Lincoln im Bardo - Roman

von: George Saunders

Luchterhand Literaturverlag, 2018

ISBN: 9783641211950 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Lincoln im Bardo - Roman


 

IX

Schon früh in meiner Jugend habe ich eine gewisse Vorliebe bei mir festgestellt, die mir ganz natürlich, ja wunderbar vorkam, anderen aber – Vater, Mutter, Brüdern, Freunden, Lehrern, Kirchenmännern, Großeltern – erschien sie ganz und gar nicht natürlich oder wunderbar, sondern pervers und schändlich, und das setzte mir zu: Sollte ich meine Vorliebe verleugnen und heiraten und mich zu einem sicheren, sagen wir, Aushungern der Erfüllung verdammen? Ich wollte gern glücklich sein (so wie alle Menschen, denke ich), und so begann ich eine unschuldige – nun ja, eine ziemlich unschuldige – Freundschaft mit einem Burschen von meiner Schule. Doch bald erkannten wir, dass es für uns keine Hoffnung gab, und daher nahm ich an einem bestimmten Nachmittag (übergehen wir einige Einzelheiten und das Holpern und Stocken und die Neuanläufe und die tiefempfundenen Vorsätze und den Verrat dieser Vorsätze in, da, einer Ecke des, äh, Kutschenhauses und so weiter), ungefähr einen Tag nachdem Gilbert bei einem besonders offenen Gespräch verkündet hatte, er wolle von nun an »anständig leben«, nahm ich also ein Fleischermesser mit auf mein Zimmer, schrieb einen Brief an meine Eltern (Motto: Es tut mir leid) und einen an Gilbert (Ich habe geliebt und kann nun erfüllt abtreten) und schlitzte mir ziemlich grob über einem Porzellanbottich die Handgelenke auf.

Da mir angesichts der Menge Blut und seiner jäh prasselnden Röte auf dem weißen Porzellan schlecht wurde, ließ ich mich benommen am Boden nieder, was auch der Moment war, da ich – hach, das ist jetzt ein bisschen peinlich, aber ich sag es trotzdem: Ich überlegte es mir anders. Erst jetzt (wo ich schon fast durch die Tür war, sozusagen) wurde mir klar, wie unsagbar schön alles war, wie akkurat zu unserem Vergnügen eingerichtet, ich begriff, dass ich kurz davorstand, ein wundersames Geschenk zu verschleudern, das Geschenk, jeden Tag von neuem durch dieses riesige, sinnenfrohe Paradies zu schlendern, über diesen großen Marktplatz, der liebevoll jegliche Köstlichkeit darbot: Insektenschwärme, die durch die schrägen Strahlen der Augustsonne tanzen; ein Trio schwarzer Pferde, die Kopf an Kopf haxentief in einem Schneefeld stehen; ein duftender Schwaden Rindsbrühe auf den Schwingen der Brise aus einem orange getönten Fenster an einem kühlen Herbst –

roger bevins iii

Mein Herr. Freund.

hans vollman

Mach ich – mach ich’s grad wieder?

roger bevins iii

Und wie.

Holt tief Luft. Alles ist gut.

Ihr verstört unseren Neuankömmling gerade etwas, fürchte ich.

hans vollman

Bitte vielmals um Verzeihung, junger Herr. Ich wollte Euch nur, auf meine Weise, willkommen heißen.

roger bevins iii

Da Euch also »angesichts der Menge Blut schlecht wurde«, ließet Ihr Euch »benommen am Boden nieder« und überlegtet es Euch »anders«.

hans vollman

Genau.

Da mir angesichts der Menge Blut und seiner jäh prasselnden Röte auf dem weißen Porzellan schlecht wurde, ließ ich mich benommen am Boden nieder. Das war der Moment, als ich es mir anders überlegte.

Meine einzige Hoffnung bestand darin, von einem der Dienstboten gefunden zu werden, das wusste ich, also taumelte ich zur Treppe und stürzte mich hinunter. Von dort schaffte ich es, in die Küche zu kriechen –

Und da bleibe ich liegen.

Ich warte darauf, gefunden zu werden (am Boden zur Ruhe gekommen, Kopf beim Ofen, umgekippter Stuhl neben mir, ein Stück Orangenschale an meiner Wange), auf dass man mich wiederbelebe und ich auferstehen könne, um den furchtbaren Schlamassel aufzuräumen, den ich angerichtet habe (das wird Mutter gar nicht gefallen), und dann hinauszugehen in diese wunderschöne Welt, als neuer, mutigerer Mann, und endlich zu leben! Werde ich meiner Vorliebe nachgehen? Und ob! Und wie! Ich war nahe dran, alles zu verlieren, und deshalb bin ich jetzt frei von aller Angst, Zögerlichkeit und Scheu. Wenn ich erst wiederbelebt bin, werde ich andächtig auf Erden wandeln und dabei aufsaugen, riechen, kosten, lieben, wen ich möchte; berühren, probieren, ganz still stehen inmitten aller Schönheiten dieser Welt, wie zum Beispiel: ein schlafender, traumstrampelnder Hund im dreieckigen Baumschatten; eine Zuckerpyramide auf einem schwarzhölzernen Tisch, Kristall um Kristall von einem unmerklichen Lufthauch umgestaltet; eine ziehende Wolke, wie ein Schiff über einer grünen Hügelkuppe, wo bunte Hemden ungestüm an einer Wäscheleine im Wind tanzen, während sich unten in der Stadt ein blauvioletter Tag entfaltet (die leibhaftige Muse des Frühlings), wo jeder feuchtgrasige, blütenbesteckte Garten dem absoluten Irrsinn verfällt vor lauter –

roger bevins iii

Freund.

Bevins.

hans vollman

»Bevins« hatte mehrere Augenpaare  Die alle hin und her zuckten  Mehrere Nasen  Seine Hände (er hatte auch mehrere Paar Hände, oder seine Hände waren so flink, dass es viele zu sein schienen) fuchtelten nach hier und nach dort, ergriffen irgendetwas und hoben es empor zu seinem Gesicht und dessen sehr neugieriger

Bisschen gruselig

Während er seine Geschichte erzählte, waren ihm so viele zusätzliche Augen und Nasen und Hände gewachsen, dass sein Körper fast darunter verschwand  Augen wie Traubenbüschel  Hände, die die Augen betasteten  Nasen, die an den Händen schnüffelten

Beide Handgelenke aufgeschlitzt.

willie lincoln

Der Neuankömmling saß auf dem Dach seines Kranken-Häuschens und starrte verblüfft auf Mr. Bevins hinunter.

hans vollman

Und lugte ab und zu erstaunt zu Euch, mein Herr. Zu Eurem beachtlichen –

roger bevins iii

Ach, kommt, jetzt müssen wir doch nicht vertiefen, dass –

hans vollman

Der andere Mann (vom Balken erschlagen)  Ganz schön nackt  Glied angeschwollen auf die Größe von  Konnte gar nicht woandershin gucken

Hüpfte auf und nieder während er

Körper wie ein Knödel  Breite flache Nase wie von einem Schaf

Wirklich ganz schön nackt

Schlimmes Loch im Kopf  Wie kann er bloß herumlaufen und reden wenn er so einen schlimmen –

willie lincoln

Sodann gesellte sich der Reverend Everly Thomas zu uns.

hans vollman

Der herbeieilte, wie er immer herbeieilt, hektisch humpelnd, mit hochgezogenen Augenbrauen und in alle Richtungen abstehendem Haar, panische Blicke über die Schulter werfend, den Mund zu einem perfekten O des Entsetzens geformt. Und doch sprach er, wie er immer spricht, absolut ruhig und vernünftig.

roger bevins iii

Ein Neuling?, fragte der Reverend.

Ich glaube, wir haben die Ehre, einen jungen Herrn der Familie Carroll begrüßen zu dürfen, sagte Mr. Bevins.

Der Knabe sah uns nur verständnislos an.

hans vollman

Der Neuling war ein Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren. Ein hübscher Knabe, der blinzelte und sich vorsichtig umsah.

reverend everly thomas

Wie ein Fisch, der angespült wurde und nun reglos und wachsam daliegt, wohl wissend, wie verletzlich er ist.

hans vollman

Erinnerte mich an einen Neffen, der einmal auf dem zugefrorenen Fluss durchs Eis gebrochen und völlig durchgefroren nach Hause gekommen war. Aus Angst vor der Bestrafung wagte er nicht einzutreten; er lehnte an der Tür, auf der Suche nach dem geringsten bisschen Wärme, betäubt, schuldbewusst, vor Kälte fast fühllos, so fand ich ihn vor.

roger bevins iii

Sicher hast du das Gefühl, dass es dich irgendwo hinzieht?, fragte Mr. Vollman. Einen Drang? An irgendeinen Ort? Zu gehen? Wo es angenehmer ist?

Ich habe das Gefühl, dass ich warten soll, sagte der Junge.

Es kann sprechen!, sagte Mr. Bevins.

reverend everly thomas

Warten? Worauf?, sagte Mr. Knödelschaf.

Meine Mutter, sagte ich. Meinen Vater. Sie kommen bald. Um mich abzuholen  Mr. Knödelschaf schüttelte betrübt den Kopf  Sein Glied schüttelte sich betrübt mit

Vielleicht kommen sie, sagte der vieläugige Mann. Aber dass sie dich abholen, bezweifle ich.

Dann lachten sie alle drei  Die vielen Hände des vieläugigen Mannes klatschten dazu  Und das geschwollene Glied von Mr. Knödelschaf wedelte  Sogar der Reverend lachte   Obwohl, sogar lachend sah er noch verschreckt aus

Jedenfalls werden sie nicht lange bleiben, sagte Mr. Knödelschaf.

Und sich die ganze Zeit woandershin wünschen, sagte der vieläugige Mann.

Nur ans Mittagessen denken, sagte der Reverend.

Bald wird es Frühling  Die Weihnachtsspielzeuge, mit denen ich kaum gespielt habe  Mein Glassoldat mit dem drehbaren Kopf  Und den auswechselbaren Epauletten  Bald blühen die Blumen  Lawrence vom Gartenschuppen wird jedem von uns eine Tasse Blumensamen...