Benedikt XVI. - Seine Papstjahre aus nächster Nähe

von: Paul Badde

LangenMüller, 2018

ISBN: 9783784483375 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Benedikt XVI. - Seine Papstjahre aus nächster Nähe


 

Habemus papam: Epochenwandel in Rom – 2005

Eine große Freude – Rom, 19. April 2005

Erleichterung ist das Erste in den Zügen Papst Benedikts XVI. Er reißt die Arme über dem Petersplatz hoch wie ein Boxer. Alle Erdenschwere, die Joseph Kardinal Ratzinger bis gestern noch oft gedrückt und gefesselt zu haben schien, ist plötzlich von ihm abgefallen. Noch einmal reißt er die Arme hoch, und noch einmal! So hat ihn noch nie jemand gesehen, und er sich auch selber nicht. Nichts ist ihm zu groß, die purpurrote Prachtstola nicht, nicht das weiße Käppi, nicht einmal die Schuhe seines Vorgängers, dessen Nachbar und engster Vertrauter er über zwei Jahrzehnte war. Gestern noch ist er unbemerkt mit seinem Sekretär in einen kleinen Golf eingestiegen, ab heute ist er umgezogen, keine hundert Meter weiter, nur über die Straße hinweg. Doch jetzt sieht es aus, als hätte er im Himmel eine Wohnung genommen, als könne er gleich fliegen. Seine alte Wohnung wird er nie wiedersehen. Unbeschreiblicher Jubel empfängt ihn auf dem Sessel Petri, zuerst von den Massen auf dem Petersplatz, dann von den Römern, dann von den Italienern und schließlich von der verblüfften Welt und mehr noch von der Weltkirche, die plötzlich von einem der brillantesten und profiliertesten Köpfe des Erdballs geleitet und geführt wird. Das ist wahrhaftig ein Epochenwandel. Einer der klügsten Köpfe Europas auf dem vornehmsten Sessel des Abendlandes, nachdem Generationen von Intellektuellen der Kirche den Rücken gekehrt haben.

Eine dünne weiße Rauchfahne hat diesen Wandel eingeleitet, um 17.45 Uhr, der skeptisch von Millionen Augenpaaren beobachtet wurde. War sie weiß, war sie nicht doch wieder grau? Ändert sich die Farbe nicht wieder? Nein, endgültig, es war weiß. Nur der Himmel ist grau. Und da war auch schon klar: So schnell kann die Wahl nur Joseph Ratzinger unter allen Kardinälen gewonnen haben, der erste Deutsche seit Jahrhunderten in den Schuhen des Fischers Simon vom See Genezareth. Augenblicklich brach das Telefonnetz zusammen. Lachen und Rufen aus tausend Kehlen. Freude wehte wie ein Sturm über die tausend Köpfe hinweg der Peterskuppel entgegen. Die Glocken setzten ein, zuerst langsam, bedächtig, bis sie zu einem letzten tobenden Crescendo anwuchsen, für fast zwanzig Minuten. Jetzt erst lösen sich vollends alles Zögern und jeder Zweifel in letztem Jubel. Kein Fußballstadion hat solches Toben je gesehen.

Es fing schon an, bevor der neue Papst vor die Menge trat. Leichter Regen setzte ein, tropfenweise, wie Tränen. Alle Scheinwerfer um den Platz sprangen an, über den Säulen Berninis, über den Häusern in der Nachbarschaft, auf dem Hügel des Gianicolo, gleißend hell. Die Sonne kam hervor. Es regnete weiter. Irgendwo müsste gleich ein Regenbogen über dem Platz aufleuchten. In den Kolonnaden näherte sich Trommelwirbel. Die Schweizer Garde zog ein, in ihren prächtigsten Uniformen. Hinter ihnen Kapellen der Carabinieri, des italienischen Heers, der Marine, der Luftwaffe. Plötzlich wurden die Vorhänge hinter der gläsernen Tür über der Loggia zurückgezogen. Der rote Samt fiel zusammen, als Kardinal Estévez vortrat und rief: »Annuntio vobis gaudium magnum; habemus Papam: Eminentissimum ac Reverendissimum Dominum, Dominum Josephum Sanctae Romanae Ecclesiae Cardinalem Ratzinger qui sibi nomen imposuit Benedictum XVI. – Ich verkünde euch eine große Freude: Wir haben einen Papst. Es ist der ehrwürdigste Herr Joseph Kardinal Ratzinger, der sich den Namen Benedikt XVI. gegeben hat.«

Dann erst kam der neue Papst selbst nach vorne. »Liebe Brüder und Schwestern«, sagt er vor seinem ersten Segen, »nach dem großen Papst Johannes Paul II. haben die Herren Kardinäle mich gewählt, einen einfachen und demütigen Arbeiter im Weinberg des Herrn. Mich tröstet, dass der Herr auch mit ungenügenden Werkzeugen arbeiten und handeln kann, und ich vertraue mich vor allem euren Gebeten an. In der Freude des Auferstandenen und im Vertrauen auf seine fortwährende Hilfe gehen wir weiter. Der Herr wird uns helfen, und Maria, seine heiligste Mutter, wird an unserer Seite sein. Danke!«

Abschied von dem Mann in Schwarz – Rom, 20. April 2005

So werde ich Joseph Ratzinger seit gestern Abend nie mehr wiedersehen und erleben: neben dem Bildschirm meines PCs; durch die Jalousien vor meinem Fenster; hinter dem Rosmarin, durch den jetzt der Wind weht; wie er in der Abenddämmerung die Via del Mascherino an der Einmündung zur Via delle Grazie entlanggeht, um sich etwas die Beine zu vertreten. Seine Schritte hatten etwas vom gleichmäßigen Takt eines Metronoms. Fast immer war er allein. An der Buchhandlung vorne links blieb er vor dem Schaufenster stehen, um sich die neuesten Titel anzusehen. Bücher waren zeit seines Lebens die große Leidenschaft dieses einsamen Fußgängers – und die Neugier auf immer neue Titel. Täglich wurden ihm Neuerscheinungen mit immer anderen Widmungen auf seinen Schreibtisch gelegt, der sich ohnehin schon bog unter Arbeiten, die ein einzelner Mensch kaum bewältigen kann. Dennoch merkte er sich jeden einzelnen Titel, auch wenn er bei einer unserer letzten Begegnungen in den Kolonnaden seufzte: »Wie soll ich das nur alles lesen können?« Versucht hat er es aber immer wieder, das konnte er gar nicht anders. Ein zarter alter Mann in Schwarz, gegen die Winterkälte eingepackt in seinen einfachen Mantel, die Schultern in den letzten Jahren immer gebeugter, mit einer Baskenmütze wie ein Dorfpfarrer, darunter die Haare, die seit Jahren so schneeweiß sind, dass man gestern Abend auf der Loggia zweimal hinschauen musste, um zu erkennen, dass diesmal das weiße Seidenkäppi der Päpste auf seinem Kopf war.

Knapp zweihundert Schritte sind es von unserem Zuhause bis zu der alten Haustür seiner Wohnung auf der Piazza della Città Leonina – die er am Sonntagmorgen vor dem Konklave für immer verlassen hat, um von jetzt an auf der anderen Straßenseite, hinter der Sankt-Anna-Pforte, im obersten Stock des Apostolischen Palastes sein Leben zu verbringen. Vielleicht findet er da ja etwas mehr Ruhe. Hoffentlich ist er da nun etwas geschützter. Diesen Schutz darf man der Schweizer Garde eher zutrauen als den Polizisten vor seiner Haustür. Bei globalen Krisen waren es manchmal zwei Autos, in denen die Beamten hinter offenen Fenstern rauchten und auf kleinen Fernsehern Fußballspiele schauten. Das war es auch schon. Leibwächter habe ich nie an seiner Seite gesehen. Letzten Samstag noch hielt ihm nur sein Sekretär die Tür eines kleinen Fords vor der Haustür auf, mit dem die beiden dann um die Ecke bogen wie ein Dechant mit seinem Kaplan.

Wer früh genug aufstand, konnte ihn jeden Morgen treffen, wie er mit seiner Aktentasche quer über den Petersplatz zu seinem Büro ins Heilige Offizium eilte. Jeden Donnerstag in der Früh zelebrierte er auf Deutsch die heilige Messe im Campo Santo Teutonico. Die Sicherheit Kardinal Ratzingers war nie ganz von dieser Welt, und auch nicht die Macht dieses ehemaligen Nachfolgers der Großinquisitoren. Seine Sicherheit bestand am ehesten in seiner Scheu, mit der er wie ein Reh durch die Straßen des Borgo eilte, mit hellwachen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Immer sah und erkannte er mich schon von Weitem. Denn ich bin ihm oft begegnet, seit Jahren schon. Vor vielen Jahren habe ich mir bei einem Empfang im Bayerischen Hof in München einmal ein Glas Champagner über den Anzug gegossen, als er sich durch die Menge einen Weg zu mir bahnte: »Herr Badde!«

Das war, als er gerade Salz der Erde vorgestellt hatte: ein langes Gespräch, das er mit meinem Freund Peter Seewald geführt hatte. Ich weiß nicht, wie viele Briefe und Grüße er von mir bekommen hat – und ich von ihm. Wir kamen in gewisser Weise nicht voneinander los – bis hin zu der Wohnung nicht, die mir schließlich in seiner nächsten Nachbarschaft angeboten wurde, nachdem ich kurz zuvor in Jerusalem ein langes Schreiben von ihm erhalten hatte. »Divina provvidenza« würde er das nennen, »göttliche Vorsehung«, wie immer, wenn er ins Italienische auszuweichen schien, wenn er Worte benutzen wollte, die im Deutschen ihren Wert verloren zu haben schienen wie eine alte entwertete Währung.

An einem Frühlingsabend sind wir vor Kurzem noch einmal zusammen über den Petersplatz gegangen, nach Weihnachten bin ich ihm wieder einmal mitten im Gewühl begegnet, durch das er sich so unbeachtet einen Weg bahnte, als trüge er eine Tarnkappe. Jetzt aber erinnere ich mich vor allem an einen sonnigen Spätnachmittag im letzten September, als ich ihm begegnete, als ich gerade zwei volle Mülltüten zu den Müllcontainern unten in der Via del Mascherino brachte. »Herr Badde!«, sagte er wieder mit seiner hohen Stimme. Er lächelte mich verlegen an und hielt mir die Hand hin, während ich die Hände noch voll hatte. Es war ein bisschen peinlich. Er wolle sich herzlich bedanken für einen Artikel in der WELT über ein wunderbares Tuchbild mit dem Gesicht Christi, sagte er, das ich davor in den Abruzzen entdeckt hatte. Es ist das österliche Gesicht Christi, dessen Ursprung völlig rätselhaft ist. Das Material dieses durchsichtigen Lichtbildes besteht aus Muschelseide. Doch das Gewebe lässt sich überhaupt nicht bemalen.

Das Thema faszinierte Joseph Ratzinger, den nichts so fesselt wie die wunderbare Menschwerdung des Gottessohnes, dem er seit gestern als Stellvertreter dient. Nach dieser Begegnung habe ich ihm meinen letzten Brief geschickt. Von der letzten Muschelseidenweberin des Mittelmeers hatte ich ein Büschel von jener rätselhaften Muschelseide erhalten. Schon dieses Garn war ein kleiner Schatz: das Gold der Meere, weicher als Kaschmirwolle, feiner als Engelshaar. In der Sonne leuchtet es wie Kupfer. Dieses Büschel steckte ich in ein Kuvert...