Der Outsider - Roman

von: Stephen King

Heyne, 2018

ISBN: 9783641229351 , 768 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Outsider - Roman


 

5

Da alle Turnierspiele der City League auf dem Estelle-Barga-Baseballplatz ausgetragen wurden – dem besten in der County und dem einzigen mit Flutlicht für Abendspiele –, wurde ohne Rücksicht auf das Heimrecht per Münzwurf bestimmt, welche Mannschaft zuerst den Ballbesitz bekam. Vor dem Spiel hatte Terry Maitland auf Zahl gesetzt, wie er es immer tat – ein Aberglaube, den er von seinem ehemaligen City-League-Trainer übernommen hatte, damals vor langer Zeit –, und die Münze hatte Zahl gezeigt. »Eigentlich ist es mir egal, wo wir spielen, Hauptsache, wir haben den letzten Schlag«, erklärte er seinen Jungs immer.

Heute ging es tatsächlich um den letzten Schlag. Es war die zweite Hälfte des neunten Innings, und die Bears führten in diesem Halbfinale mit einem einzelnen Run. Die Golden Dragons waren vor ihrem letzten Out, hatten aber immerhin alle Bases besetzt. Bei einem Walk, einem Wild Pitch, einem Error oder einem Infield Single würde es unentschieden stehen, bei einem ins Gap geschlagenen Ball hätten sie praktisch gewonnen. Das Publikum klatschte im Takt und stampfte dazu auf den Metallboden der Tribüne. Als nun der kleine Trevor Michaels seinen Posten als Schlagmann einnahm, erscholl lauter Jubel. Sein Helm war der kleinste, den sie hatten, er rutschte Trevor aber trotzdem über die Augen, weshalb er ihn ständig hochschieben musste. Nervös schwenkte er den Schläger hin und her.

Terry hatte überlegt, jemand anderes rauszuschicken, doch obwohl Trevor nur knapp über eins fünfzig war, erzielte er immer eine Menge Walks. Ein Homerun war von ihm zwar nicht zu erwarten, aber manchmal schaffte er es immerhin, den Ball zu treffen. Nicht oft, aber gelegentlich eben doch. Hätte Terry ihn durch jemand anderes ersetzt, so hätte der arme Junge das ganze nächste Schuljahr über mit dieser Schande leben müssen. Wenn ihm jedoch ein Single gelang, dann würde er sein Leben lang bei jeder Grillparty mit einem Bier in der Hand davon erzählen können. Das war Terry nur zu bewusst. Er hatte sich selbst einmal in dieser Lage befunden, in der guten alten Zeit, als man noch nicht mit Aluminiumschlägern gespielt hatte.

Der Pitcher der Bears – der Kerl, den sie immer zum Abschluss einsetzten, ein echtes Talent – holte aus und warf den Ball direkt durch die Mitte. Mit bestürzter Miene sah Trevor das Geschoss vorbeisausen. Der Schiedsrichter bestätigte den ersten Strike. Das Publikum stöhnte auf.

Gavin Frick, der Kotrainer von Terry, schritt vor den Jungen auf der Bank auf und ab und hielt sein Scoresheet fest zusammengerollt in der Hand (wie oft hatte Terry ihn eigentlich gebeten, das zu unterlassen?). Sein T-Shirt mit dem Logo der Golden Dragons, Größe XXL, spannte sich über einen Bauch, der mindestens Größe XXXL hatte. »Hoffentlich war es kein Fehler, Trevor schlagen zu lassen, Terry«, sagte er. Der Schweiß rann ihm die Wangen herab. »Sieht ganz so aus, als hätte der ’ne Heidenangst, und ich glaube, selbst mit ’nem Tennisschläger würde er ’nen Speedball von dem Kerl da nicht erwischen.«

»Sehen wir mal, wie’s läuft«, sagte Terry. »Ich hab bei der Sache ein ganz gutes Gefühl.« Was eigentlich nicht so ganz stimmte.

Der gegnerische Pitcher holte aus und ließ eine weitere Rakete los, nur landete sie diesmal im Dreck vor dem Schlagmal. Das Publikum erhob sich, weil Baibir Patel, der an der dritten Base lauerte, sich einige Schritte weit zur Seite wagte. Als der Ball dann in den Handschuh des Catchers sprang, setzte er sich stöhnend wieder auf den Hintern. Der Catcher wandte sich der dritten Base zu, und trotz der Maske konnte Terry seinen Gesichtsausdruck erkennen: Versuch es bloß, Kumpel! Baibir ließ es bleiben.

Der nächste Wurf ging daneben, aber Trevor schlug trotzdem danach.

»Mach ihn fertig, Fritz!«, brüllte jemand mit kräftiger Stimme hoch oben auf der Tribüne – bestimmt der Vater des Pitchers, so wie der jetzt den Kopf ruckhaft in die betreffende Richtung drehte. »Mach ihn richtig fertig!«

Trevor regte sich beim nächsten Wurf nicht, der ziemlich knapp kam – eigentlich zu knapp, ihn zu nehmen, aber der Schiedsrichter entschied dann sowieso auf Ball, weshalb jetzt die Fans der Bears mit Stöhnen an der Reihe waren. Jemand brüllte, dass der Schiedsrichter wohl eine stärkere Brille brauche; ein anderer Fan riet zur Anschaffung eines Blindenhundes.

Nun stand es unentschieden, und jedem war klar, dass die gesamte Saison der Dragons vom nächsten Wurf abhing. Entweder würden sie danach auf die nächsthöhere Ebene vorrücken und gegen die Panthers um die Stadtmeisterschaft spielen – die tatsächlich vom Fernsehen übertragen wurde –, oder sie schieden aus und kamen nur noch ein einziges Mal zusammen, nämlich beim Grillfest im Garten der Familie Maitland, das traditionell am Saisonende stattfand.

Terry drehte sich um und warf einen Blick zu Marcy und den Mädchen hinüber, die hinter dem schützenden Maschendraht am selben Platz wie immer auf ihren Gartenstühlen saßen. Seine Töchter flankierten seine Frau wie hübsche Buchstützen. Alle drei winkten ihm mit gekreuzten Fingern zu. Terry zwinkerte, grinste und hob beide Daumen, obwohl er immer noch kein gutes Gefühl hatte. Was irgendwie nicht nur am Spiel lag. Er hatte schon eine ganze Weile kein gutes Gefühl mehr. Kein richtig gutes jedenfalls.

Nun lächelte Marcy nicht mehr, sondern verzog verwirrt das Gesicht. Sie blickte nach links und deutete mit dem Daumen in die Richtung. Als Terry sich dorthin drehte, sah er zwei Polizeibeamte im Gleichschritt an der dritten Grundlinie entlangmarschieren, an Barry Houlihan vorüber, dem Coach der gegnerischen Mannschaft.

»Time, time!«, brüllte der Schiedsrichter am Schlagmal, um den Pitcher der Bears zu stoppen, der bereits ausholte. Trevor Michaels verließ seinen Posten – mit erleichterter Miene, wie es Terry vorkam. Das Publikum war verstummt und beobachtete die beiden Cops. Einer der beiden fasste sich hinten an den Gürtel. Der andere hatte die Hand am Griff seiner im Holster steckenden Dienstwaffe.

»Runter vom Spielfeld!«, brüllte der Schiedsrichter. »Runter da

Troy Ramage und Tom Yates beachteten ihn nicht. Sie marschierten an der Bank der Dragons vorüber – einem Provisorium, bestehend aus einer langen Sitzbank, drei Körben mit Ausrüstung und einem Eimer mit schmutzigen Übungsbällen – direkt auf Terry zu. Ramage löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel. Als das Publikum die sah, erhob sich ein Gemurmel, das zu zwei Dritteln Verwirrung und zu einem Drittel Erregung ausdrückte: Uuuuuh.

»He, ihr beiden!«, rief Gavin, während er herbeieilte (und dabei beinahe über den abgelegten Fanghandschuh von Richie Gallant gestolpert wäre). »Hier läuft gerade ein Spiel!«

Yates schob ihn mit einem Kopfschütteln zurück. Inzwischen war das Publikum totenstill geworden. Die Bears hatten ihre angespannte Körperhaltung aufgegeben und betrachteten mit herabhängenden Handschuhen das Geschehen. Der Catcher trottete zu seinem Pitcher hinüber, bis die zwei gemeinsam auf halbem Wege zwischen dem Mound und der Home Plate standen.

Den Cop mit den Handschellen kannte Terry flüchtig; er kam manchmal im Herbst mit seinem Bruder, um sich die Footballspiele der Jugendliga anzuschauen. »Troy? Was soll das Ganze? Worum geht es hier?«

Im Gesicht seines Gegenübers sah Ramage nichts, was nicht wie aufrichtige Verblüffung wirkte, allerdings war er schon seit den Neunzigerjahren bei der Polizei und wusste, dass die wirklich schlimmen Kandidaten den perfekten Unschuldslämmerblick draufhatten. Und der Kerl hier gehörte zu den allerschlimmsten. Im Einklang mit den Anweisungen, die er von Ralph Anderson erhalten (und gegen die er nicht das Mindeste einzuwenden) hatte, erhob er die Stimme, damit ihn das gesamte Publikum hören konnte, das am nächsten Tag in der Zeitung auf 1588 Personen beziffert werden würde.

»Terence Maitland, ich verhafte Sie wegen Mordes an Frank Peterson.«

Ein weiteres Uuuuuh von den Tribünen, diesmal lauter. Es hörte sich an wie eine anschwellende Windbö.

Terry sah Ramage stirnrunzelnd an. Oberflächlich begriff er das Gesagte; es handelte sich um simple Wörter, die einen simplen Aussagesatz bildeten; er wusste, wer Frankie Peterson war und was man ihm angetan hatte, doch die Bedeutung des Gesagten begriff er nicht. »Was? Soll das ein Witz sein?« Das war alles, was er herausbrachte, und just in dem Augenblick nahm der Sportfotograf von der Lokalzeitung das Bild auf, das am nächsten Tag auf der Titelseite zu sehen sein würde. Der Mund von Terry stand offen, die Augen hatte er weit aufgerissen, unter dem Rand seiner Golden-Dragons-Mütze ragten Haarzotteln hervor. Auf dem Foto sah er gleichermaßen entkräftet und schuldig aus.

»Was haben Sie da gesagt?«

»Halten Sie mir bitte die Handgelenke hin.«

Terry sah zu Marcy und seinen Töchtern hinüber, die immer noch hinter dem Maschendraht auf ihren Stühlen saßen und ihn mit einem identischen Ausdruck stummer Verblüffung anstarrten. Das Entsetzen würde sie erst später überkommen. Baibir Patel verließ seinen Posten und kam auf die Bank zu. Dabei nahm er den Helm ab, sodass sein verschwitzter schwarzer Haarschopf sichtbar wurde, und Terry sah, wie er in Tränen ausbrach.

»Zurück da!«, brüllte Gavin den Jungen an. »Das Spiel ist noch...