Kleists Michael Kohlhaas - Ein Modell ästhetischer Theorie

von: Berthold Wendt

zu Klampen Verlag, 2018

ISBN: 9783866746961 , 360 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 20,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Kleists Michael Kohlhaas - Ein Modell ästhetischer Theorie


 

B) Interpretation des Michael Kohlhaas


B 01) Einleitender Überblick mit Einführung der Hölderlin’schen Gattungsbegriffe


Im stimmigsten Fall – bei der Marquise von O… und dem Prinzen von Homburg – begründet Kleist die dramatische Form aus sich selbst, indem er sie aus einem in sich antagonistischen ›An-sich‹ heraus entwickelt, in dem Autonomie und Heteronomie in einem entscheidenden Moment verschränkt sind328. Im Unterschied zu diesen beiden Werken ist im Kohlhaas dieses ›An-sich‹ zu Beginn epischer Natur. Vermöge der Störung, die das vermeintliche Gleichgewicht der antagonistischen Tendenzen des epischen Ganzen irritiert, beginnt ein Prozess, in dem das epische Gedicht in das dramatische, und dieses in das lyrische Gedicht übergeht. Die vorliegende Betrachtung der Kleist’schen Erzählung lässt also eine Nähe zu den Bestimmungen der Hölderlin’schen Dichtungstheorie erkennen; sie sollen in der folgenden Interpretation explizit gemacht werden. Ein Aufbau des Michael Kohlhaas gemäß den Bestimmungen der Hölderlin’schen Dichtungstheorie lag gewiss nicht in Kleists Absicht und es soll hier auch nicht der Versuch gemacht werden, dies begründen zu wollen. Vielmehr hat er seinen Grund in der Sache selbst. Von Kleist aus gesehen verdankt er sich einem kongenialen Zufall, besser einem Zusammenfallen, denn er ist ebenso konsequent wie in Kleists Werk einzigartig.

Kunstcharakter

Tendenz

Geist

episches Gedicht

naiv

heroisch

idealisch

tragisches Gedicht

heroisch

idealisch

naiv

lyrisches Gedicht

idealisch

naiv

heroisch

Als Kunstcharakter wird das im Kunstwerk erscheinende Stoffliche bezeichnet, als Tendenz die Ausrichtung des Handelns, als Geist die Vorstellung des Zwecks. Im epischen Gedicht ist der Kunstcharakter naiv, etwa als Beschreibung der »epischen Selbständigkeit« der »äußeren Umstände(n)«331; die Tendenz heroisch in der Behauptung des bedrohten Subjekts; der Geist idealisch als hypostasierte Annahme der harmonischen Einheit des Unterschiedenen. Im tragischen Gedicht ist der Kunstcharakter heroisch, nämlich unmittelbar als Kollision der entgegengesetzten Willen; die Tendenz idealisch, denn der Zweck des Willens geht auf unbedingte Verfügung über die Realität gemäß der Allgemeinheit seines Zwecks; der Geist ist naiv als Einsicht in die vermeintliche Vernunft des Ganzen, die die Einseitigkeit der Zwecke durch Scheitern bestraft. Im lyrischen Gedicht ist der Kunstcharakter idealisch als unmittelbares stimmungsmäßiges sich Gegebensein des sich auf sich beziehenden Subjekts der Reflexion; die Tendenz ist naiv, denn das Sich-Ausprechen des Subjekts ist als intellektuelles Verhalten gegenüber der Welt ein furchtloses sie Belassen; der Geist ist heroisch, da sich das Subjekt als zurückgezogen Sich-auf-sich-Beziehendes heroisch gegen die Außenwelt abgrenzt.

B 02) Die Einleitung zu Michael Kohlhaas


Kleist stellt der Erzählung eine Einleitung voran, die stilistisch von dem Übrigen abgesetzt ist. Dort bezeichnet der Erzähler Kohlhaas als einen Mann, der »in einer Tugend [nicht] ausgeschweift hätte« (II, 9). Von vielen Interpreten wird diese Aussage als vorweggenommenes Resultat der Beurteilung des Handelns des Helden betrachtet. Dabei ist unterstellt, dass Ausschweifungen per se etwas Negatives seien334. Wichtiger aber ist, dass den Interpreten, die sich gerne auf die Seite der Welt schlagen, wie sie ist, und damit weg vom Kunstwerk, entgeht, dass der daraus resultierende Widerspruch vom »rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit« (II, 9) in den Protagonisten selber fällt und seine Subjektivität zerreißt. – Drei Fragen stellen sich deshalb in diesem Fall: a) Wer macht diese Aussage? b) Wie ist sie inhaltlich zu verstehen? c) Wie steht die Einleitung zum Ganzen der novellistischen Erzählung?

B 03) Die Exposition des Konflikts; episches Gedicht


Die Handlung der Novelle beginnt – nach der stilistisch andersartigen Einleitung – als naive Beschreibung der Betreibung des Gewerbes des Protagonisten, d. h. der Übereinstimmung des Selbstbewußtseins mit sich selbst in seiner Entäußerung und damit mit allen Subjekten341. Das Bewusstsein des Anerkanntseins erlaubt den Genuss der eigenen endlichen Existenz und den Ausbau des Gewerbes in der Perspektive einer gesicherten Zukunft der Nachfahren. Damit gehen aber als Bestimmtheiten des als causa materialis vorgestellten Stoffs, der beschrieben wird, »Bestrebungen, Vorstellungen, Gedanken oder Leidenschaften«342, also causae effizientes ein, die bezeichnet werden und »Phantasien, Möglichkeiten«343, also causae finales die gebildet werden. Die naive Beschreibung hat ihren Grund in der Vorstellung des Protagonisten von der vernünftigen Übereinstimmung des Unterschiedenen, auf deren Entwicklung seine partikularen Bestrebungen ausgerichtet sind. Hegel begründet in der Phänomenologie des Geistes344 den Begriff der allgemeinen wechselseitigen Anerkennung als Resultat der Emanzipation des Knechtes gegenüber dem Herrn, d. h. historisch des Bürgertums gegenüber dem Adel, auf der Grundlage des bürgerlichen Rechts345. Zwischen der Beschreibung des sich am Dasein erfreuenden Tuns des Protagonisten und dem idealischen Geist des hier epischen Gedichts, der Anerkennung, vermittelt die das Dasein verändernde, »ruhig[e]« (II, 9) Tätigkeit. Die Verschränkung von historischen und begrifflichen Bestimmungen, letztlich die Hypostase einer per Rechtsordnung vernünftig organisierten Wirklichkeit, ist ideologischer Schein und beruht auf dem Gleichgewicht zweier unvereinbarer Tendenzen. Ihre Vermischung drückt sich in Formulierungen wie der von der »allgemeinen Not der Welt« (II, 13) aus. Diese Not besteht anscheinend gleichgültig neben der Überzeugung von der die Arbeitsteilung regelnden vernünftigen Rechtsordnung. Sie lässt individuelle Abweichungen als notwendige Folge der Differenz von Begriff und Empirie, als kontingente Missstände erscheinen, die unter den Begriff der Privation fallen. Kohlhaas befindet sich in der Situation eines jeden einer Ideologie346 anhängenden Menschen. Der Verlauf der Handlung hebt dieses gleichgültige Auch (Hegel347) eines Nebeneinanders und damit die Ambivalenz der dem Konflikt zugrundeliegenden antagonistischen Tendenzen auf. Sie polarisieren sich in die Gestalten von Protagonist und charakteristisch wechselndem Antagonist mit ihren jeweiligen Zwecksetzungen.

B 04) Rechtssubjekt moralisch


Es ist eingangs die Ambivalenz des Rechtszustandes dargelegt worden. Die fictio juris schließt die Verwechslung oder Überlagerung von moralischen und ethischen Bestimmungen im Rechtgefühl notwendig ein. Die naive Beschreibung des epischen Teils geht von diesen Überlagerungen aus und nutzt zum einen die ethischen Überlegungen des Kohlhaas als Kontrast, auf dessen Hintergrund die Gewalt scharf hervortritt. Zum anderen führt der Versuch des Subjekts, die gegebenen Bedingungen des Rechtszustands mit der Einheit seines »Rechtgefühls« (II, 14) zu vereinbaren, zur Spaltung des Selbstbewusstseins.

B 05) Herses Verhör


»Spornstreichs auf dem Wege nach Dresden war er schon, als er, bei dem Gedanken an den Knecht, und an die Klage, die man auf der Burg gegen ihn führte, schrittweis zu reiten anfing, sein Pferd, ehe er noch tausend Schritt gemacht hatte, wieder wandte, und zur vorgängigen Vernehmung des Knechts, wie es ihm klug und gerecht schien, nach Kohlhaasenbrück einbog. Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt schon bekanntes Gefühl machte ihn, trotz der erlittenen Beleidigungen, geneigt, falls nur wirklich dem Knecht, wie der Schlossvogt behauptete, eine Art von Schuld beizumessen sei, den Verlust der Pferde, als eine gerechte Folge davon, zu verschmerzen.« (II, 15 f.)

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