Deutscher Frühling - Roman

von: Sebastian Thiel

Gmeiner-Verlag, 2019

ISBN: 9783839260104 , 246 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Deutscher Frühling - Roman


 

Kapitel 2
- Germania -


23. April 1945

Das war es also.

Berlin war eingeschlossen.

Luisa hielt den Atem an und lauschte den gedämpften Stimmen, die aus dem Hinterhof drangen. Dabei umklammerte sie das blutige Fleisch der zwei Karnickel so fest, als wären sie noch am Leben und könnten sich freistrampeln. Eigentlich hatte der Tag gut begonnen. Seit zwei Nächten waren die Luftangriffe ausgeblieben. Sie konnte in der Zeit drei Kippen gegen ein wenig Käse eintauschen, diesen zur alten Frau Huber bringen, woraufhin sie einen kleinen Sack Steckrüben bekam. Darauf war der dümmliche Schmitze aus Charlottenburg besonders scharf, weshalb er ihr seine Schmerzmittel und Süßigkeiten überließ. Diese wiederum brachte sie in den Moabiter Hinterhof, wo an diesem dämmrigen Tag das Leben noch den Hauch eines Pulses hatte. In den zerbombten und notdürftig freigeräumten Höfen konnte man alles tauschen, was noch irgendeinen Wert hatte. Kalle, ein schlaksiger Kerl mit schlechten Zähnen und guten Kontakten, war hier so was wie der Chef des Blocks. Man munkelte, dass er Fotografien von allen großen Tieren der Ordnungspolizei und Verwaltung geschossen hatte. So ein Bordell im Hinterhof zahlte sich offensichtlich aus. Einen großen Teil des Eudokal brauchte er selbst – wahrscheinlich wegen der eitrigen schwarzen Stümpfe in seiner Hackfresse, die er tatsächlich Zähne nannte. Mit Pervitin machte er die Mädchen gefügig und schenkte ihnen noch Süßigkeiten, wenn sie mal wieder einen ganz besonders perversen Wunsch zu erfüllen hatten.

Dabei waren die Frauen kaum älter als sie, Luisa. Doch wo Vater und Mutter fehlten, vom Krieg fortgerissen, hatte solcher Abschaum wie Kalle es nicht schwer. Niemand kannte seinen richtigen Namen und vielleicht war das auch gut so. Allerdings war er immer sehr gut informiert und seine geflüsterten Worte weckten bei Luisa höchste Aufmerksamkeit.

»Ist es wahr?« Langsam trat sie aus dem Schatten. Sie wusste, dass ihre hellblonden, beinahe weißen Haare sie verrieten, weshalb sie ein dunkelrotes Tuch um ihren Kopf gebunden hatte.

Nachdem der erste Schock überwunden war, grinste Kalle breit. Augenblicklich wurde Luisa speiübel. Worte waren zeitweise gefährlicher als Taten. Nicht wenige hatte die Schutzstaffel aufgeknüpft und mit warnenden Schildern versehen.

»Was soll wahr sein, Porovnik?« Kalle erhob sich vom kleinen Kohleofen, ebenso seine Mannen. Nervös blickte die Gruppe umher. Jetzt, wo das Reich zusammenbrach, zog sich auch die schützende Hand der Funktionäre langsam zurück. Jedermann spürte den eisigen Hauch des Todes über der Stadt wehen und erkannte die Veränderung, die er mit sich brachte.

Nachdem Kalle sich vergewissert hatte, dass niemand sonst ihr Gespräch belauschte und seine Mädels immer noch brav am anderen Ende des Hinterhofs ihren Körper feilboten, vollführte er einen Schritt auf Luisa zu. Behutsam, als wäre ihr Gesicht aus Porzellan, streichelte er ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

»Wie alt bist du jetzt, Porovnik?«

»Stimmt es, was du gerade gesagt hast?«, entgegnete sie trotzig. Sie ließ die Hand auf ihren Rücken gleiten und umfasste den Griff ihres Lieblingsmessers. Er wäre nicht die erste Type gewesen, die meinte, dass ihre blauen Augen und die zierliche Figur dazu einluden, sie zu betatschen.

Kalle kam nah an sie heran. Sein stinkender Atem legte sich beißend in ihre Nase. »Beantworte mir meine Frage und ich beantworte deine.«

»Ich bin 14.« Sie zog die Nase hoch und fixierte ihn. »Und jetzt bist du dran?«

»14? Was für ein wundervolles Alter.« Seine Männer lachten leise. »Wie wäre es, wenn du bei mir anfängst? Ich kann dich beschützen. Kein Schweinkram, nur leichte Sachen am Anfang. Ein wenig tanzen, vielleicht mal ein Rohr reinigen?«

Kurz blickte Luisa zu den Mädchen. Ihre Gesichter waren nur notdürftig gereinigt, wandelnden Leichen gleich hatten ihre Augen sämtlichen Glanz verloren. Blutergüsse zierten die jungen Gesichter, einer war sogar der Arm gebrochen worden. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, während sie zerschnittene Bettlaken notdürftig um ihren Arm wickelte.

Beileibe war Luisa nicht fremd, wie es sich anfühlte, wenn die Faust eines Mannes gegen das Jochbein hämmerte, und wie laut es knackte, wenn dünne Mädchenfinger brachen. Ihr Vater war ein Säufer, dem nur allzu oft die Hand ausrutschte, wenn er mal wieder kein Geld hatte, um sich neuen Stoff zu kaufen, oder erneut seine Arbeit im Schlachthof verlor. Als sie die Mädchen sah, war da wieder das Pochen in ihrem Gesicht, wenn die Farbe des Blutergusses langsam ins Violette wechselte. Ohne Frage, mit Kalle und seinen Spießgesellen war nicht zu spaßen.

Luisa rang sich ein Lächeln ab und legte den Hauch von Verführung in ihre Stimme. Das mochten die Männer. Mutter machte dies manchmal, wenn sie nichts auf den Tellern hatten und sie mit dem Bäcker in ein Hinterzimmer ging. »Ich versuche, daran zu denken«, antwortete sie zuckersüß und holte tief Luft. »Stimmt es nun?«

»Scheint so.« Kalle nickte langsam und musterte sie von oben bis unten. »Der Freund eines Freundes hat ein Radio und hört BBC. Weißt du, was das ist?«

Luisa nickte. Natürlich wusste sie das. Beim Bund Deutscher Mädel gab es sogar Unterrichtsstunden, die sich mit dem Thema der Feindpropaganda befassten. Die British Broadcasting Corporation war eines der schlimmsten Sprachrohre der Tommys. Hinter vorgehaltener Hand wurde allerdings darüber berichtet, dass die Aussagen allzu oft zutrafen.

»Gut«, flüsterte Kalle und streichelte über ihre Wange. »Hübsch und klug, schau mal einer an. Davon haben wir hier nicht allzu viele. Angeblich sollen die Amis schon an den Elbwiesen stehen, der Ivan ein paar Kilometer davor. Du weißt, was passiert, wenn der Bolschewik hier ist?«

Jeder wusste es. Plakate kündeten von nichts anderem, aus Lautsprecherwagen hallte immer dieselbe Platte. Nur der Volkssturm, in Verbindung mit des Führers Genialität, konnte die rote Pest noch aufhalten. Luisas Magen krampfte, doch sie ließ sich nichts anmerken. Wenn es auch nur im Ansatz stimmte, was die Männer flüsterten, stand ihr die Hölle auf Erden bevor.

»Oh, aber nicht doch.« Kalle zog die Augenbrauen hoch, als würden ihm seine Worte plötzlich furchtbar leidtun. »Auch vor denen kann ich dich vielleicht beschützen. Es wäre doch schändlich, wenn alles so ungeregelt abliefe. Mit ein wenig Glück könnte ich dafür sorgen, dass man dich gut behandelt und du nur die Offiziere bedienen musst.« Er schnalzte mit der Zunge, schob ihren Schal beiseite, damit er einen Blick auf ihre Brüste werfen konnte. »Es würde dir gut gehen.«

In einer Bewegung zog Luisa das Messer und drückte das Metall an seine Kehle. Seine Männer waren sofort aufgesprungen, trauten sich aber nicht, einen Schritt näherzukommen.

»So weit wird es nicht kommen«, zischte sie und musste sich auf die Zehenspitzen stellen. »Unser Führer wird den Ivan bis tief nach Sibirien zurückwerfen. Wenn nur jeder tut, was er kann, werden die Wellen des Russen an Berlin abprallen wie …«

Luisa hatte sich in Rage geredet und nicht gemerkt, wie Kalle das Gewicht auf seinen linken Fuß verlagerte. Blitzschnell zog er sein Knie hoch, drückte sie weg und nahm das Messer an sich. Sie spürte einen heftigen Schmerz in der Magengegend. Tränen schossen in ihre Augen, während sie die Karnickel fallen ließ und nach Luft schnappte.

»Hörst du das, Porovnik?«, wollte Kalle wissen und hob das Messer in die Höhe wie einen verlängerten Finger. Gemeinsam lauschten sie den grollenden Donnerschlägen. »Was meinst du, was das ist? Diese ständig währenden Kanonenschläge, als würde Thor persönlich und nicht weit entfernt seinen mächtigen Hammer auf den Amboss niederschlagen? Hörst du nicht das Pfeifen, das der Wind zu uns trägt? Sind das die Panzerdivisionen des Führers, die den Feind bis nach Sibirien zurückwerfen? Oder könnten es doch die Stalinorgeln des Feindes sein?«

Luisa lauschte in die dunkler werdende Dämmerung. Der helle Pfiff einer Katjuscha-Rakete war zu einem ständigen Begleiter geworden. Mittlerweile hörte man nicht einmal mehr den Fliegeralarm, die Bomben fielen einfach ohne Vorwarnung.

Sie biss die Zähne aufeinander. Sie hasste Kalle und alles, wofür er stand. Allerdings war ihr nur allzu bewusst, dass er die Wahrheit sprach und dieser Krieg schon bald zu Ende sein würde. Danach würde nichts mehr sein, wie es einmal war. Germania, die Hauptstadt der Welt und schönste aller Metropolen, lag in Asche. Es würde keine Division kommen, keine Fliegerstaffel sie herausholen, keine Armee sie beschützen.

Obwohl sie stark sein wollte, verließ eine Träne ihre Wange. »Und was wenn doch? Wenn wir doch noch den Krieg gewinnen?«

Kalle griff in die Hosentasche seines Anzugs. Zum Vorschein kamen etliche Pillen. »Weißt du, was derzeit mein Verkaufsrenner ist, Porovnik? Das ist Blausäure.« Wie einen kostbaren Schatz streichelte er die Pillen mit der Spitze des Messers. »Wirken schnell und zuverlässig. Garantiert keine Schmerzen. Die Leute kaufen sie wie verrückt, weil die wenigsten dazu in der Lage sind, sich den Lauf einer Pistole an die Schläfe zu setzen und abzudrücken. Besonders bei ihren Kindern.« Wieder grinste er fies und zeigte seine schwarzen Zähne im glühenden Licht des kleinen Ofens. »Haben sich deine Eltern Pillen besorgt?« Er steckte sie wieder in seine Tasche. »Sollten sie vielleicht.«

»Wir werden diesen Krieg nicht verlieren. Der Führer hat versprochen …«

»Eher pisse ich flüssige Ambrosia und verbringe...