Die Lüge - Roman - Der SPIEGEL-Bestseller jetzt als Netflix-Serie

von: Mattias Edvardsson

Limes, 2019

ISBN: 9783641240905 , 560 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Lüge - Roman - Der SPIEGEL-Bestseller jetzt als Netflix-Serie


 

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Wir waren eine ganz normale Familie. Meine Frau Ulrika und ich hatten interessante, gut bezahlte Arbeitsplätze und einen großen Freundeskreis, und in unserer Freizeit waren wir sportlich und kulturell aktiv. Freitags aßen wir Take-away-Essen vor dem Fernseher und sahen uns die beliebte Talentcastingshow Idol an, schliefen aber meistens noch vor der Endausscheidung auf dem Sofa ein. Samstags aßen wir mittags in der Stadt oder in irgendeinem Einkaufszentrum. Wir gingen zu Handballspielen oder ins Kino, trafen uns mit guten Freunden auf eine Flasche Wein. Abends schliefen wir eng aneinandergekuschelt ein. Die Sonntage verbrachten wir im Wald oder im Museum, führten lange Telefonate mit unseren Eltern oder setzten uns mit einem Roman aufs Sofa. Die Sonntagabende endeten häufig damit, dass wir mit Unterlagen, Ordnern und Notebooks im Bett saßen, um die bevorstehende Arbeitswoche vorzubereiten. Montagabends ging meine Frau zum Yoga, und donnerstags spielte ich Hockey. Wir bezahlten unser Baudarlehen planmäßig ab, wir trennten unseren Müll, setzten beim Autofahren brav den Blinker, hielten uns an die Geschwindigkeitsbegrenzungen und gaben die Bücher in der Stadtbibliothek immer rechtzeitig zurück.

In diesem Sommer nahmen wir relativ spät Urlaub, von Anfang Juli bis Mitte August. Nach mehreren wunderschönen Sommerreisen nach Italien hatten wir unsere Urlaube in den letzten Jahren in den Winter verlegt. Im Sommer hatten wir uns dafür zu Hause entspannt oder kleine Ausflüge an die Küste zu Verwandten und Freunden unternommen. Diesmal hatten wir eine Hütte auf Orust gemietet.

Unsere Tochter Stella jobbte fast den ganzen Sommer bei H&M. Sie sparte auf eine Fernreise nach Asien im Winter. Noch immer hoffe ich, sie wird sie auch antreten können.

Man könnte sagen, dass Ulrika und ich uns in diesem Sommer neu kennengelernt haben. Das klingt natürlich klischeehaft, fast ein bisschen lächerlich. Man glaubt ja nicht, dass man sich nach zwanzig Jahren Ehe neu in seine Frau verlieben kann. Als wären die Jahre mit dem Kind eine Episode in unserer Liebesgeschichte gewesen. Als hätten wir nur auf diese Zeit gewartet. Jedenfalls fühlt es sich so an.

Kinder sind ein Vollzeitjob. Erst sind sie Babys, und man wartet darauf, dass sie selbstständig werden, macht sich Sorgen, dass sie sich verschlucken oder hinfallen könnten. Dann kommt das Kindergartenalter, und man macht sich Sorgen, sobald sie nicht in der Nähe sind, und befürchtet, sie könnten von der Schaukel fallen oder bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung versagen. Wenn die Schulzeit anfängt, macht man sich Sorgen, dass sie im Unterricht nicht mitkommen oder keine Freunde haben. Jetzt sind Hausaufgaben und Reiten angesagt, Handball und Übernachtungspartys. Mit Jugendlichen gibt es noch mehr Freunde, Partys und Konflikte, Schulberatergespräche und Taxifahrten. Man macht sich Sorgen wegen Alkohol und anderer Drogen, befürchtet, sein Kind könnte in schlechte Gesellschaft geraten, und so vergehen die Teenie-Jahre wie eine Seifenoper mit hundertneunzig Stundenkilometern. Dann steht man plötzlich mit einem erwachsenen Kind da und glaubt, man müsse sich jetzt keine Sorgen mehr machen.

In diesem Sommer erlebten wir wenigstens ein paar längere Phasen, in denen wir uns keine Sorgen um Stella machten. Unsere Familie ist wohl noch nie so harmonisch gewesen. Dann veränderte sich alles.

An einem Freitag im Spätsommer wurde Stella neunzehn, und ich hatte einen Tisch in unserem Lieblingsrestaurant reserviert. Italien und die italienische Küche haben uns schon immer am Herzen gelegen, und es gibt im Stadtteil Väster ein kleines Lokal, das himmlische Pasta und Pizza serviert. Ich freute mich auf einen ruhigen und gemütlichen Abend mit der Familie.

»Una tavola per tre«, sagte ich zur rehäugigen Kellnerin mit der Perle in der Nase. »Adam Sandell. Ich habe für zwanzig Uhr einen Tisch reserviert.«

Sie sah sich ängstlich um.

»Einen Moment, bitte.« Dann verschwand sie im vollbesetzten Lokal.

Ulrika und Stella sahen mich an, während die Kellnerin mit ihren Kollegen wütend diskutierte und gestikulierte.

Es stellte sich heraus, dass der Kellner, der meine Reservierung angenommen hatte, diese versehentlich für Donnerstag eingetragen hatte.

»Wir haben gedacht, dass Sie gestern kommen wollten«, sagte die Kellnerin und kratzte sich mit ihrem Stift im Nacken. »Aber das kriegen wir schon hin. Geben Sie uns fünf Minuten.«

Eine andere Tischgesellschaft musste aufstehen, während die Kellner einen weiteren Tisch in den Raum schleppten. Ulrika, Stella und ich standen mitten im engen Restaurant und taten so, als sähen wir nicht die genervten Blicke, die von allen Seiten auf uns gerichtet wurden. Beinahe hätte ich erklärt, dass nicht wir den Fehler begangen hatten, sondern die Mitarbeiter des Lokals.

Als wir uns endlich an den gedeckten Tisch setzen konnten, versteckte ich mich hinter meiner Speisekarte.

»Bitte entschuldigen Sie unseren Fehler«, sagte ein graubärtiger Mann, vermutlich der Restaurantbesitzer. »Das Dessert geht natürlich aufs Haus.«

»Kein Problem«, entgegnete ich. »Wir sind alle nur Menschen.«

Die Kellnerin kritzelte unsere Getränkebestellung auf einen Block.

»Ein Glas Rotwein?« Stella sah mich fragend an. Ich wandte mich zu Ulrika.

»Es ist schließlich ein besonderer Tag«, meinte meine Frau.

Also nickte ich der Kellnerin zu.

»Ein Glas Rotwein für das Geburtstagskind.«

Nach dem Essen überreichte Ulrika Stella einen Briefumschlag.

»Ein Stadtplan?«, fragte Stella, nachdem sie das Kuvert geöffnet hatte.

Ich lächelte über unsere ausgeklügelte Idee.

Wir begleiteten Stella aus dem Restaurant und folgten ihr hinter die nächste Straßenecke. Ich hatte ihr Geschenk schon am Nachmittag dort deponiert.

»Aber Papa, ich hatte doch gesagt … Die ist ja viel zu teuer!«

Es war eine rosa Vespa Piaggio. Wir hatten uns in der Woche davor ein ähnliches Exemplar im Internet angesehen, und es war mir gelungen, Ulrika trotz des stattlichen Preises zum Kauf zu überreden.

Stella schüttelte den Kopf und seufzte.

»Warum hörst du mir nicht zu, Papa?«

Ich hielt die Hand hoch und lächelte.

»Ein Dankeschön genügt völlig.«

Ich wusste, dass sich Stella Bargeld gewünscht hatte, aber ich fand Geldgeschenke langweilig. Mit der Vespa würde sie schnell und problemlos in die Stadt, zur Arbeit oder zu Freunden fahren können. In Italien fahren alle Teenies eine Vespa.

Stella umarmte uns und bedankte sich mehrmals, ehe wir ins Restaurant zurückgingen, aber ich war trotzdem irgendwie enttäuscht.

Die Kellnerin brachte unser Entschuldigungstiramisu, und wir stellten alle drei fest, dass wir eigentlich keinen Krümel mehr essen konnten. Und dann aßen wir trotzdem alles auf.

Ich trank Limoncello zum Kaffee.

»Ich glaube, ich muss jetzt los«, sagte Stella und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum.

»Doch nicht jetzt schon?«

Ich sah auf die Uhr. Halb zehn.

Stella presste die Lippen zusammen.

»Gut, noch ein bisschen«, sagte sie dann. »Zehn Minuten oder so.«

»Es ist dein Geburtstag«, sagte ich. »Und der Laden öffnet morgen doch sowieso nicht vor zehn Uhr?«

Stella seufzte.

»Ich arbeite morgen nicht.«

Nicht? Normalerweise arbeitete sie jeden Samstag. Als Samstagsaushilfe hatte sie bei H&M einen Fuß in die Tür bekommen. Daraus war ein Ferienjob geworden, den sie jetzt auf Stundenbasis verlängert hatte.

»Ich hatte den ganzen Nachmittag Kopfschmerzen«, sagte sie ausweichend. »Migräne.«

»Das heißt, du hast dich krankgemeldet?«

Stella nickte. Das sei gar kein Problem, erklärte sie mir. Es gebe da ein anderes Mädchen, das in solchen Fällen gerne ihre Schicht übernahm.

»So haben wir dich aber nicht erzogen«, bemerkte ich, während Stella aufstand und ihre Jacke von der Rückenlehne nahm.

»Adam«, sagte Ulrika.

»Aber warum so eilig?«

Stella zuckte mit den Schultern.

»Ich bin mit Amina verabredet.«

Ich nickte und schluckte meine Enttäuschung hinunter. So war das wohl mit Neunzehnjährigen.

Stella umarmte Ulrika lang und innig. Ich war noch gar nicht aufgestanden, da hatte sie mich schon kurz gedrückt. Unsere Umarmung war ungeschickt und steif.

»Und die Vespa?«, fragte ich.

Stella warf Ulrika einen Blick zu.

»Wir sorgen dafür, dass sie nach Hause kommt«, versprach meine Frau.

Als Stella verschwunden war, wischte sich Ulrika langsam den Mund mit der Serviette ab und lächelte mich an.

»Neunzehn Jahre«, sagte sie. »Nicht zu fassen, wie schnell die Zeit vergeht.«

Ulrika und ich waren beide völlig erledigt, als wir an diesem Abend nach Hause kamen. Wir saßen auf dem Sofa und lasen, während als Hintergrundmusik ein Song von Cohen lief.

»Also, ich finde, sie hätte ruhig ein bisschen mehr Begeisterung zeigen können«, sagte ich. »Nicht zuletzt nach der Sache mit dem Auto.«

Die Sache mit dem Auto – das war schon zu einem feststehenden Begriff geworden.

Ulrika murmelte irgendwas Unverständliches, ohne von ihrem Buch aufzublicken. Draußen hatte der Wind aufgefrischt, und es knackte in den Wänden. Es war der Sommer, der seufzend Atem holte. Der August neigte sich seinem Ende entgegen, aber das machte mir nichts aus. Ich habe den Herbst schon immer ganz besonders gemocht. Er gibt mir das Gefühl eines Neustarts, der mich an den Beginn einer Verliebtheit erinnert.

Als ich meinen Roman schließlich beiseitelegte, war Ulrika schon eingeschlafen. Vorsichtig hob ich ihren Nacken hoch und schob ihr als Stütze ein Kissen darunter. Sie bewegte sich unruhig im Schlaf, und einen Moment...