Zurück ins Leben - In 12 Schritten aus der Bulimie

von: Nina Wolf

Tectum-Wissenschaftsverlag, 2018

ISBN: 9783828869431 , 186 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Zurück ins Leben - In 12 Schritten aus der Bulimie


 

Beim Kotzen erwischt

Die Bulimie ist eine heimtückische Krankheit. Sie ist verschlagen, trügerisch und mächtig. Vor mehr als 25 Jahren schlich sie sich in mein Leben und blieb seitdem meine treue Begleiterin. Ein Vierteljahrhundert hing ich über den Kloschüsseln dieser Welt. Und ich kannte sie alle – ich wusste, wo man in Ruhe kotzen kann und wo die Gefahr, erwischt zu werden, am größten ist.

Erwischt wurde ich in all den Jahren noch nie. Bis zu diesem schicksalhaften Tag im September, der mir – rückblickend betrachtet – wahrscheinlich das Leben gerettet hat.

Ich war mal wieder bei meinem bevorzugten McDonald’s in München. Hier war es immer sehr laut, und die Musik, die im Hintergrund lief, übertönte die Kotzgeräusche. Das war sehr praktisch – auch wenn ich mit der Zeit gelernt hatte, mich so gut wie lautlos zu übergeben. Diesmal war es mir jedoch nicht gelungen, nach dem Erbrechen alle Spuren zu verwischen, was mir unendlich peinlich war. Ich fühlte mich ertappt, als die nächste Kundin auf die Toilette wollte und unsere Blicke sich trafen. Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Jahrzehntelang war es mir gelungen, meine Bulimie geheim zu halten, und jetzt sollte ich auffliegen, nur weil das Klopapier ausgegangen war? Wie konnte mir das nur passieren? Normalerweise prüfte ich im Vorfeld sehr sorgfältig, ob die Spülung funktionierte, ob genug Papier da war und ob ich etwas dabeihatte, um die Gerüche zu neutralisieren. Ich prüfte auch bei jeder öffentlichen Toilette, wie hoch die Lücke zum Boden ist und ob man von außen sehen konnte, dass meine Füße falsch herum standen. Wie konnte ich auf einmal so nachlässig werden? Mit hochrotem Kopf ging ich an der Frau vorbei und wollte einfach nur weg.

»Ich kann dir helfen«, sagte sie mit ruhiger, fester Stimme, bevor ich mich verdrücken konnte.

Ich blieb wie angewurzelt stehen.

»Bitte was?«, stammelte ich, meinen Blick immer noch auf den Boden gerichtet. Ich traute mich nicht, ihr in die Augen zu schauen.

»Ich weiß, was du durchmachst, weil ich auch durch diese Hölle gegangen bin.«

Grundgütiger! Was für eine peinliche Situation! Am liebsten wäre ich in dem Moment einfach nur tot umgefallen. Aber die Frau klang irgendwie vertrauenswürdig, so dass ich (nach einer gefühlten Ewigkeit) aus meiner Starre erwachte. Langsam, ganz langsam hob ich meinen Kopf und schaute sie verlegen an. Sie hatte große blaue Augen, die eine unglaubliche Ruhe ausstrahlten. »Was für ein intensives Blau«, ging mir in dem Moment durch den Kopf.

»Ich war richtig am Boden, eigentlich war ich schon tot«, fuhr sie fort. »Zum Schluss wog ich nur noch 37 Kilo«, sagte sie (und die Frau war groß, 1,75m würde ich schätzen). »Eine trockene Alkoholikerin hat mir im letzten Moment das Leben gerettet.«

Ich verstand nur Bahnhof. Was wollte diese Frau von mir, ich hatte doch gar kein Alkoholproblem?! Ganz im Gegenteil, ich trank so gut wie nie Alkohol. Die ganze Situation war irgendwie konfus. Ich stand da und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Die Frau kramte in ihrer Handtasche und holte eine Visitenkarte heraus.

»Wenn du reden möchtest, ruf mich an.«

»Warum sollte ich … Ich kenne Sie doch gar nicht …«, stotterte ich verlegen, aber sie fuhr fort:

»Ich habe 15 Jahre Bulimie und Magersucht hinter mir und ich durfte vor zwei Jahren einen einfachen, aber sehr wirkungsvollen Weg kennen lernen, um wieder gesund zu werden«.

»Ha! Da habe ich aber zehn Jahre länger durchgehalten!«, war mein erster Gedanke. Für einen Moment fühlte ich mich ihr überlegen, so bescheuert sich das auch anhören mag. Ich war nach all den Jahren immer noch der Meinung, dass ich jederzeit mit den Fressorgien aufhören könnte, wenn ich nur wollte. Blöderweise ging es mir auch nach so vielen Jahren mit der Bulimie immer noch relativ gut, so dass ich gar keine Veranlassung sah, irgendwas an der Situation zu ändern. Ich konnte essen, was ich wollte, und hatte trotzdem eine super Figur, um die mich jeder beneidete. Was will man mehr? Außerdem war ich überzeugt davon, dass alle schlanken Frauen nach dem Essen kotzen gehen, wie sollte man denn sonst so dünn bleiben?

Die Frau mit den blauen Augen hieß Christiane, wie ihre Visitenkarte verriet. Aus den Augenwinkeln scannte ich sie ab – ich musste mich immer mit den anderen vergleichen, um eine Bestätigung zu bekommen, dass ich die bessere Figur hatte. Blöderweise war Christiane eine hübsche, schlanke Frau, die zudem noch mindestens 10cm größer war als ich. »Und diese Figur kann man mit normalem Essen halten? Nie im Leben, die kotzt doch heimlich!«

Als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte sie: »Meinen letzten Rückfall hatte ich vor anderthalb Jahren und heute weiß ich, dass ich es nie wieder machen werde. Ich brauche das Kotzen nicht mehr. Ich muss auch nicht mehr hungern oder exzessiv Sport machen. Es hat einfach aufgehört.«

»Ich glaube dir kein Wort!«, dachte ich, als ich ihre Visitenkarte in meine Hosentasche schob. »Das hört nicht einfach so auf … Ich habe es oft genug versucht und in all den Jahren nicht einmal 24 Stunden am Stück durchgehalten.«

»Ich muss jetzt los«, murmelte ich, drehte mich um und ging zur Tür.

»Wie heißt Du?«, rief sie noch hinter mir her.

»Ist nicht so wichtig«, erwiderte ich, ohne sie noch mal anzuschauen. »Wir werden uns sowieso nicht wiedersehen.«

Wie sehr ich mich doch täuschen sollte …

Nach dieser seltsamen Begegnung ging ich schnurstracks zum nächsten Bäcker. Mein Magen war ja wieder leer und ich spürte einen enormen Essdruck. Zwei Butterbrezn und drei Schokocroissants sollten die erste Gier stillen. Damit die Verkäuferin nicht glaubte, ich würde alles für mich kaufen, bat ich sie »ganz beiläufig« mit einem unschuldigen Lächeln im Gesicht, die Bestellung separat zu verpacken:

»Die Brezn können zusammen in eine Tüte, bei den Croissants bitte einmal zwei und einmal eines separat verpacken. Dann kann ich es gleich richtig abgepackt unter den Kollegen verteilen …« »Ach ja, und für mich dann bitte noch eine Käsestange!«, fügte ich noch schnell hinzu.

Das Lügen gehörte mittlerweile zu meinem Alltag. Nur so konnte ich mein perfektes Doppelleben aufrechterhalten. In meinem Umfeld hatte niemand auch nur den leisesten Schimmer, zu was für einem Monster ich mutierte, wenn die Gier nach Essen mal wieder übermächtig wurde. Ich spielte allen etwas vor: meiner Familie, meinem Freund, meinen Arbeitskollegen und den wenigen Freunden, die ich noch hatte.

Meine Mittagspause war fast um. Auf dem Weg zur Arbeit schlang ich die Butterbrezn und die Käsestange herunter. Die Schokocroissants würde ich dann gleich im Büro essen und dabei ganz beiläufig über die viel zu kurzen Pausen schimpfen, in denen man nicht einmal zum Essen kommt, wenn man vorher noch was bei der Bank erledigen muss …

Blöderweise hatte ich zu wenig getrunken, so dass es mir richtig schwerfiel, alles wieder zu erbrechen. Panik überfiel mich! Ich hatte gleich eine Besprechung und wusste, dass es danach zu spät sein würde. Wenn die Verdauung einmal losging, brannte beim Kotzen die Magensäure in der Speiseröhre viel zu sehr. Ich musste alles so gut es ging noch vor dem Termin loswerden! Ich nahm eine Wasserflasche mit aufs Klo und quälte mich fast 20 Minuten ab, bis ich das Gefühl hatte, dass alles draußen ist. Danach war ich so fertig, dass ich mich am liebsten in mein Bett verkrochen hätte. Aber ich musste ja funktionieren, also beseitigte ich alle Spuren, putzte mir die Zähne, zog den Lippenstift nach und ging in die Besprechung, als sei nichts gewesen.

Noch während des Meetings malte ich mir aus, was ich nachher auf dem Heimweg alles essen würde. Bevor mein Freund nach Hause kommt, könnte ich noch eine Ess-Brech-Orgie einschieben, so dass wir im Anschluss gemeinsam zu Abend essen könnten …

Immer wenn ich mit anderen gemeinsam aß, nahm ich nur ganz kleine Portionen zu mir. In meinem Umfeld glaubten alle, ich sei sehr gesundheitsbewusst und achte pingelig auf meine Ernährung. Wenn die wüssten …

Nach Feierabend fuhr ich wie so oft in den Supermarkt und kaufte ganz viel Süßigkeiten, vor allem Eis. Eis war perfekt, da es fast von alleine wieder rauskam. Natürlich habe ich immer darauf geachtet, dass ich jeden Tag in einem anderen Supermarkt einkaufen war, sonst würde es ja auffallen. Ich kaufte jedes Mal so viel ein, dass ich damit eine vierköpfige Familie eine Woche lang hätte ernähren können. Nicht auszudenken, wenn die Kassiererin herausgefunden hätte, dass das alles für mich alleine war!

Ich legte sehr viel Wert darauf, was andere über mich dachten. Mein Selbstwertgefühl stand und fiel in dem Maße, in dem ich von anderen beneidet und bewundert wurde. Deswegen hatte ich eine perfekte Fassade aufgebaut: Nach außen hin war ich die gut aussehende, erfolgreiche Geschäftsfrau, eine Sportskanone und liebevolle Partnerin. Nichts davon stimmte. Meinen Job konnte ich nur so gut erledigen, weil ich unzählige Überstunden machte, Sport machte ich nur, um das abzutrainieren, was beim Kotzen nicht rausgekommen war, und meinen Freund betrog ich nach Strich und Faden. Eigentlich führte ich ein total erbärmliches Leben … Aber ich habe mich in all den Jahren so gut damit arrangiert, dass ich keine Veranlassung sah, etwas an meinem Leben zu ändern.

Während der Heimfahrt musste ich kurz an die seltsame Begegnung auf der McDonald’s-Toilette denken.

»Ich kann dir helfen«, hatte die Frau gesagt.

Ja klar. Was glaubte sie eigentlich, wer sie war? Es ist ja nicht so, dass ich in all den Jahren nicht versucht hätte, aus dieser Hölle herauszukommen. Im Gegenteil! Ich hatte schon mehrere...