Sturmzeit - Roman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2018

ISBN: 9783641229610 , 640 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Sturmzeit - Roman


 

1

Der Junitag verdämmerte in rotgoldenem Abendlicht. Über den blassblauen Himmel zogen ein paar zerrupfte Wolken, in den Wiesen zirpten Grillen, und die Blätter der Bäume rauschten leise. Die Tannenwälder am Horizont wurden dunkler, die Schatten über den Wiesen länger. Die Stämme der Kiefern leuchteten kastanienfarben.

»Morgen«, sagte Maksim, »fahre ich nach Berlin zurück.«

Unvermittelt hatte der strahlende Abend seinen Glanz verloren. Felicia Degnelly, die neben Maksim am Ufer eines Baches saß, blickte erschrocken auf. »Morgen? Aber warum denn? Der Sommer hat doch gerade erst angefangen!«

Maksims Antwort war ausweichend. »Ich treffe Freunde. Wichtige Freunde.«

»Genossen!«, sagte Felicia spöttisch, aber ihr Spott sollte nur verbergen, wie verletzt sie war. Die Genossen kamen vor ihr, vor dem gemeinsamen Sommer auf dem Lande, vor Abenden wie diesem.

Sie sah Maksim von der Seite an und dachte voller Erbitterung: Du weißt ja nicht, was du willst!

Im Innersten aber war ihr klar, dass er es genau wusste. Seine Gedanken waren gefesselt von einer Idee, nicht von ihr. Er sagte nie, was andere Männer sagten, wenn sie mit ihr zusammen waren, etwa: »Du bist sehr hübsch!« oder »Ich glaube, ich könnte mich in dich verlieben!« Nein, von ihm kamen seltsame Worte wie Umsturz, Weltrevolution, Umverteilung des Eigentums, Enteignung der besitzenden Klasse. Dass es eine Welt für ihn gab, zu der sie keinen Zutritt fand und zu der er ihr auch keinen Zutritt erlauben würde, hatte sie schon vor fast zwei Jahren begriffen, am Kaisergeburtstag in Berlin, als sie durch die Straßen gingen und die jubelnden Menschen betrachteten, als in Maksims Gesicht Wut und Zynismus rangen. Plötzlich hatte er etwas vor sich hingemurmelt (später erfuhr sie, dass es ein Zitat von Marx war): »Dieser Mensch ist nur König, weil sich andere Menschen wie Untertanen zu ihm verhalten.«

Sie hatte ihn angeschaut. »Was sagst du?«

Auf einmal hatte ein verachtungsvoller, beinahe brutaler Zug um seinen Mund gelegen. »Egal«, erwiderte er und musterte geringschätzig ihr schönes Kleid und ihren neuen Hut (beides trug sie seinetwegen), »egal, du wirst es doch nie verstehen. Nie!«

Er hatte recht. Sie verstand ihn nicht. Sie verstand nicht, dass er sich für eine Idee begeistern konnte, während sie sich für das Leben begeisterte. Er wollte die Welt verändern zum Besten der Menschheit, und sie – ja, sie wollte eigentlich nur das Beste für sich selbst. Und sie wollte Maksim Marakow.

Er war der Sohn eines Russen und einer Deutschen, hatte seine Jugend abwechselnd in Petrograd und Berlin verbracht und alle Sommer auf dem Landsitz von Verwandten bei Insterburg in Ostpreußen, unweit von Lulinn, dem Gut, das Felicias Großeltern gehörte. Er war vier Jahre älter als Felicia, und von Anfang an waren sie wie magisch angezogen aufeinander zugegangen. Beide dunkelhaarig, mit hellen Augen und gleichmäßigen Gesichtszügen, hielten die meisten Leute sie für Geschwister. Kamen sie zusammen, so tauchten sie in eine fremde Welt, und über ihrer Kindheit lag der Zauber geheimer Spiele, die niemand störte. Die Obstgärten von Lulinn, die Wälder und Seen ringsum, die Wiesen waren Szenenbilder ihrer ungeschriebenen Zwei-Mann-Stücke. Irgendwann aber, in irgendeinem Sommer, betraten sie wieder ihre Bühne und erkannten einander kaum mehr. Felicia kam in eleganten Kleidern, trug die Haare aufgesteckt und hatte sich ein etwas gekünsteltes Lachen angewöhnt. Maksim erschien in abgetragenen Anzügen, sah blass und übernächtigt aus. Beide waren sie erwachsen geworden, aber ihre ersten Schritte auf diesem Weg hatten sie in entgegengesetzte Richtungen getan. Ihre letzte Gemeinsamkeit bezogen sie aus Erinnerungen, aber es sah nicht so aus, als werde es Gemeinsamkeiten in der Zukunft geben. Und auf einmal erkannte Felicia: Ich liebe ihn. Ich werde ihn immer lieben.

Sie liebte diese dunkle, fremde Welt, die sie nicht verstand. Sie liebte seine abweisenden Augen und seine verächtlichen Worte, die er für das etablierte Bürgertum hatte. Sie liebte seine zynischen Bemerkungen über den Kaiser, und sie liebte die lebendige Freude seines Gesichtes, wenn er von der Revolution sprach. Sie liebte das alles – aber sie begriff nicht den Ernst, die Leidenschaft, die dahinterstand. Sie begriff nicht, dass ihre beiden Welten einander ausschlossen.

Sie war achtzehn Jahre alt, hatte ein gesundes Selbstvertrauen, und es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, das Kapital zu lesen, nur um über etwas reden zu können, was sie doch nicht berührte.

Sie setzte auf ihre Augen, ihren Mund, ihr glänzendes Haar, auf tiefausgeschnittene Kleider und geheimnisvolle Parfüms.

Sie saßen schweigend, bis die Sonne unterging, und in ihrem Schweigen lag der Abschied von einer Zeit, die fast unmerklich vorbeigegangen war. Schließlich stand Maksim auf, griff Felicias Hand und zog sie neben sich hoch. »Es wird kalt«, sagte er, »wir sollten nach Hause gehen.«

Sie standen einander dicht gegenüber, Felicia mit einem breitrandigen Hut aus blaulackiertem Stroh auf dem Kopf.

Sie hob ihr Gesicht, öffnete leicht die Lippen, erwartungsvoll, weil es ihr unsinnig schien, einen Moment wie diesen zu vertun. Sekundenlang konnte sie in Maksims Augen etwas von der alten Zärtlichkeit entdecken, dann erlosch sie schon wieder, und mit einem etwas mühsamen Lachen erklärte er: »Nein. Ich mach dich nicht unglücklich, und mich schon gar nicht.«

Was redete er da? Von welchem Unglück sprach er?

»Na, dann nicht«, sagte sie schnippisch, »wenn du von nun an wie ein Mönch leben willst, dann tu’s doch!«

»Ich will meinen Weg gehen, Felicia. Und du wirst deinen gehen, und ich glaube nicht, dass sich diese Wege jemals kreuzen werden.«

»Heißt das, wir sehen einander nie wieder?«

»Wir sehen uns nicht so wieder, wie du dir das vorstellst.«

»Warum nicht?«

Mit einer zornigen Bewegung riss Maksim einen Zweig von einem Baum und zerbrach ihn in kleine Stücke. »Wirst du das denn nie verstehen, Felicia?«

»Danke, ich habe längst verstanden. Du musst ja das internationale Finanzmonopol stürzen, und da bleibt dir natürlich für nichts sonst Zeit. Lieber nächtelang Marx anhimmeln, als einmal ein Mädchen küssen! Ein aufregendes Leben, wirklich. Ich wünsche dir viel Spaß dabei!« Sie drehte sich um und rannte davon. Sie kannte den Weg im Schlaf, und irgendwie gelangte sie über Wurzeln und Äste hinweg, ohne zu stürzen. Natürlich hatte sie erwartet, er werde ihr nachkommen, aber nach einer Weile stellte sie fest, dass er offenbar gar nicht daran dachte. Vor Wut und Verletztheit kamen ihr die Tränen. Erst an der Auffahrt von Lulinn riss sie sich zusammen, putzte die Nase und trocknete das Gesicht.

Das Herrenhaus von Lulinn war zweihundert Jahre zuvor erbaut worden, obwohl die Familie Domberg seit dreihundert Jahren auf diesem Grund und Boden saß. Das erste Haus war eines Nachts in Flammen aufgegangen – eine wahnsinnige Vorfahrin, so hieß es, habe das Feuer aus Eifersucht gelegt –, und das neue war an seiner Stelle aus der Not des Augenblickes heraus recht schmucklos und einfach entstanden: ein großes Gebäude aus grauem Stein, mit vielen Fenstern, Efeu umkletterte es, zu seinen Füßen lag ein blühender Rosengarten, und auf sein Portal führte eine eichengesäumte Allee, an die sich rechts und links weite Koppeln anschlossen, auf denen Trakehner, der Stolz des alten Domberg, grasten. Jetzt lag alles im Dunkeln, in den Eichen ging der Wind, die Pferde bewegten sich als dunkle Schatten wie Elfen über die Wiesen. Felicia blieb stehen und sah sich hoffnungsvoll um. Manchmal kam ein Wagen vorbei, dann brauchte man die lange Allee nicht zu Fuß zu gehen.

Aber diesmal blieb alles still. Mit einem Seufzer wollte sie sich auf den Weg machen, da vernahm sie ein Rascheln im nahen Erlengebüsch. Eine dunkle Gestalt huschte hervor.

»Nicht erschrecken, Fräulein, nicht erschrecken. Ich bin es, Jadzia!«

»Ach Gott, Jadzia, hast du mich erschreckt! Was treibst du dich denn da im Gebüsch herum?«

Jadzia war Dienstmädchen auf Lulinn, eine alte Polin, von der Großvater Domberg immer sagte, man wisse bei ihr nicht, ob sie sich für ihre Herrschaft vierteilen ließe oder sie alle eines Nachts in ihren Betten ermorden würde. Sie ging eigene, geheimnisvolle Wege, manchmal war sie verschwunden, dann tauchte sie unversehens wieder auf. Entweder, so hieß es, war sie Schmugglerin oder Sozialistin – oder beides.

»Ich weiß etwas«, sagte sie.

»Was denn?« Es konnte ja immerhin etwas Interessantes sein. Jadzia trat näher. »Den österreichischen Thronfolger haben sie erschossen. Heute, in Sarajewo. Täter soll gewesen sein Serbe!«

Wenn es weiter nichts war! »Ach«, sagte Felicia gleichgültig.

»Wird gäbn Krieg«, fuhr Jadzia fort, »großer Krieg!«

»Sicher nicht, Jadzia. Warum sollte daraus ein Krieg entstehen?«

Jadzia murmelte etwas auf Polnisch. Felicia ging weiter. Sarajewo – wo lag das überhaupt? Sie hatte nie von diesem Ort gehört. Im Übrigen war es ihr auch gleichgültig. Sie dachte über Maksim nach und darüber, weshalb sie ihn anderen vorzog. Es war so, dass sie all die netten jungen Männer, die sie sonst kannte, zum Sterben langweilig fand. Sie waren so schrecklich aufmerksam und gut erzogen; sie verstand sie – und verachtete sie. Sie hatten nichts Rätselhaftes an sich und waren damit keine Herausforderung. Gerade danach aber suchte sie. Sie wollte Abenteuer, und in Maksim schien ihr die Erfüllung dieses Wunsches zu liegen.

Felicias...