Wozu ein Himmel sonst? - Erinnerungen an meine Zeit im Himalaya

von: Norman G. Dyhrenfurth

Tyrolia, 2018

ISBN: 9783702236908 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Wozu ein Himmel sonst? - Erinnerungen an meine Zeit im Himalaya


 

Mingma Dorje aus Namche Bazar


Der Kampf um den Everest lief auf Hochtouren. Es war Ende Oktober 1952, und fünf Lager waren bereits errichtet: Lager 1 (Standlager) am Fuße des Khumbu-Eisfalls. Lager 2 auf halber Höhe, Lager 3 auf etwa 6100 Meter am Eingang zum Westbecken, Lager 4 (vorgeschobenes Standlager) auf 6550 Meter fast am Fuße der Everest-Südwestwand und Lager 5 auf etwa 6800 Meter unterhalb der Eiswand, die den direkten Aufstieg zum Südsattel ermöglicht. Unsere Erfolgsaussichten wurden durch außergewöhnliche Kälte, heftige Stürme und immer kürzer werdende Tage beeinträchtigt. Darunter litt nicht nur die körperliche und seelische Verfassung der Mannschaft, auch unsere Umgebung war von diesen Umständen gezeichnet: In großen Höhen waren sämtliche Steilhänge beinahe schneefrei, überall schillerte blankgefegtes Eis blaugrün und abweisend. Das bedeutete eine Unmenge von Stufen, Eishaken und Fixseilen, um den Lastentransport zum Südsattel sicherzustellen. Lager 6 sollte dort auf fast 8000 Meter errichtet werden, und dann noch ein letztes Sturmlager, so hoch wie möglich.

Am 29. Oktober waren Jean Buzio und fünf Sherpas von früh bis spät damit beschäftigt, in harter Arbeit Haken zu schlagen und Seile zu spannen. Mit Feldstecher und Fernrohr verfolgten wir vom Lager 4 aus ihren Fortschritt. Sechs winzige Punkte, wie Ameisen in dieser lebensfeindlichen, fast erdrückenden Bergwelt. Am nächsten Nachmittag kehrten Jean und ein Sherpa zurück, die anderen blieben im Lager 5, wo der ständige Wind die Nächte noch unerfreulicher gestaltete als hier im vorgeschobenen Standlager. Jean sah alt und erschöpft aus. Die psychische und physische Belastung der letzten Tage und Wochen machte sich bemerkbar. Er war selig, die Sicherheit und den Komfort unseres Lagers erreicht zu haben, während wir, die wir ihn mit heißem Tee, Rum und Keksen begrüßten, ihm unsere Anerkennung für die geleistete Tagesarbeit aussprachen.

Tatsächlich war dies das erste Mal seit der Anreise, dass die ganze Mannschaft – mit Ausnahme von Gustave Gross im Lager 5 – beisammen war. Einige waren bisher in den unteren Lagern geblieben, andere waren am Vorstoß zum Südsattel beteiligt, und ich hatte in Neu-Delhi drei Wochen auf die nepalische Bewilligung warten müssen, bis ich endlich der Expedition auf kürzestem Wege von Süden her nacheilen konnte. Der heutige Abend war also für eine kleine Feier wie geschaffen!

Drei Flaschen Cognac hatten wir für die Gesamtdauer der Expedition mit dabei, aber jetzt waren wir darauf erpicht, wenigstens einer den Garaus zu machen. In dieser Höhe machte sich der Alkohol sehr bald bemerkbar. Wir fühlten uns herrlich entspannt und zugleich beschwingt. Altvertraute Lieder in Französisch, Englisch und Schweizerdeutsch füllten das „Tal des Schweigens“. Wir genossen unser Gala-Essen, bestehend aus Pemmikan, Knäckebrot mit Thunfisch, Käse und Nescafé. Leider war die alkoholische Wärme nur von kurzer Dauer, und die grimmige Kälte drang sehr bald durch Zeltwand und Daunenanzug. Also zurück in unsere kleinen Zelte, in die doppelten Schlafsäcke und die allgemein beliebte „Horizontale“. Im bleichen Mondlicht wirkten die umliegenden Bergriesen unsagbar fern und geheimnisvoll, wie aus einem Roman von Jules Verne. In mein Zelt zurückgekehrt, wollte ich zunächst Eintragungen ins Tagebuch machen, aber überwältigende Müdigkeit, Sauerstoffmangel und eiskalte Hände setzten meinem Vorhaben sehr bald ein Ende.

Der nächste Tag war in erster Linie der Privatkorrespondenz gewidmet. Am Nachmittag sollten uns die Postläufer verlassen. Alle zwölf Tage wurden zwei besonders schnelle Läufer nach Jaynagar an der indischen Grenze entsandt. Dort wurden sie durch Assistenten von Pater Niesen, einem amerikanischen Jesuiten und Leiter der St. Xavier’s School in Patna – einer der hervorragendsten Männer, die ich je kennengelernt habe –, empfangen. Pater Niesen nahm sich der äußerst komplexen Probleme unserer ein- und ausgehenden Post mit Herz und Seele an. Dabei bewies er viel List und Fingerspitzengefühl, denn wir hatten mit der „London Times“ einen Exklusivvertrag und deren liebe Konkurrenz trachtete mit allen Mitteln danach, unsere Postläufer abzufangen und zu bestechen! Da der Mount Everest damals noch unbestiegen war, wuchs das Interesse der gesamten Weltpresse von Woche zu Woche. Jedenfalls dauerte der Gewaltmarsch zwischen Standlager, Jaynagar und zurück vier Wochen.

Expeditionsleiter Gabriel Chevalley und Arthur Spöhel verließen uns nach Abgang der Post, um die Nacht im Lager 5 zu verbringen. Am folgenden Tag waren sie an der Reihe, die Arbeit in der Südsattelflanke fortzusetzen.

Nachmittagstee, und bald darauf Abendessen. Bei der herrschenden Kälte war es keine reine Freude, sich allzu lange im Messezelt aufzuhalten. Raymond Lambert, unser bergsteigerischer Leiter, und Sirdar Tensing Norgay zogen sich bald zurück, während Jean Buzio, Gustave Gross, Ernst Reiss und ich im flackernden Licht der winzigen Kerze fröstelnd herumhockten und bis acht Uhr über Berge, Philosophie, Religion und Frauen (allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) diskutierten. Auf 6550 Metern Höhe und derartig spät im Jahr kam es uns wie zwei Uhr morgens vor!

Die Strapazen der vergangenen Wochen hatten uns arg zugesetzt. Auch unsere Nerven waren längst nicht mehr die besten. Als wir ins Freie traten, blickten die Berge auf uns herab in kalter, mörderischer Stille. Jenseits von Eisbruch und Standlager schien uns die dunkle Pyramide des Pumori von der Außenwelt abzuriegeln. Wir kamen uns vor wie Gefangene der höchsten Berge der Erde, ohne jegliche Möglichkeit des Entkommens. Ich dachte an die alten Legenden und die Warnungen der Lamas von Tengpoche … Wir hatten es gewagt, den Frieden und die Stille der Göttin-Mutter Chomolongma zu stören.

Der nächste Tag war kalt, klar und traumhaft schön. Nach dem Frühstück konnten wir bereits mehrere „Ameisen“ erspähen, die sich dem Bergschrund näherten. Während die Kameraden mit Feldstechern Ausschau hielten, filmte ich mit langen Brennweiten und schwerem Stativ. Ausnahmsweise gab es fast keinen Wind, und dank der wärmenden Sonne war das Leben im Lager 4 recht angenehm. Einige unterzogen sich dem ungewöhnlichen Luxus persönlicher Reinigung – ein bemerkenswertes Unterfangen, das in diesen Höhen meistens in Vergessenheit gerät oder sogar streng verpönt ist. Vielleicht würden die kommenden Wochen gar nicht so schlimm werden?

Unser Gemütszustand und die Hoffnung auf einen baldigen Gipfelerfolg erreichten ein neues Hoch: Ein gutes Lager auf dem Südsattel, mit genügend Lebensmitteln, Brennstoff, Sauerstoff und Reserveausrüstung, dann noch ein letztes Sturmlager auf 8500 Meter am Südostgrat – ein einziges Zelt, knapp über einer ungeheuren Eiswand, die sich 4000 Meter tiefer mit dem Kangchung-Gletscher in Tibet vereint – und wir wären in der Lage, den ersten Gipfelangriff zu wagen. Diesmal hatten wir bessere Atmungsgeräte als während der Frühjahrsoffensive. Damals erreichten Lambert und Tensing eine Höhe von nahezu 8600 Meter, knappe 250 Meter unter dem Gipfel! Vielleicht sollten wir versuchen, ein noch höheres Lager auf etwa 8700 Meter zu errichten, dicht unterhalb der Südschulter. Selbst wenn wir nur 30 bis 50 Höhenmeter pro Stunde schaffen könnten, so hätten wir dann genügend Zeit, den Gipfel zu erreichen und mit Sicherheit vor Einbruch der Dunkelheit das höchste Sturmlager zu beziehen. Eine total erschöpfte Gipfelmannschaft, durch Sauerstoffmangel – da die Flaschen sicherlich leer wären – dem Erstickungstod nahe, könnte ein Notbiwak nicht überleben.

Soweit unsere Erwägungen und Gedankengänge an jenem sonnigen Morgen im Lager 4. Wir waren wie ausgewechselt. Ich erinnere mich noch gut an die allgemein gehobene Stimmung und den beinahe euphorischen Optimismus. Die Sherpas waren guter Dinge, beteten und sangen ihre monotonen Lieder; das vertraute Summen der Petroleumkocher, die gemütliche Atmosphäre der zum Trocknen ausgebreiteten Luftmatratzen und Schlafsäcke, die in der ausnahmsweise regungslosen Bergluft dampfenden Zelte, all das gab uns ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit und des Friedens.

Mit einem Schlag änderte sich das Bild: Drei kleine Punkte unter dem Bergschrund bewegten sich merkwürdig schnell nach unten. Wenige Minuten später waren alle im Abstieg begriffen, sogar die Dreier-Partie, die bereits in unmittelbarer Nähe des felsigen Genfer Sporns Seile gespannt hatte. Aus dieser Entfernung konnten wir uns nicht vorstellen, was passiert war. Ein Sturz über den Bergschrund wäre unangenehm, aber unterhalb war der Hang weder sehr steil noch gefährlich. Warum also stieg man ab? Ein kleiner Ausrutscher wäre doch kaum der Rede wert und noch kein Grund, die wichtige Arbeit für den Rest des Tages einzustellen. Weder Feldstecher noch Fernrohr konnten das Rätsel lösen, und Funkgeräte hatten wir keine. Nach einiger Zeit trafen zwei...