Skandalöse Liebesnächte in London

von: Lisa Kleypas

CORA Verlag, 2019

ISBN: 9783733736521 , 264 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 6,49 EUR

Mehr zum Inhalt

Skandalöse Liebesnächte in London


 

1. KAPITEL

London, Sommer 1876

Jemand schlich ihr nach.

Bei der Erkenntnis sträubten sich Garrett die Nackenhaare. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich beobachtet fühlte, wenn sie dem Armenspital ihren wöchentlichen Besuch abstattete, doch bis jetzt hatte sie ihren Verdacht nicht bestätigt gefunden. Hinter ihr waren keine Schritte zu hören, und ebenso wenig konnte sie einen Verfolger entdecken, wenn sie einen prüfenden Blick über die Schulter warf. Dennoch wusste sie, dass jemand da war, ganz in der Nähe.

Die lederne Arzttasche in der Rechten und den Spazierstock aus Hickoryholz in der Linken, schritt Garrett weit aus, während sie mit wachem Blick jedes Detail in ihrer Umgebung aufnahm. Der Bezirk Clerkenwell im Osten Londons gehörte zu den Vierteln, in denen man sich besser keine Unaufmerksamkeit leistete. Glücklicherweise befand sie sich nur zwei Blocks entfernt von der neuen Hauptstraße, und dort konnte sie eine Mietdroschke heranwinken.

Als sie die Gitterroste über der Fleet Ditch überquerte, trieben ihr die strengen Dünste, die dem unterirdischen Abwasserkanal entstiegen, die Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie sich ein parfümiertes Tüchlein vor Mund und Nase gehalten, doch so etwas pflegte in Clerkenwell kein Mensch zu tun, und sie wollte möglichst nicht auffallen.

Die rußgeschwärzten Wohnhäuser standen eng nebeneinander und waren geisterhaft still. Bei den meisten handelte es sich um verlassene, abbruchreife Ruinen, an deren Stelle in Kürze neue Gebäude errichtet würden. Von der Laterne am Ende der Straße drang nur spärliches Licht durch den fahlgelben Sommernebel, dessen dichte Schwaden hin und wieder kurz aufbrachen und einen marmorierten Vollmond enthüllten. Bald würden die üblichen Scharen von Hökern, Taschendieben, Säufern und Huren aus ihren Löchern kriechen und die Bürgersteige bevölkern. Bis dahin hatte Garrett vor, aus der Gegend verschwunden zu sein.

Plötzlich zeichneten sich vor ihr im Dunst drei Silhouetten ab. Es waren Soldaten, die grölend in ihre Richtung kamen. Garrett wechselte die Straßenseite und hielt sich im Schatten der Gebäude. Doch zu spät – einer von ihnen hatte sie entdeckt und blieb stehen.

„Uns lacht das Glück“, rief er seinen Kameraden zu. „Eine Bordsteinschwalbe, ganz zu unserem Vergnügen.“

Garrett musterte die Männer kühl und schloss die Finger fester um den Griff ihres Spazierstocks. Offenbar waren die Kerle betrunken. Wahrscheinlich hatten sie den ganzen Tag in einer Taverne verbracht. Für Soldaten auf Urlaub gab es kaum einen anderen Zeitvertreib.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als die drei kehrtmachten und auf sie zusteuerten. „Lassen Sie mich in Ruhe, Gentlemen“, verlangte sie kurz angebunden und wollte die Straße erneut überqueren.

Sie schlossen zu ihr auf und verstellten ihr krakeelend und gestikulierend den Weg. „Spricht wie eine Dame“, erklärte der Jüngste des Trios seinen Kumpanen mit schwerer Zunge. Er war barhäuptig, das Haar stand ihm in rostroten Locken vom Kopf ab.

„Ist aber keine“, widersprach einer der anderen beiden, ein Kerl wie ein Schrank mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, der keinen Uniformrock trug. „Nicht wenn sie nachts allein draußen herumläuft.“ Er musterte Garrett mit einem anzüglichen Grinsen, das seine gelben Zahnstümpfe sehen ließ. „Mach, stell dich an die Wand, und heb die Röcke, du eingebildetes Weibsstück. Ich habe Lust auf eine Drei-Penny-Nummer.“

„Sie irren sich.“ Garrett versuchte um ihn herumzugehen. Zu dritt verstellten sie ihr den Weg. „Ich bin keine Prostituierte. Für dergleichen Bedürfnisse finden sich zahlreiche Bordelle in der Nähe.“

„Aber ich habe keine Lust, dafür zu bezahlen“, erwiderte der Koloss aufsässig. „Ich will es umsonst. Und zwar auf der Stelle.“

Es war nicht das erste Mal, dass Garrett beleidigt oder bedroht wurde, während sie in den Armenvierteln von London unterwegs war. Sie nahm Unterricht bei einem Fechtmeister, um für diese Art von Situationen gewappnet zu sein. Doch nachdem sie im Spital mehr als zwei Dutzend Patienten behandelt hatte, war sie erschöpft und außerdem wütend, von einer Bande Holzköpfe aufgehalten zu werden, während sie eigentlich nur noch nach Hause wollte.

Sie biss die Zähne zusammen. „Als Soldaten im Dienste Ihrer Majestät haben Sie die verdammte Pflicht, die Ehre einer Frau zu schützen, meine Herren, und nicht, sie anzutasten.“

Ihre Bemerkung rief wieherndes Gelächter hervor.

„Braucht einen Dämpfer, die feine Dame“, rief der Dritte des Trupps, ein korpulenter, grobschlächtiger Kerl mit einem pockennarbigen Gesicht und schwerlidrigen Augen.

„Ich kann mich gern darum kümmern“, bot der Junge eifrig an. Er rieb sich den Schritt und zog seine Hosen straff, sodass nichts an der die Form seines Gemächts der Fantasie überlassen blieb.

Der Kerl mit den scharfen Gesichtszügen musterte Garrett drohend. „Los, an die Wand, meine Schöne. Hure oder nicht, du wirst uns zu Willen sein.“

Sein untersetzter Kumpan zog ein Bajonettmesser aus dem Gürtelfutteral und hielt es hoch, sodass die gezackte Schneide sichtbar war. „Mach schon, tu, was er sagt, oder ich richte dich zu wie einen gespickten Schinken.“

Garrett hob sich der Magen. „Es ist ungesetzlich, eine Waffe zu ziehen, wenn Sie nicht im Dienst sind“, meinte sie kühl, obwohl ihr das Herz zu rasen begann. „Zusammen mit Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Vergewaltigung bringt Ihnen das eine saftige Prügelstrafe ein und wenigstens zehn Jahre Kerker.“

Der grobschlächtige Taugenichts grinste. „Dann pass auf, dass ich dir nicht die Zunge herausschneide, damit du niemandem davon erzählen kannst.“

Garrett hatte keinen Zweifel, dass er es tun würde. Als Tochter eines früheren Konstablers wusste sie, dass Kerle, die das Messer zogen, es ernst meinten, und außerdem musste sie häufig genug Frauen eine aufgeschlitzte Wange zusammennähen, wenn ein Vergewaltiger ihr ein Andenken hinterlassen hatte.

„Langsam, Keech“, schaltete sich der Jüngere beschwichtigend ein. „Du musst die arme Kleine nicht verschrecken.“ Er wandte sich zu Garrett um und sagte beinahe begütigend: „Mach, was wir sagen. Es ist einfacher für dich, wenn du keinen Widerstand leistest.“

Zorn schoss in ihr hoch, doch gleichzeitig erinnerte Garrett sich an einen Ratschlag, den ihr Vater ihr für solche Situationen gegeben hatte. Halt Abstand. Achte auf deine Flanken. Sprich mit deinem Gegner und lenk ihn ab, während du den richtigen Moment abpasst.

„Warum eine Frau zwingen, die nicht will?“ Sie bückte sich und stellte ihren Arztkoffer auf den Boden. „Wenn ihr kein Geld fürs Bordell habt, kann ich euch welches geben.“ Unauffällig ließ sie die Hand in die Außentasche des Koffers gleiten, wo sie die Lederrolle mit den chirurgischen Messern aufbewahrte. Ihre Finger schlossen sich um den Griff eines Skalpells, das sie geschickt verbarg, als sie sich wieder aufrichtete. Das vertraute Gewicht des Instruments gab ihr Mut.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass der korpulente Soldat mit dem Bajonettmesser sie zu umrunden begann.

Gleichzeitig trat der Kerl mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen näher. „Wir nehmen dein Geld“, versicherte er ihr grinsend. „Aber erst vergnügen wir uns mit dir.“

Garrett schloss die Finger fester um den Griff des Skalpells und platzierte den Daumen auf der flachen Seite, während sie mit der Zeigefingerspitze an der stumpfen Seite der Klinge entlangstrich. Los, wirf, wies sie sich in Gedanken an, holte aus und schleuderte das Skalpell nur aus dem Handgelenk, damit es nicht ins Trudeln geriet und sein Ziel verfehlte. Das Geschoss traf ihren Gegner in der Wange. Noch während er aufbrüllte, wirbelte Garrett herum und ließ ihren Spazierstock mit einer solchen Wucht auf das Handgelenk des Angreifers mit dem Bajonettmesser herniedersausen, dass ihm seine Waffe aus den kraftlosen Fingern glitt. Garrett landete einen weiteren Schlag gegen seinen Brustkorb und hörte, wie seine Rippen brachen. Sie stieß ihm die Spitze des Spazierstocks in die Weichteile, sodass er sich krümmte, und brachte ihn mit einem letzten Stoß unter das Kinn endgültig zur Strecke.

Er sank in sich zusammen wie ein halbgares Soufflé.

Garrett schnappte sich das Bajonettmesser und wandte sich den anderen beiden Halunken zu.

Und stand da wie angewurzelt. Ihre Brust hob und senkte sich unter ihren raschen Atemzügen.

Es herrschte Stille.

Die beiden Kerle lagen ausgestreckt auf dem Boden.

Wollten sie sie hinters Licht führen? Gaben sie vor, bewusstlos zu sein, um sie näher zu locken?

Vibrierende, aufgepeitschte Kampfbereitschaft pulsierte ihr durch den Körper, der noch nicht erkannt zu haben schien, dass der Notfall vorüber war. Langsam trat sie näher, um sich ihre beiden Angreifer anzusehen, sorgsam darauf bedacht, eine Armeslänge Abstand einzuhalten. Ihr Skalpell hatte eine blutige Wunde in die Wange des Größeren gerissen, doch dass er davon bewusstlos geworden sein sollte? An seiner Schläfe entdeckte sie einen rötlichen Abdruck, der von roher Gewalteinwirkung zeugte.

Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den jüngeren Soldaten, aus dessen Nase das Blut strömte und die ohne Zweifel gebrochen war.

„Was zum Teufel…?“, murmelte sie fassungslos und sah die stille Straße hinauf und hinunter. Wieder beschlich sie das Gefühl, dass jemand da war. Es musste so sein, es sei denn, die beiden...