Suchen und Finden
IX
Schon früh in meiner Jugend habe ich eine gewisse Vorliebe bei mir festgestellt, die mir ganz natürlich, ja wunderbar vorkam, anderen aber – Vater, Mutter, Brüdern, Freunden, Lehrern, Kirchenmännern, Großeltern – erschien sie ganz und gar nicht natürlich oder wunderbar, sondern pervers und schändlich, und das setzte mir zu: Sollte ich meine Vorliebe verleugnen und heiraten und mich zu einem sicheren, sagen wir, Aushungern der Erfüllung verdammen? Ich wollte gern glücklich sein (so wie alle Menschen, denke ich), und so begann ich eine unschuldige – nun ja, eine ziemlich unschuldige – Freundschaft mit einem Burschen von meiner Schule. Doch bald erkannten wir, dass es für uns keine Hoffnung gab, und daher nahm ich an einem bestimmten Nachmittag (übergehen wir einige Einzelheiten und das Holpern und Stocken und die Neuanläufe und die tiefempfundenen Vorsätze und den Verrat dieser Vorsätze in, da, einer Ecke des, äh, Kutschenhauses und so weiter), ungefähr einen Tag nachdem Gilbert bei einem besonders offenen Gespräch verkündet hatte, er wolle von nun an »anständig leben«, nahm ich also ein Fleischermesser mit auf mein Zimmer, schrieb einen Brief an meine Eltern (Motto: Es tut mir leid) und einen an Gilbert (Ich habe geliebt und kann nun erfüllt abtreten) und schlitzte mir ziemlich grob über einem Porzellanbottich die Handgelenke auf.
Da mir angesichts der Menge Blut und seiner jäh prasselnden Röte auf dem weißen Porzellan schlecht wurde, ließ ich mich benommen am Boden nieder, was auch der Moment war, da ich – hach, das ist jetzt ein bisschen peinlich, aber ich sag es trotzdem: Ich überlegte es mir anders. Erst jetzt (wo ich schon fast durch die Tür war, sozusagen) wurde mir klar, wie unsagbar schön alles war, wie akkurat zu unserem Vergnügen eingerichtet, ich begriff, dass ich kurz davorstand, ein wundersames Geschenk zu verschleudern, das Geschenk, jeden Tag von neuem durch dieses riesige, sinnenfrohe Paradies zu schlendern, über diesen großen Marktplatz, der liebevoll jegliche Köstlichkeit darbot: Insektenschwärme, die durch die schrägen Strahlen der Augustsonne tanzen; ein Trio schwarzer Pferde, die Kopf an Kopf haxentief in einem Schneefeld stehen; ein duftender Schwaden Rindsbrühe auf den Schwingen der Brise aus einem orange getönten Fenster an einem kühlen Herbst –
roger bevins iii
Mein Herr. Freund.
hans vollman
Mach ich – mach ich’s grad wieder?
roger bevins iii
Und wie.
Holt tief Luft. Alles ist gut.
Ihr verstört unseren Neuankömmling gerade etwas, fürchte ich.
hans vollman
Bitte vielmals um Verzeihung, junger Herr. Ich wollte Euch nur, auf meine Weise, willkommen heißen.
roger bevins iii
Da Euch also »angesichts der Menge Blut schlecht wurde«, ließet Ihr Euch »benommen am Boden nieder« und überlegtet es Euch »anders«.
hans vollman
Genau.
Da mir angesichts der Menge Blut und seiner jäh prasselnden Röte auf dem weißen Porzellan schlecht wurde, ließ ich mich benommen am Boden nieder. Das war der Moment, als ich es mir anders überlegte.
Meine einzige Hoffnung bestand darin, von einem der Dienstboten gefunden zu werden, das wusste ich, also taumelte ich zur Treppe und stürzte mich hinunter. Von dort schaffte ich es, in die Küche zu kriechen –
Und da bleibe ich liegen.
Ich warte darauf, gefunden zu werden (am Boden zur Ruhe gekommen, Kopf beim Ofen, umgekippter Stuhl neben mir, ein Stück Orangenschale an meiner Wange), auf dass man mich wiederbelebe und ich auferstehen könne, um den furchtbaren Schlamassel aufzuräumen, den ich angerichtet habe (das wird Mutter gar nicht gefallen), und dann hinauszugehen in diese wunderschöne Welt, als neuer, mutigerer Mann, und endlich zu leben! Werde ich meiner Vorliebe nachgehen? Und ob! Und wie! Ich war nahe dran, alles zu verlieren, und deshalb bin ich jetzt frei von aller Angst, Zögerlichkeit und Scheu. Wenn ich erst wiederbelebt bin, werde ich andächtig auf Erden wandeln und dabei aufsaugen, riechen, kosten, lieben, wen ich möchte; berühren, probieren, ganz still stehen inmitten aller Schönheiten dieser Welt, wie zum Beispiel: ein schlafender, traumstrampelnder Hund im dreieckigen Baumschatten; eine Zuckerpyramide auf einem schwarzhölzernen Tisch, Kristall um Kristall von einem unmerklichen Lufthauch umgestaltet; eine ziehende Wolke, wie ein Schiff über einer grünen Hügelkuppe, wo bunte Hemden ungestüm an einer Wäscheleine im Wind tanzen, während sich unten in der Stadt ein blauvioletter Tag entfaltet (die leibhaftige Muse des Frühlings), wo jeder feuchtgrasige, blütenbesteckte Garten dem absoluten Irrsinn verfällt vor lauter –
roger bevins iii
Freund.
Bevins.
hans vollman
»Bevins« hatte mehrere Augenpaare Die alle hin und her zuckten Mehrere Nasen Seine Hände (er hatte auch mehrere Paar Hände, oder seine Hände waren so flink, dass es viele zu sein schienen) fuchtelten nach hier und nach dort, ergriffen irgendetwas und hoben es empor zu seinem Gesicht und dessen sehr neugieriger
Bisschen gruselig
Während er seine Geschichte erzählte, waren ihm so viele zusätzliche Augen und Nasen und Hände gewachsen, dass sein Körper fast darunter verschwand Augen wie Traubenbüschel Hände, die die Augen betasteten Nasen, die an den Händen schnüffelten
Beide Handgelenke aufgeschlitzt.
willie lincoln
Der Neuankömmling saß auf dem Dach seines Kranken-Häuschens und starrte verblüfft auf Mr. Bevins hinunter.
hans vollman
Und lugte ab und zu erstaunt zu Euch, mein Herr. Zu Eurem beachtlichen –
roger bevins iii
Ach, kommt, jetzt müssen wir doch nicht vertiefen, dass –
hans vollman
Der andere Mann (vom Balken erschlagen) Ganz schön nackt Glied angeschwollen auf die Größe von Konnte gar nicht woandershin gucken
Hüpfte auf und nieder während er
Körper wie ein Knödel Breite flache Nase wie von einem Schaf
Wirklich ganz schön nackt
Schlimmes Loch im Kopf Wie kann er bloß herumlaufen und reden wenn er so einen schlimmen –
willie lincoln
Sodann gesellte sich der Reverend Everly Thomas zu uns.
hans vollman
Der herbeieilte, wie er immer herbeieilt, hektisch humpelnd, mit hochgezogenen Augenbrauen und in alle Richtungen abstehendem Haar, panische Blicke über die Schulter werfend, den Mund zu einem perfekten O des Entsetzens geformt. Und doch sprach er, wie er immer spricht, absolut ruhig und vernünftig.
roger bevins iii
Ein Neuling?, fragte der Reverend.
Ich glaube, wir haben die Ehre, einen jungen Herrn der Familie Carroll begrüßen zu dürfen, sagte Mr. Bevins.
Der Knabe sah uns nur verständnislos an.
hans vollman
Der Neuling war ein Junge von vielleicht zehn oder elf Jahren. Ein hübscher Knabe, der blinzelte und sich vorsichtig umsah.
reverend everly thomas
Wie ein Fisch, der angespült wurde und nun reglos und wachsam daliegt, wohl wissend, wie verletzlich er ist.
hans vollman
Erinnerte mich an einen Neffen, der einmal auf dem zugefrorenen Fluss durchs Eis gebrochen und völlig durchgefroren nach Hause gekommen war. Aus Angst vor der Bestrafung wagte er nicht einzutreten; er lehnte an der Tür, auf der Suche nach dem geringsten bisschen Wärme, betäubt, schuldbewusst, vor Kälte fast fühllos, so fand ich ihn vor.
roger bevins iii
Sicher hast du das Gefühl, dass es dich irgendwo hinzieht?, fragte Mr. Vollman. Einen Drang? An irgendeinen Ort? Zu gehen? Wo es angenehmer ist?
Ich habe das Gefühl, dass ich warten soll, sagte der Junge.
Es kann sprechen!, sagte Mr. Bevins.
reverend everly thomas
Warten? Worauf?, sagte Mr. Knödelschaf.
Meine Mutter, sagte ich. Meinen Vater. Sie kommen bald. Um mich abzuholen Mr. Knödelschaf schüttelte betrübt den Kopf Sein Glied schüttelte sich betrübt mit
Vielleicht kommen sie, sagte der vieläugige Mann. Aber dass sie dich abholen, bezweifle ich.
Dann lachten sie alle drei Die vielen Hände des vieläugigen Mannes klatschten dazu Und das geschwollene Glied von Mr. Knödelschaf wedelte Sogar der Reverend lachte Obwohl, sogar lachend sah er noch verschreckt aus
Jedenfalls werden sie nicht lange bleiben, sagte Mr. Knödelschaf.
Und sich die ganze Zeit woandershin wünschen, sagte der vieläugige Mann.
Nur ans Mittagessen denken, sagte der Reverend.
Bald wird es Frühling Die Weihnachtsspielzeuge, mit denen ich kaum gespielt habe Mein Glassoldat mit dem drehbaren Kopf Und den auswechselbaren Epauletten Bald blühen die Blumen Lawrence vom Gartenschuppen wird jedem von uns eine Tasse Blumensamen...
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