Die Rosengärtnerin - Roman

von: Sylvia Lott

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641226138 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Die Rosengärtnerin - Roman


 

2

Bordelais, Juni 1942


So früh morgens war es noch kalt, aber Jeanne zitterte auch ein wenig vor Aufregung. Sie zog eine fadenscheinige altrosafarbene Strickjacke über das Baumwollkleid, dessen Blümchenstoff schon lange verblichen war, und verbarg ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar unter einem Kopftuch. Die Wellen mit ihrem rötlichen Glanz weckten immer gleich Aufmerksamkeit, und es war besser, nicht aufzufallen.

Als sie vor dem kleinen Wandspiegel in ihrer Schlafkammer den Sitz des Kopftuchs überprüfte, sah sie das Gesicht eines jungen Mädchens mit spitzem Kinn und hübschem kleinem Mund. Auf dem hellen Teint schimmerten Sommersprossen, die bis zur Weinlese sicher wieder kräftiger werden würden. Das Auffälligste an ihr waren die großen dunkelbraunen Augen, die immer gleich verrieten, was sie dachte. Jede Nuance ihrer Gefühle konnte man daran ablesen. Jeanne wünschte, sie könnte gucken wie Mata Hari – geheimnisvoll, undurchdringlich, rätselhaft –, und zog sich selbst eine Fratze. Sie schob das Tuch noch ein Stück tiefer über den Haarwirbel in die Stirn, dann griff sie nach ihrem Rucksack und ging in die Küche, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Es roch nach gebackenen Maisbrötchen.

»Knall die Haustür nicht wieder, Jeanne«, mahnte ihre Mutter, »grand-père schläft noch.« Dem Großvater ging es seit Wochen schlecht. »Willst du nicht frühstücken?« Jeanne schüttelte den Kopf. Es war doch kaum etwas da, sie wollte dem Großvater nichts wegessen, was ihn vielleicht wieder auf die Beine bringen konnte. Und bestimmt würde Artur einen Imbiss aus der Gutsküche mitbringen. »Setz dich«, befahl die Mutter. »Kind, du wirst immer magerer.« Jeannes Magen knurrte wie zur Bestätigung. Die Mutter reichte ihr eine Tasse mit Ersatzkaffee aus gerösteter Gerste und ein warmes petit pain. Auf dem Tisch stand ein Töpfchen mit Erdbeermarmelade. Sie schmeckte säuerlich, weil es kaum noch Zucker gab. Während Jeanne dennoch gierig ein Brötchen verschlang, mahlte die Mutter weiter Maiskörner zu jenem groben Mehl, mit dem sie inzwischen die meisten Mahlzeiten zubereitete. Ihr besorgter Blick verriet, dass sie ihrer Tochter zutraute, noch ganz andere Unannehmlichkeiten als nur Lärm zu provozieren. »Halt dich zurück, wenn du in der Stadt bist! Es wimmelt dort von Soldaten.«

»Natürlich. Ich soll ja nur für Madame etwas aus der Teppichreinigung abholen. Und Artur begleitet mich, er hat dort auch etwas zu erledigen.«

»Weiß Madame davon?«, fragte ihre Mutter misstrauisch. »Ich glaub, sie sieht es nicht mehr gern, wenn ihr Sohn so engen Kontakt zu dir hält.«

»Sie hat es sogar selbst vorgeschlagen«, entgegnete Jeanne auftrumpfend.

Ihre Augen funkelten unternehmungslustig. Sie war erst zweimal in der großen Stadt gewesen.

»Tatsächlich? Sollst du etwa einen der Aubussons aus der Reinigung holen?« Die d’Avrils besaßen etliche dieser kostbaren Wandteppiche. »Der ist doch viel zu schwer für dich. Außerdem gäb’s jetzt wirklich Wichtigeres …«

Kopfschüttelnd unterdrückte Jeanne ein Glucksen. »Ich hole nur einen Beutel Staub ab.«

In diesem Moment begriff ihre Mutter, was der Auftrag zu bedeuten hatte. Einen Moment lang glitzerte es in ihren Augen, ihre Mundwinkel zuckten, sie konnte ihre Schadenfreude nicht verhehlen. Im vergangenen Jahr hatte sie selbst dabei geholfen, nachts im Weinkeller der d’Avrils im engsten Kreis von Familie und vertrauenswürdigen Mitarbeitern Flaschen mit minderwertigen Abfüllungen einzustauben. Sie hatten feinen grauen Staub, der bei den Teppichreinigungen angefallen und auf Bitten von Monsieur gesammelt worden war, in Siebe gefüllt und ihn mit sanftem Klopfen wie Puderzucker auf die falsch etikettierten grünen Glasflaschen rieseln lassen. Die somit auf alt getrimmten Chargen waren den Deutschen wenig später für viel Geld als Bordeaux-Raritäten verkauft worden. Einige sollten sogar direkt in den privaten Weinkeller von Reichsmarschall Hermann Göring nach Deutschland gegangen sein.

Mit derartigen kleinen subversiven Aktionen wehrten sich die Winzer gegen die Demütigungen, die sie ertragen mussten. Es half nicht wirklich gegen das Gefühl der Beschämung darüber, innerhalb kurzer Zeit von den Deutschen, denen Frankreich auch noch selbst den Krieg erklärt hatte, besiegt worden zu sein. Aber zumindest tröstete es ein wenig über den Frevel hinweg, den die Besatzer trieben, indem sie Spitzenweine für sich reklamierten und bei ihren Besäufnissen runterkippten wie Bier.

Deutsche austricksen – das war ein neuer Volkssport geworden. Es gab keinen Franzosen, von einigen Kollaborateuren abgesehen, der sich daran nicht klammheimlich erfreute. Auch die Miene von Jeannes Mutter verriet, dass sie eine gewisse Genugtuung empfand. Doch schon nach wenigen Sekunden wechselte ihr Gesichtsausdruck, und sie schaute wieder gewohnt ängstlich.

»Sei in Gottes Namen nicht frech zu den doryphores! Provozier sie nicht!«

»Was für Ausdrücke du benutzt, maman«, erwiderte Jeanne gespielt vorwurfsvoll, doch mit einem verschmitzten Lächeln. Doryphores, »Kartoffelkäfer«, nannten sie die Deutschen, seit man für die Verwendung der abschätzigen Bezeichnung »boches« ins Gefängnis gesteckt werden konnte. Zeitgleich mit Hitlers Soldaten hatten zwei Jahre zuvor auch Heerscharen von Kartoffelkäfern Frankreich heimgesucht. »Mach dir keine Sorgen. Was sollte denn an einem Beutel voller Staub verdächtig sein?« Unbekümmert drückte Jeanne ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Es kann etwas länger dauern. Artur möchte auf dem Rückweg noch seinen alten Chemielehrer besuchen, aber wir sind auf jeden Fall vor Beginn der Sperrstunde zurück.«

Ihre Mutter seufzte. Sie wusste wohl, dass sich ihre siebzehnjährige Tochter, das letzte ihrer fünf Kinder, das noch zu Hause wohnte, keine Vorschriften mehr machen ließ.

Jeanne schulterte ihren leeren Rucksack und bemühte sich, leise mit ihren holzbesohlten Schuhen über den Steinfußboden zu gehen. Vorsichtig zog sie die Tür ins Schloss. Das sandfarbene Kalksteinhäuschen ihrer Eltern, die wie schon ihre Vorfahren als Weinbauern für die adlige Familie d’Avril arbeiteten, lag auf einer kleinen Anhöhe umgeben von Rebreihen. Ihr Vater wässerte wie immer vor dem Frühstück den Gemüsegarten. Mit der Gießkanne hinkte er zur Regenwassertonne. Das steife Bein war ihm nach einer Verletzung im Großen Krieg geblieben. Das und sein hohes Alter hatten ihn jetzt vor der Einberufung bewahrt. Jeanne winkte ihm zu. Doch er reagierte nicht, wandte sich stattdessen seinen Bienenkörben zu, die er bald, wie jedes Jahr, im Park der d’Avrils aufstellen würde.

Nach einigen flotten Schritten auf dem Pfad zum Château blieb Jeanne stehen – was für ein Anblick, wie schön! Sie spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Frühnebel schwebte über den lang gezogenen Senken der Weinberge. Die Farben der Schleier wechselten zwischen Lachsrosa und Silbrig, sie schmeichelten dem Zartgrün der Landschaft. So liebte Jeanne ihre Heimat. So wirkte das Bordelais – das größte Weinanbaugebiet der Welt, das die berühmten Bordeauxweine hervorbrachte – noch intakt wie vor dem Krieg.

Jeanne schloss für einen Moment die Augen. Sie atmete tief durch. In der weichen Luft lag ein berückender süßlicher Duft, der ihr augenblicklich das Herz öffnete – die Weinreben blühten. Ihre Knospenkaspeln mussten über Nacht aufgeplatzt sein. Jeanne schnupperte konzentriert wie ein Feinschmecker, der einen Spitzenwein verkostete. Sie glaubte, auch eine Brise vom Meer wahrnehmen zu können. Wie ein Versprechen von Frische und Freiheit. Zwar hatte sie das Meer, das knapp sechzig Kilometer entfernt lag, noch nie gesehen, aber schon von klein auf meinte sie, an bestimmten Tagen seine vom Wind herbeigetragenen Aromen ausmachen zu können.

Ja, und nun mischte sich noch ein Hauch Rosenduft in die Komposition. Jetzt riecht es wie im Frieden, dachte Jeanne beglückt und sog das Duftgemisch ein, das sie an unbeschwerte Kindertage erinnerte.

Die Rosen liebte sie besonders. Schon als kleines Mädchen war sie deren Hüterin gewesen. Hatte Schädlinge von ihren Blättern und Blüten geklaubt, sie gewässert, mit Pferdedünger versorgt und mit ihrer Zuneigung gestärkt. Voller Begeisterung hatte sie freiwillig dem Obergärtner der d’Avrils assistiert. Und irgendwann war ihr die Kontrolle der Rosenbüsche, die am Ende einer jeden Weinstockreihe wuchsen, übertragen worden. Eine große Verantwortung für ein junges Mädchen. Die dunkelrot blühenden Sträucher standen dort schließlich nicht, weil es schön aussah (was es natürlich trotzdem tat), sondern, um als Frühmelder den Befall mit Ungeziefer, Pilzen und andere Pflanzenkrankheiten anzuzeigen. Meist war es bei ihrer Entdeckung noch früh genug, die robusteren Weinreben wirkungsvoll zu schützen.

Die Kirchenglocke tönte aus dem Dorf herüber, sie schlug sechsmal. Jeanne musste sich beeilen. Artur wollte am Anfang der Eichenallee, die zum Weingut führte, mit den Pferden auf sie warten. Trotz der Morgenkühle geriet sie ins Schwitzen, als sie eine Abkürzung quer über den Weinberg nahm. Der Dunst begann sich aufzulösen. Und von Nahem waren die Veränderungen unübersehbar. Wein blühte nie sonderlich spektakulär, eher unscheinbar. Doch jetzt hatte Mehltau die Blätter der Rebstöcke mit weißlichen Flecken übersät. Da bedurfte es keiner empfindsamen Rosen als Frühwarnsystem mehr. Die Gefahr näherte sich nicht, sie war längst da.

Überall wucherte Unkraut. Hier und da hatten Weinbauern, die für das Château arbeiteten, versucht, zwischen den Rebreihen Hirse fürs Vieh und Gemüse für ihre Familien zu ziehen. An manchen Stellen...