Der Mann, der Sherlock Holmes tötete - Roman

von: Graham Moore

Eichborn AG, 2019

ISBN: 9783732560431 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Mann, der Sherlock Holmes tötete - Roman


 

KAPITEL 2

Die Baker Street Irregulars


»Mein Name ist Sherlock Holmes. Es ist mein Beruf, zu wissen, was andere Leute nicht wissen.«

Sir Arthur Conan Doyle, Der blaue Karfunkel

5. Januar 2010

Die Fünf-Penny-Münze fiel trudelnd in Harolds Hand. Bei ihrer Landung – mit dem Kopf nach oben – fühlte sie sich schwer an, Harold schloss die Finger um das angelaufene Silber und drückte einige Augenblicke fest zu. Dann merkte er, dass seine Hände zitterten. Im Saal brach Applaus los.

»Bravo!«

»Willkommen im Club!«

»Glückwunsch, Harold!«

Harold hörte, wie gelacht und weiter applaudiert wurde. Er bekam einen Klaps auf den Rücken und von jemand anderem einen herzlichen Schulterdruck. Aber er konnte an nichts weiter denken als an die Münze in seiner Rechten. Mit der Linken hielt er seine neue Urkunde umklammert. Die Münze war nur unzureichend auf der linken unteren Ecke festgeklebt worden und hatte sich gelöst, als Harold allzu begeistert nach dem Papier gegriffen hatte. Sie war richtiggehend abgefallen, und Harold hatte sie mitten im Flug aufgefangen. Jetzt sah er auf das winzige Silberstück hinunter. Es war ein Schilling aus dem viktorianischen Zeitalter, der damals schlicht fünf Pennys wert gewesen war. Heutzutage war er sicherlich sehr viel mehr wert – für Harold ein Vermögen. Seine Augenwinkel wurden feucht, und er blinzelte. Die Münze bedeutete, dass er angekommen war. Dass er etwas geschafft hatte. Dass er dazugehörte.

»Willkommen, Harold«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Jemand fuhr ihm halb zärtlich, halb raufend mit der Hand über die Deerstalker-Jagdmütze auf seinem Kopf.

»Willkommen bei den Baker Street Irregulars.«

Als Harold diese Worte hörte, die zu hören er sich so lange gewünscht hatte, klangen sie seltsam und fremdartig. All diese Leute – zweihundert lachende, witzelnde und sich gegenseitig auf den Rücken klopfende Menschen – applaudierten ihm, Harold. Diesem Harold. Harold White, neunundzwanzig Jahre alt, mit dem leichten Bauchansatz, den buschigen Augenbrauen, der Hornhautverkrümmung und den schweißnassen, zitternden Händen.

Harold konnte nicht fassen, dass er all das tatsächlich verdient hatte. Hatte er aber. Hier gehörte er hin.

Die »Baker Street Irregulars« waren die weltweit führende der Vereinigungen, die sich den Sherlock-Holmes-Studien verschrieben hatten, und Harold war ihr jüngstes Mitglied. Zwei Jahre zuvor hatte Harold seinen ersten Artikel im Baker Street Journal veröffentlicht, der vierteljährlich erscheinenden Schriftenreihe der Irregulars. Zur Datierung von Blutflecken: Sherlock Holmes und die Begründung der modernen Forensik, so hatte Harold den Text übertitelt, in dem er den historischen Verbindungslinien zwischen Holmes’ ersten Experimenten in Eine Studie in Scharlachrot und dem Schaffen von Dr. Eduard Piotrowski nachgegangen war. (»Dr. Piotrowski, der in den 1890er-Jahren in Krakau praktizierte, schlug Kaninchenjungen den Schädel ein und zeichnete die Muster auf, die das herausspritzende Blut machte. Holmes’ Experimente waren ähnlich blutig, doch besaß er immerhin den Anstand, sich seines eigenen Blutes zu bedienen – genauso wie der Strapazen seines eigenen Schädels«, hatte Harold geschrieben, eine Passage, die er für die witzigste im gesamten Aufsatz hielt.) Hiernach hatte Harold noch zwei weitere Artikel in kleineren sherlockianischen Zeitschriften veröffentlicht. Heute war er zum ersten Mal beim jährlichen Dinner der Irregulars, zu dem man nur mit Einladung Zutritt hatte. Allein bei diesem Dinner ein geladener Gast zu sein, war schon eine gewaltige Ehre. Aber dann auch noch die Mitgliedschaft angeboten zu bekommen – in seinem jugendlichen Alter und mit einer derart kurzen wissenschaftlichen Laufbahn? Harold fiel niemand sonst bei den Irregulars ein, dem die Mitgliedschaft so schnell, nach nur einem einzigen Abendessen, angeboten worden war.

In seinem billigen schwarzen Anzug, der ihm an den Schultern zu weit war, und mit seiner mit Hühnchen besudelten Krawatte erlebte Harold gerade den stolzesten Moment seines Lebens. Er rückte die karierte Deerstalker-Mütze zurecht, die noch immer seinen Kopf zierte. Diese Mütze war mit weitem Abstand seine wertvollste Habe. Er besaß sie, seitdem er als Vierzehnjähriger zum Sherlock-Holmes-Aficionado geworden war und sich zu Halloween als der berühmte Detektiv verkleidet hatte. Als seine Liebe zu Holmes keine jugendliche Faszination mehr war, sondern sich zum Forschungsinteresse eines Erwachsenen mauserte, wurde aus dem, was einst Teil eines Kostüms gewesen war, nach und nach Alltagskleidung. Harold hatte diese Mütze sogar bei seiner Abschlussfeier an der Universität Princeton getragen und sich zu diesem Anlass zusätzlich noch eine Troddel angenäht. Als aus dem nervösen Teenager der Harold geworden war, der sich durch seine Jahre als Twenty-Something schleppte, leistete ihm die Mütze bei Cocktailpartys, Herbstpicknicks und den immer häufiger vorkommenden Hochzeiten im Freundeskreis gute Dienste. Er trug sie auch, als er seine erste Stelle als Assistent eines New Yorker Verlegers antrat. Und er trug sie, als er sich von Amanda trennte, mit der er seine bisher längste Beziehung gehabt hatte und über die er nie ein Wort verlor.

Das Dinner der Irregulars, abgehalten im Algonquin Hotel auf der 44. Straße, fiel wie jedes Jahr mitten hinein in die große Woche der Sherlockiana. Sämtliche Gesellschaften und Vereine, die sich weltweit der Feier von Sherlock Holmes verschrieben hatten, kamen für vier Tage in New York zusammen, üblicherweise rund um den 6. Januar, Holmes’ Geburtstag. Es gab Vorträge, Rundgänge, Signierstunden, Auktionen viktorianischer Antiquitäten und Erstausgaben: der reinste Himmel für einen Sherlock-Holmes-Jünger.

Von den Hunderten der hier vertretenen sherlockianischen Vereine waren die Baker Street Irregulars auf jeden Fall der älteste, geschichtsträchtigste und exklusivste. Sogar Truman und Roosevelt wollten hier Mitglied sein, genauso wie Isaac Asimov. Ausschließlich Irregulars sowie ihre wenigen Gäste wurden zum jährlichen Dinner zugelassen, und die selten an Außenstehende ergehenden Einladungen waren für Sherlockianer weltweit Objekte heißer Begierde.

Wie allgemein bekannt, zeichneten die Irregulars auch verantwortlich dafür, den 6. Januar als Holmes’ Geburtstag deduziert zu haben. Dieses Datum nämlich hatte Sir Arthur Conan Doyle im »Kanon« – also den vier Romanen und sechsundfünfzig kurzen Erzählungen, die zusammengenommen die wahren Sherlock-Holmes-Abenteuergeschichten sind – kein einziges Mal direkt genannt. Aber nach extensiver, allergründlichster Lektüre dieser kanonischen Geschichten stellte Christopher Morley, einer der Gründungsväter der Irregulars, die These auf, dass der 6. Januar der hochwahrscheinliche Kandidat für Holmes’ Geburtstag sei.

Alle anderen Vereine und Gesellschaften wurden als »Ableger« der Irregulars betrachtet und brauchten eine offizielle Gründungsbewilligung der Irregulars. Unmöglich, sich bei den Irregulars als Mitglied zu bewerben – wer sich im Feld sherlockianischer Forschung hervortat, der wurde von ihnen angefragt. Und wen der Vorsitzende der Irregulars für qualifiziert genug hielt, der bekam als Zeichen der Mitgliedschaft ein Schillingstück überreicht. Wie die Münze aus angelaufenem, antikem Silber, die Harold zwischen seinen weiß werdenden Knöcheln drückte.

Der Applaus verebbte zu verhaltenem Geplauder. Stühle wurden von den Esstischen weggeschoben, weiße Leinenservietten auf Teller voller halbverspeister Hühnchen und Gemüsereste gelegt. Scotch-Gläser wurden mit langen Schlucken ausgetrunken. Hände wurden geschüttelt. Man war dabei, sich zu verabschieden.

Plötzlich kam Harold sich wie ein Idiot vor, so mit seinem fest umklammerten Schilling in der Hand. Von diesem Moment hatte er geträumt, seitdem er wusste, dass es die Irregulars gab. Und jetzt war er vorüber. Er fragte sich, was er wohl als Nächstes unternehmen müsste, um dieses Gefühl erneut zu erleben. Er wollte sich so gern länger an seinen Erfolgen festhalten, sie im öden Alltagstrott nicht gleich wieder verblassen lassen. Harold sah den Kellnern dabei zu, wie sie das Besteck zusammenräumten, wie sie dreckige Gabeln und stumpfe Buttermesser in Plastikeimer kehrten.

Harold lebte in Los Angeles und arbeitete als freischaffender Literaturwissenschaftler. Die meisten Aufträge bekam er von Filmstudios, deren Rechtsabteilungen ihn anheuerten, sobald sie eine Klage wegen Urheberrechtsverletzung abzuweisen hatten. Wenn ein wütender Romanschriftsteller die Produzenten des größten Action-Blockbusters des Sommers verklagte, weil sie seiner Ansicht nach die Idee seines vor zwanzig Jahren erschienenen und kaum gelesenen Politthrillers geklaut hatten, war es Harolds Job, eine kurze Erörterung zu verfassen, in der stand, dass tatsächlich beide künstlerischen Werke ihre zentralen Handlungselemente einem wenig bekannten Theaterstück von Ben Jonson, einer der schwierigen Kurzgeschichten von Dostojewski oder irgendeinem anderen, ähnlich obskuren und ähnlich gemeinfreien Werk entlehnt hatten. Die Justiziare der Studios führten Harolds Namen oft und lobend im Munde – außer in den seltenen Fällen, wenn sie sich gegenseitig verklagten.

Harolds Hauptqualifikation für seine Tätigkeit war, dass er alles gelesen hatte. Er hatte schlicht mehr Bücher, mehr Romane gelesen als jeder andere, der ihm oder einem seiner Arbeitgeber je begegnet war. Dass er das trotz seines jungen Alters geschafft hatte, verdankte er seiner ausgeprägten...