mutter und meine Schwestern sagte ich die Gebete auf, habe aber erst viele Jahre später in Europa den Koran kennen gelernt. Mein einziger Bruder, der König des Hauses, durfte zur Schule gehen, die Mädchen nicht. Bei uns ist es ein Fluch, als Mädchen zur Welt zu kommen. Eine Ehefrau muss unbedingt einen Sohn gebären, mindestens einen, und wenn sie nur Mädchen bekommt, macht sie sich zum Gespött der Leute. Für die Arbeit im Haus, auf den Feldern und im Stall braucht man höchstens zwei oder drei Mädchen. Wenn mehr Töchter zur Welt kommen, ist das ein großes Unglück, und man muss zusehen, wie man sie möglichst schnell los wird. Wie das geht, musste ich sehr früh erfahren. So habe ich etwa siebzehn Jahre gelebt und wusste nur, dass ich weniger galt als ein Tier, weil ich ein Mädchen war.

Das war mein erstes Leben, das Leben einer arabischen Frau im Westjordanland. Es dauerte zwanzig Jahre, und ich bin dort gestorben. Dort gelte ich als tot.

Mein zweites Leben beginnt Ende der siebziger Jahre auf einem internationalen Flughafen in Europa. Ich bin ein Häufchen Elend auf einer Trage und verbreite dermaßen den Geruch nach Tod, dass sich die Passagiere über meine Anwesenheit beschweren. Obwohl hinter einem Vorhang versteckt, war ihnen meine bloße Gegenwart unerträglich. Man hat mir zwar gesagt, dass ich überleben werde, aber ich weiß genau, dass das nicht stimmt, und warte auf den Tod. Ich flehe ihn sogar an, mich zu holen. Der Tod ist immer noch besser als meine Schmerzen und die Erniedrigung. Von meinem Körper ist nichts mehr übrig, warum will man mich dann am Leben halten, wenn ich doch nicht mehr existieren will, weder körperlich noch geistig?

Daran muss ich immer wieder denken. Ich wäre tatsächlich lieber gestorben, als dieses zweite Leben zu riskieren, das mir so großzügig angeboten wurde. Doch dass ich überlebt habe, bedeutet in meinem Fall ein Wunder. Dadurch bin ich jetzt in der Lage, im Namen all jener Zeugnis abzulegen, die dieses Glück nicht hatten und die auch heute noch aus einem einzigen Grund sterben müssen: Weil sie Frauen sind.

Ich habe Französisch gelernt, indem ich den Menschen zuhörte und mich zwang, die Worte zu wiederholen, die man mir mit Hilfe der Zeichensprache erklärte: »Schlecht? Gut? Essen? Trinken? Schlafen? Gehen?« Ich antwortete darauf mit Zeichen: »ja« oder »nein«.

Erst viel später lernte ich lesen, indem ich geduldig und Tag für Tag Wörter aus Zeitungen entzifferte. Zunächst gelang mir das nur mit kleinen Texten oder kurzen Sätzen aus wenigen Wörtern, Todesanzeigen zum Beispiel, deren Klang ich nachsprach. Manchmal kam ich mir vor wie ein Tier, dem man beibringen wollte, sich wie ein menschliches Wesen zu verständigen. Dabei drehte sich in meinem Kopf auf Arabisch alles um die Fragen, wo ich eigentlich war, in welchem Land, und warum ich nicht in meinem Dorf gestorben war. Ich schämte mich dafür, noch am Leben zu sein, was niemand wusste. Und ich hatte Angst vor diesem Leben, was keiner verstand.

Ich muss all das sagen, bevor ich versuche, die einzelnen Bruchstücke meiner Erinnerung zusammenzufügen. Denn ich will, dass meine Worte zu einem Buch werden.

Mein Gedächtnis besteht aus lauter Lücken. Der erste Teil meines Lebens setzt sich aus Bildern, fremden und gewalttätigen Szenen zusammen – wie ein Film. Manchmal traue ich ihnen selbst nicht, noch dazu weil ich große Mühe habe, sie zu ordnen. Ist es denn wirklich möglich, dass man den Namen einer seiner Schwestern vergisst? Wie alt der eigene Bruder war, als er geheiratet hat? Während ich anderes nicht vergessen habe: die Ziegen, die Schafe und die Kühe, den Backofen für das Brot, den Waschtrog im Garten, die Ernte von Blumenkohl und Tomaten, Zucchini und Feigen, den Stall und die Küche, die Getreidesäcke und die Schlangen. Die Terrasse, von der aus ich meinen Geliebten abpasste. Das Weizenfeld, auf dem ich mich »versündigt« habe.

An meine ersten Lebensjahre kann ich mich nur schlecht erinnern. Manchmal fällt mir eine Farbe oder ein Gegenstand ins Auge, und plötzlich tauchen in meiner Erinnerung Bilder oder Personen, Schreie oder Gesichter auf, die ineinander verschwimmen. Stellt man mir Fragen, entsteht in meinem Kopf oft eine völlige Leere. Verzweifelt suche ich dann nach der Antwort, kann sie aber nicht finden. Oder ein anderes Bild erscheint auf einmal, und ich verstehe den Zusammenhang nicht. Doch diese Bilder haben sich in mein Gedächtnis gegraben, und ich werde sie nie vergessen. Man kann seinen eigenen Tod nicht vergessen.

Ich heiße Souad und bin ein Kind aus dem Westjordanland. Ich hüte mit meiner Schwester Schafe und Ziegen, weil mein Vater eine Herde besitzt, und ich muss härter arbeiten als ein Esel.

Mit acht oder neun Jahren musste ich anfangen zu arbeiten, mit zehn hatte ich meine erste Regelblutung. Bei uns heißt es, dass ein Mädchen dann »reif« ist. Ich schämte mich für dieses Blut, das man verbergen musste, sogar vor den Blicken der eigenen Mutter. Ich musste heimlich meinen saroual waschen, bis er wieder weiß war, und ihn schnell in der Sonne trocknen, damit kein Mann und kein Nachbar etwas bemerken konnte. Ich besaß nur zwei saroual. Ich kann mich noch an das Papier erinnern, das man an diesen schlechten Tagen benützte, an denen man wie eine Aussätzige behandelt wurde. Diesen Beweis meiner Unreinheit vergrub ich immer schleunigst und heimlich im Müll. Gegen das Bauchweh kochte meine Mutter einen Tee aus Salbeiblättern, den sie mir zu trinken gab. Dann wickelte sie meinen Kopf fest in ein Tuch, und am nächsten Morgen hatte ich keine Schmerzen mehr. Das ist die einzige Medizin, an die ich mich erinnern kann. Ich verwende sie heute noch, weil sie sehr wirksam ist.

Früh am Morgen gehe ich in den Stall, pfeife durch die Finger, damit die Schafe zu mir kommen, und mache mich mit meiner Schwester Kaïnat, die etwa ein Jahr älter ist als ich, auf den Weg. Mädchen dürfen das Haus nicht allein oder in Begleitung einer sehr viel jüngeren Schwester verlassen. Die Ältere dient zum Schutz der Jüngeren. Meine Schwester Kaïnat ist nett, rundlich, ein bisschen dick, während ich klein und mager bin. Wir haben uns immer gut verstanden.

Zu zweit gingen wir mit den Schafen und Ziegen auf die Weide, die etwa eine Viertelstunde vom Dorf entfernt lag. Wir gingen schnell und ohne aufzusehen, bis wir das letzte Haus hinter uns gelassen hatten. Erst wenn wir auf die Weide kamen, fühlten wir uns frei genug für ein paar alberne Wortwechsel und lachten sogar gelegentlich ein bisschen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir lange Gespräche geführt hätten. Alles drehte sich um den Käse, den wir zu essen dabei hatten, den Genuss einer Wassermelone, das Hüten der Schafe und besonders der Ziegen, die imstande waren, sämtliche Blätter eines Feigenbaumes innerhalb weniger Minuten aufzufressen. Wenn sich die Schafe zum Schlafen im Kreis versammelten, legten wir uns ebenfalls zum Schlafen in den Schatten – wobei wir in Kauf nahmen, dass sich vielleicht eines unserer Tiere aufs Nachbarfeld verirrte und wir abends für die Folgen bezahlen mussten. Wenn das Tier dann einen Gemüsegarten geplündert hatte oder wir einige Minuten zu spät in den Stall zurückkamen, gab es eine Tracht Prügel mit dem Gürtel.

Ich finde, unser Dorf ist sehr schön grün. Es gibt bei uns viele Feigenbäume, Weinstöcke, Obst-, Zitronen- und große Olivenbäume. Meinem Vater gehört die Hälfte des gesamten Ackerlands von unserem Dorf ... Er ist nicht besonders reich, aber wohlhabend. Sein Haus ist groß, aus Steinen gebaut, und steht hinter einer Mauer mit einem schweren, grauen Eisentor. Dieses Tor ist Symbol unserer Gefangenschaft. Sobald wir den Hof betreten haben, schließt es sich hinter uns und lässt uns nicht wieder hinaus. Man kann also durch dieses Tor eintreten, wenn man von draußen kommt, aber es führt kein Weg zurück. Gibt es einen Schlüssel oder irgendeinen Mechanismus? Ich weiß nur noch, dass mein Vater und meine Mutter durch dieses Tor nach draußen gingen, wir jedoch nicht. Mein Bruder allerdings schon, er ist frei. Er ist frei wie der Wind: Er geht ins Kino, geht durch dieses Tor ein und aus, macht, was er will. Ich habe diese verfluchte Eisentür oft angestarrt und mir gesagt: »Nie darf ich dort hinaus, niemals ...«

Das Dorf kenne ich nicht sehr gut, weil man dort nicht herumlaufen darf. Wenn ich die Augen schließe und mich sehr konzentriere, erinnere ich mich an verschiedene Einzelheiten, die ich einmal gesehen habe. Da ist mein Elternhaus und etwas weiter weg, auf der gleichen Straßenseite, das Haus der reichen Leute, wie ich es nenne. Und gegenüber das Haus meines Geliebten. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, ich kann es von unserer...