Das Honigmädchen - Roman

von: Claudia Winter

Goldmann, 2019

ISBN: 9783641199098 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Honigmädchen - Roman


 

Prolog


SÜDFRANKREICH IM MAI 1956

Es war der erste richtige Frühlingstag nach jenem Winter, den die Leute aus Loursacq l’hiver des oliviers noirs nannten – den Winter der schwarzen Olivenbäume.

Henri marschierte den steinigen Pfad entlang, den er zweimal täglich gehen musste, die Daumen hinter die Schulterriemen des Tornisters geklemmt, den Blick fest auf die drei weißen Streifen auf seinen Schuhen gerichtet. Er konnte noch immer kaum glauben, was Maman da für ihn getan hatte.

Direkt nach dem Aufwachen hatte sie ihm das braune Päckchen in die Hand gedrückt, mit leuchtenden Augen, als hätte sie Geburtstag und nicht er. Was darin war, hatte er sofort gewusst – wegen der vielen ausländischen Briefmarken. Geheult hatte er, o ja, und das Papier mit den kostbaren Marken zerrissen, weil er sie so dringlich in den Händen halten wollte: die Fußballschuhe, denen die Deutschen ihren Sieg im WM-Endspiel gegen die Ungarn verdankten. Was für ein atemberaubendes Finale!

Seit jenem Tag hatte Henri felsenfest an die Zauberkräfte der Stollenschuhe geglaubt, über die damals sogar in Pépères Sonntagszeitung berichtet wurde. Sie tatsächlich zu besitzen war das beste Geburtstagsmorgengefühl, das er in den vergangenen zwölf Jahren gehabt hatte. Wobei er sich freilich nicht mehr an alle Geburtstage erinnerte.

Was die Zauberschuhe anging, war er leider noch am selben Nachmittag eines Besseren belehrt worden, in einer beschämenden Sportstunde mit etlichen verpassten Torchancen. Ein paar läppische Nägel unter den Sohlen reichten eben doch nicht aus, damit ein Außenseiter gegen einen unschlagbaren Gegner gewann. Dabei hatte er so gern an das Wunder von Bern glauben wollen.

Henri seufzte, froh, dass ihn seine Überlegungen vom Anblick der knorrigen Baumskelette ablenkten. Wie verbrannte Kriegsverletzte ragten sie aus dem Boden, dort, wo einmal ein zartgrünes Blätterdach seinen Schulweg gesäumt hatte. Grün war hier trotzdem noch so einiges, das war es in der Haute Provence eigentlich immer, wie Maman andauernd betonte, mit ihrem komischen Wohlwollen für all das Gestrüpp, das angeblich gut für die Bienen war. Wegen ihnen liebte Aurélie Lambert jedes Kraut, solange es Blüten trug, den Ginster, die Mimosen, die Wildblumen. Ganz besonders mochte sie den Lavendel, der unter der Aprilsonne die ersten silbrigen Blätter trieb, scheinheilig, als hätte es die legendäre Kältewelle nie gegeben.

Die Olivenbäume hingegen, die Henris Ururgroßvater gepflanzt hatte, trugen das Frostopferschwarz einer Schlacht, die in einer einzigen Februarnacht entschieden wurde, als die Temperatur innerhalb weniger Stunden auf über minus zwanzig Grad gesunken war. Im Radio hatten sie behauptet, jener Nacht seien in ganz Frankreich drei Millionen Olivenbäume zum Opfer gefallen, überall im Land habe das tödliche Knacken der Stämme die Obstplantagen durchdrungen. »Von innen erfroren und dann geplatzt. Bum! Fini!«, hatte Pépère gerufen und mit der Faust auf den Küchentisch gehauen, das Faltengesicht hummerrot, weshalb Maman rasch das Radio ausgeschaltet hatte, ehe ihre Fayence-Teller daran glauben mussten.

Henri kickte einen Stein vor sich her. Drei Millionen. Gestern hatte er die Zahl in sein Rechenheft geschrieben, spaßeshalber, um das »Bum! Fini!« schwarz auf weiß zu sehen. Er hätte es lassen sollen. Es war nicht schwer zu erraten, was die vielen Nullen auf dem karierten Blatt für Pépères Oliven und die kleine Ölmühle bedeuteten, die ihnen neben Mamans Honig ein leidliches Auskommen bescherte.

Da war es besser, über Fußball nachzudenken oder sich Arthur Pelletiers gequälte Miene ins Gedächtnis zu rufen, als Henri auf dem Fußballplatz die neuen Fußballschuhe aus dem Tornister geholt hatte. Zwar hatte er kein Tor damit geschossen, und er musste sich zweimal böse von Pelletier foulen lassen – aber eine kostbare Stunde lang war Henri Lambert endlich einer von ihnen gewesen. Vielleicht war das auch eine Art, mit Stollenschuhen einen Kampf zu gewinnen.

»Henri!«

Er hob den Kopf. Die glockenhelle Stimme war längst bei ihm angekommen, bevor er das weiße Baumwollkleid erspähte, das sich im Wind bauschte. Für einen Moment überlegte er tatsächlich, ihr Winken nicht zu erwidern. Nicht, weil er seine Mutter nicht liebte. Er kam nur allmählich in ein Alter, in dem es ihm peinlich war, wenn sie ihm auf halber Strecke entgegenlief, als könne er sich verirren. Doch je näher sie kam, desto schneller wurden seine Beine, bis er ganz von selbst in Mamans Umarmung flog, die nach Bienenwachs, Pépères Pfeifentabak und ein bisschen nach Frauenschweiß roch.

»Hattest du einen erfolgreichen Tag?«

Ihre Kornblumenaugen erforschten sein Gesicht, vorsichtig tippte sie ihm mit dem Finger auf die blutverkrustete Nase, die noch immer wehtat.

»Drei Tore verschossen, Arthurs Ellenbogen abgekriegt.« Er rang sich ein Lächeln ab, das bestimmt genauso schief war wie die dazugehörenden Vorderzähne. Dass Arthurs Freund Baptiste ihm einen Tritt verpasst und Serge, der Sohn des Konditors, ihm ins Gesicht gespuckt hatte, erzählte er nicht.

»Aber ich hab mitgespielt.«

»Das freut mich für dich«, antwortete Aurélie ernst, und Henri wusste, dass sie es auch so meinte. Wer sonst, wenn nicht sie, hatte Verständnis dafür.

Um weiteren Fragen und mühsam abgerungenen Antworten zu entgehen, schob Henri sich an Maman vorbei und rannte auf das Steinhaus mit dem roten Tonziegeldach zu.

»Was gibt es zum Mittagessen?«, rief er über die Schulter und fühlte sich schuldig, weil er in letzter Zeit ständig hungrig war.

Er hatte die blaue Haustür fast erreicht, als er bemerkte, dass Maman am Tor stehen geblieben war, neben dem einst prächtigsten Olivenbaum ihres Hofs, den Pépère bis auf den Torso gekappt hatte. Wie ein verkrüppelter Veteran kauerte er in der Wiese, amputiert an Armen und Beinen, und Henri brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass Maman gar nicht den Baumstumpf anstarrte, der seinen Großvater nach getaner Arbeit zum Weinen gebracht hatte. Was sie sah – oder vielmehr spüren musste, da es sich außerhalb ihres Sichtfelds befand –, lag hinter dem Olivenhain, am Waldrand. Dort, wo die Bienenkästen standen.

Aurélie Lambert lauschte mit geneigtem Kopf, ihr Körper blieb unter dem Kleid vollkommen reglos, als hätte er vergessen, wie man atmet. Sekunden nach dem Lächeln, das scheinbar grundlos auf ihren Lippen erschien, ertönte das Geräusch. Ein tiefes Brummen, das zum Dröhnen eines Langstreckenbombers anschwoll. Noch ehe Henri begriff, was die schwarze Wolke über den Baumwipfeln bedeutete, gellte Mamans Stimme in seinen Ohren.

»Hol die Schwarmkiste, Henri. Schnell. Lauf!«

Und Henri lief – nein, er flog förmlich. Am Haus und an der Steinmauer vorbei, um die Ecke in den Schuppen hinein, den Pépère an die Scheune gemauert hatte. Auf seinen Stollen schlitterte er über die Fliesen und stieß aus Versehen den Abfülleimer neben der Honigschleuder um, doch Henri machte sich nicht die Mühe, die penible Ordnung in der Honigküche wiederherzustellen. Er holte den Handkehrbesen, fischte die Wassersprühflasche aus der Spüle und legte die Utensilien in den Holzkasten. Dann schwankte er mit seiner Last hinaus.

Maman kam ihm auf dem Schotterweg entgegen, die Augen auf den brummenden Insektenschleier am Himmel gerichtet, gefolgt von Pépère. Henri erinnerte sich nicht, wann er den Großvater das letzte Mal so schnell humpeln sah.

Vorsichtig stellte Henri die Kiste ab, öffnete den Deckel und suchte die wortlose Verständigung mit Maman. Sie hatten oft genug bei diesem Spiel mitgemacht und den Wettlauf meist auch gewonnen – sofern der Schwarm nicht auf die Idee kam, sich wie im letzten Frühling auf dem Dach niederzulassen. Gott sei Dank verschmähte die Königin diesmal das sonnengewärmte Plätzchen auf dem Ziegelsteinkamin. Als hätte jemand die Luftzufuhr unter den Abertausenden zarten Flügeln gekappt, sank die Insektenwolke keine zwei Meter vor Henri zur Erde herab. Er hielt den Atem an, fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen prallte. Die Bienen machten ihm Angst, wenn sie ihm zu nahe kamen, weil er bereits einmal erlebt hatte, welch verheerende Folgen ein Stich für ihn haben konnte. Dennoch verfolgte Henri gebannt, wie die Tiere eine etwa fußballgroße Traube an den Tomatenstauden bildeten, die Maman an der Hauswand gepflanzt hatte. Das Summen wurde träger, und die Kundschafterinnen machten sich unverzüglich auf die Suche nach einem geeigneten Nistplatz, während der Rest des Schwarms das Wertvollste in seiner Mitte beschützte: die Königin.

Eigentlich hätte Maman die Flasche nehmen müssen, um die pelzigen Körper zu besprühen, damit sie enger zusammenrückten. Es war dann ganz leicht, den ganzen Schwarm in die Kiste zu schütteln, welche die Bienen hoffentlich als neues Zuhause akzeptieren würden. Aber Aurélie Lambert tat nichts dergleichen.

»Tomaten. Natürlich«, flüsterte sie. »Sie sind ja so klug, unsere Schätzchen.«

Henri drehte sich verwundert zu ihr um. Sie sah glücklich aus, aber auch irgendwie traurig.

»Tomaten?« Er kam sich dumm und sehr klein vor, als Maman seine Schultern umfasste und ihn an sich drückte.

»Tomaten«, bestätigte sie. »Außerdem Zucchini, Auberginen, Paprika. Salat und Kräuter. Aber die Tomaten werden der Anfang von etwas ganz Neuem.«

Henri verstand nicht, wovon sie redete, doch er kannte den Namen für den Gesichtsausdruck, den sie hatte. Entrückt nannten es die Erwachsenen, zumindest diejenigen, die Bücher schrieben. Solche wie die, aus denen Maman ihm abends vorlas, obwohl er für die Kriminalromane mit...