Fremd gewordenes Land - Streifzüge durch Frankreich

von: Jean-Christophe Bailly

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783957574923 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 22,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Fremd gewordenes Land - Streifzüge durch Frankreich


 

2. Reusen, Flaken, Elger usw.


Bordeaux, Maison Larrieu, Rue Sainte-Colombe Nummer 51, zwischen dem Glockenturm von Saint-Éloi und dem Cours d’Alsace-et-Lorraine. Jean-Louis Larrieu, der heutige Direktor der Firma – es handelt sich eigentlich um eine Fabrik – hört es nicht gern, wenn man von einem »Geschäft« spricht. Als solches kündigt sich dieses Stammhaus aber durch seine in den Schaufenstern zur Straße hin ausgestellten Artikel an und wirkt auf davor anhaltende Passanten ein: Denn alles dort, was man vor sich hat und worüber man mutmaßt, ist außergewöhnlich. Ich kenne jedenfalls nichts Vergleichbares in Frankreich oder Europa. Es handelt sich um eine Fabrik für Netze, Reusen und im weiteren Sinne für alles, was dazu dient oder dazu dienen könnte, lebende Tiere zu fangen oder anzulocken und zu sich zu ziehen: eine unerschöpfliche Ansammlung von Gegenständen, die mit Jagd und Fischfang zu tun haben (obwohl die Netze auch einige andere Funktionen erfüllen, zum Beispiel auf Baustellen) – Gegenstände also, die auf den ersten Blick keine Sympathie erwecken, sind sie doch direkte Ergebnisse des menschlichen Willens, zu beherrschen und zu dominieren. Ja, aber was sich schon von der Straße aus, von dieser Straße der Altstadt in Bordeaux, aufdrängt und ins Auge springt, ist eine von der Landschaft durchdrungene Wissenschaft, Strategien der List und des Dechiffrierens, nahezu unbekannte und geheime Affekte, gebunden an als Reviere empfundene und seit Jahrhunderten durchquerte Orte: Lockpfeifen, die Drosseln, Wachteln oder Wildschweine imitieren, Schmetterlingsnetze, Seile, Fangnetze und andere Werkzeuge für das Wattfischen, doch vor allem Netze und Reusen in allen Größen und Formen, mit großen oder kleinen Maschen, streckbar, biegsam, gelenkig.

Für den Fischfang also, und nur dafür, gibt es in der Kategorie Netze Spiegelnetze, Flaken, Ringwaden, Senker und Wurfnetze und in der Kategorie Reusen, neben Gründlingssäcken, aus denen die kleinen Fische nicht mehr entwischen können (so etwas wie ein Nullpunkt der Reuse), sämtliche Varianten, die dieser oder jener Fischart angepasst sind (man fängt Aale nicht wie Neunaugen oder Tintenfische), und vor allem Garnschläuche, diese gelenkigen, mehrere Meter langen Reusen – an der Decke des Geschäfts aufgehängt wirken sie wie biegsame mathematische Skulpturen: luftige, für die Tiefen des Wassers bestimmte Gegenstände, die für sich selbst stehen könnten, aber nur beflissene und stille Diener der listigen Intelligenz sind, der Metis, und zwar einer bäuerlichen Metis, gebunden an eine Landschaft, in diesem Fall mehr oder weniger an die Umgebung von Bordeaux: Denn selbst wenn die Maison Larrieu und das Geschäft (mit einer Fabrik im Finistère) auf ganz Frankreich und gar darüber hinaus ausstrahlen, so verbreitet diese Jahrhunderte alte Netz-Manufaktur mit ihrer gesamten Geschichte und was sie an Legenden in sich birgt vor allem eine Kenntnis, die in nahen und bekannten, tausendfach durchwanderten Gebieten verankert ist, wo Süßwasser nie weit vom Meer entfernt zu finden ist und die Gironde, hier nicht mehr die Garonne und noch nicht der Ozean, das Mündungsgebiet und die Schleusenkammer dieses Gleichgewichts bildet.

Diese Netze, Reusen und Garnschläuche erzählen jedoch vor allem von der Unendlichkeit der Struktur. Die Wiederholung der Maschen schreibt Formen in den Raum, die wie Versuche sind, ausgehend von festen Körpern Flüssigkeiten nachzuahmen. Um eben diese zu beschreiben, gab Salomon de Caus (nach dem in Paris am Square des Arts-et-Métiers eine Straße benannt ist) zu Beginn des 17. Jahrhunderts seinem Buch einen wunderbaren Titel: Les raisons des forces mouvantes, also: »Die Ursachen für wogende Kräfte«. Nun sind es eben diese Ursachen, um die es hier geht, und es sind diese Kräfte, die es einst zu erkennen und zu messen galt, damit jedes Netz und jede Reuse mit einer exakten Form übereinstimmte. Aus einer Welt der glatten Wasseroberflächen mit geheimen Strömungen und eingebetteter Kühle erhebt sich dank dieser eingetauchten Strukturen der Gesang des Mathems, und beim Betrachten dieses Geflechts aus geschmeidigen oder straffen Linien denkt man zwangsläufig an die Perspektive, ebenfalls eine Art von Reuse, mit deren Hilfe die Maler versucht haben, das Sichtbare einzufangen: dasselbe Paradoxon eines konvergierenden Parallelismus, derselbe Wille des Erhaschens, dasselbe Versteckspiel, dieselbe Hoffnung, etwas zu erfassen. Und was diese unmittelbare Nähe erzählt, ist vielleicht zunächst die Sinnlosigkeit, die menschlichen Tätigkeiten in eine manuelle und in eine intellektuelle Seite aufzuteilen – denn die Metis ist ihrem griechischen Konzept zufolge das, was die beiden Seiten in einer einzigen Falte vereint, für welche die Hand eben die Faltstelle wäre.

Hier soll keine simple Gleichung zwischen dem geometrischen Gitter eines perspektivischen Bildes und der Form einer Reuse, wo der gefangene Fisch genau auf dem Fluchtpunkt platziert wäre, aufgestellt werden. Einfacher wäre es zu sagen, dass in dem, was die Italiener einst die progettazione nannten, etwas Universelles liegt, also ein Raum, in dem man mehrere Positionsanzeiger frei bewegen und alle Anwendungsoberflächen variieren kann. Im Wasser und seinen »wogenden Kräften« wird dieser Raum zu einer biegsamen oder schwimmenden Perspektive und erzeugt für den Geist ein sehr markantes Muster.

Dies kann man sehen und ahnen, wenn man die Schaufenster der Maison Larrieu betrachtet, und deshalb ist es auch nicht belanglos, sich daran zu erinnern, dass die besagte Netz-Manufaktur 1622 von Baptiste Guignan gegründet wurde. Als Soldat von Ludwig XIII. hatte er während der Belagerung von La Rochelle Zeit totzuschlagen und sah den Fischern dabei zu, wie sie gekonnt ihre Netze woben. Bei seiner Rückkehr nach Bordeaux kam er auf die Idee, in der Rue des Ayres eine Werkstatt für die Herstellung von Netzen zu eröffnen, ganz in der Nähe der heutigen Adresse in der Rue Sainte-Colombe, zu einer Zeit, als im Hafen geschäftiges Treiben herrschte. Mit dieser Jahreszahl befinden wir uns ganz in der Nähe von Salomon de Caus und auch ganz in der Nähe des großen perspektivischen Maschenwerks. Fluchtpunkt und Kreuzstich: Was sich jenseits der Stickerei des Raumes und der Familiengeschichte der Firma aufbaut (eine entfernte Nachgeborene von Guignan, die 1895 einen Larrieu heiratete, von denen direkt die derzeitigen Besitzer abstammen), ist ein wundersamer Schmelztiegel, in dem sich mathematische Modelle mit Watt-Gerüchen vermischen. Dort gestaltet die Geduld von Fischern, die zugleich Bauern sind, ebenso ausgeklügelte Gegenstände wie die mazzocchi von Paolo Uccello, mit denen die lange Geschichte eines Vertrauensverhältnisses mit der Landschaft geschrieben wird. Zwischen dem vielleicht zerstreuten Blick des Baptiste Guignan auf einem Kai von La Rochelle und der heutigen Schaufensterfront der Rue Sainte-Colombe tritt eine ganzes Spektrum von Handgriffen vor, die von den Formen und den aufeinanderfolgenden Gleitbewegungen der Natur herbeigerufen werden, eine ganze Mimetik, eine ganze Bildung: die Entstehung eines zivilisatorischen Gewebes, dessen Knoten dank des Hauses Larrieu und seiner Gegenstände dieser besondere Punkt der Stadt Bordeaux ist.

Schwärme kleiner silbriger Fische, die in Windeseile davongleiten, gemächliche Wassersäume, abgeschirmt von Strömungen, kreisende Wirbel, plötzlicher Stillstand und Saugwirkungen, Kriechbewegungen von Krebsen und der von Elgern zerfurchte Wattsand, dieser Art von kleinen Forken, mit denen man Muscheln ausfindig macht, Setzkescher oder Körbe voll feuchtem, in der Sonne schimmerndem Glibber – all das, das lebendige Zucken der Landschaft, ist in das Gefühl eingebunden, das man spürt, wenn man die Rue Sainte-Colombe 51 betritt. Ich erinnere mich: an die drei verflochtenen Lachse, die die Initialen LF einrahmen und über denen eine Krone prangt, das Emblem des Hauses; an den Parkettboden des Geschäfts mit den Netzen, lieferbereit in durchsichtigen, mit Etiketten versehenen Plastiktüten; an das kleine, ziemlich vollgestopfte Büro hinter der verglasten Zwischenwand (das Modell eines Thunfischerboots, dessen ausgebleichte blaue und rote Segel von außen zu sehen sind, ein Stadtplan von Bordeaux und eine Frankreichkarte inmitten alter Ordner, wie in einem Notariat, und moderne, aber nicht brandneue Computer); an die Materialien der Seile, die riechenden aus Hanf, Leinen oder Sisal, die bunten oder glänzenden aus synthetischen Geflechten (Nylon, Polyethylen, Polyamid); ich erinnere mich auch an den gelockerten Krawattenknoten des liebenswürdigen Besitzers, der mir ohne weiteres in der Köderabteilung kurz so manchen Artikel vorführte; und schließlich an den Katalog der Manufaktur, der vor allem ein Katalog der Namen und der so direkten Nähe ist, die er zwischen dieser gesamten Fischerei- und Jagdwissenschaft und der Grausamkeit enthüllt. Hier finden sich nämlich nicht nur Netze, sondern auch Fallen mit Klemmen und Halsschlingen in Einklang mit dieser unentwirrbaren und rätselhaften Verbindung zwischen Land und Blut, die zugleich abschreckt und fasziniert und deren...