Blutmond - Ein Kopenhagen-Thriller

von: Katrine Engberg

Diogenes, 2019

ISBN: 9783257609448 , 496 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Blutmond - Ein Kopenhagen-Thriller


 

Donnerstag, 28. Januar


1


»Ja. Hm, hm. Ørstedspark? Okay, ich komme.«

Polizeiassistent Jeppe Kørner erwachte beim Geräusch seiner eigenen schlaf‌trunkenen Stimme und stand auf. Die Routineabläufe hatte er verinnerlicht, er musste keinen Gedanken daran verschwenden: eine lange kalte Dusche, lange Unterhose unter die Jeans, Notizbuch, eine warme Mütze über das frisch gefönte Haar. Schon wenige Minuten nach dem Anruf stand er im Flur und schloss den Reißverschluss seiner Fleecejacke.

Sein Blick streif‌te sein Spiegelbild, das ihm seltsam unscharf erschien. Er kontrollierte kurz Gesicht und Kleidung. Noch immer hatte er eine gute Farbe, obwohl er bereits vor zwei Wochen in die Dunkelheit und Kälte zurückgekommen war. Zum allerersten Mal in seinem Leben hatte er sich so eine Reise gegönnt: vier Wochen Westaustralien, von Perth die Küste hinauf bis Broome. Ein erheblicher Teil seiner Ersparnisse war dabei draufgegangen, aber es hatte sich mehr als gelohnt. Er war als ausgebrannter, von Rückenschmerzen gequälter und von Medikamenten abhängiger Mann aufgebrochen. Ohne Glaube an die Liebe, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Jetzt war er wieder in der Spur.

Jeppe nahm die Autoschlüssel vom Haken, überprüf‌te, ob seine Polizeimarke und ein aufgeladenes Telefon in seiner Manteltasche steckten, und zog die Haustür hinter sich zu. Die Kälte schlug ihm direkt ins Gesicht. Sie kroch unter die Kleidung und unter die Haut und ließ seinen Lebensmut langsam, aber sicher wieder gefrieren.

Der Wagen startete erst beim dritten Versuch. Jeppe ließ den Motor laufen, während er rasch die Eisblumen von der Frontscheibe kratzte. Vorsichtig fuhr er durch den Schnee in Richtung Innenstadt. Es war halb vier Uhr morgens, und Kopenhagens Straßen glichen einer verlassenen Filmkulisse.

An der Kreuzung Nørre Farimagsgade und H.C. Andersens Boulevard hielt Jeppe an der Bordsteinkante vor dem Ørstedspark. Auf der anderen Seite des schmiedeeisernen Gitters sah er Licht, vermutlich die Kriminaltechniker vom NKC, des Nationalen Kriminaltechnischen Centers, die bereits ihre Scheinwerfer aufgestellt hatten. Jeppe nickte den beiden Beamten an der Absperrung zu und betrat den direkt hinter dem Tor gelegenen Spielplatz.

Vor dem Toilettenhäuschen war eine Gruppe Spurensicherer in blauen Schutzanzügen zugange. Als Jeppe näher herantrat, sah er einen Schatten im Schnee. Die Leiche. Sie lag in embryonaler Haltung zusammengekrümmt auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen; der ganze Körper war um die Stelle gerollt, an der ihn eine Nabelschnur einst mit Leben versorgte – die letzte Stelle, an der die Wärme verschwindet, bevor man vor Kälte stirbt. Wir verlassen die Welt, wie wir sie betreten.

Jeppe seufzte. Was für eine Verschwendung.

Eine Gestalt kam ihm aus der Gruppe der Blaugekleideten entgegen. Jeppe erkannte ihn als Lima 11, den wachhabenden Einsatzleiter, der bei Leichenfunden immer als Erster gerufen wurde, um das weitere Vorgehen festzulegen.

»Kørner, willkommen.«

»Ja, danke. Was haben wir?« Jeppe wischte sich mit einem Handschuh diskret über die vor Kälte tränenden Augen. Diese verdammte Kälte!

»Ein Obdachloser, wie es aussieht. Todesursache: Suff und Kälte. Hat überall hingekotzt und sich dann schlafen gelegt.«

»Okay. Irgendetwas Außergewöhnliches?«

»Nicht unmittelbar. Allerdings gibt es keine Zeugen, die Todesursache ist unklar, und der Tote hat keinerlei Papiere bei sich, daher müssen wir den Todesfall bis auf weiteres als verdächtig ansehen. Die Standardprozedur.«

»Wer hat ihn gefunden?«

Der Einsatzleiter befragte seine Notizen auf einem kleinen Block. »Ein Streifenwagen des Innenstadtreviers fand ihn um 01:54 Uhr leblos, der zuständige Notarzt erklärte ihn um 02:21 Uhr offiziell für tot. Die Techniker sind kurz nach drei gekommen und haben angefangen, ihre Scheinwerfer aufzubauen. Eine verdammte Schufterei bei der Dunkelheit und Glätte.«

»Ist der Rechtsmediziner schon da?«

Der Einsatzleiter hob das Kinn zu einem bestätigenden Nicken in Richtung einer großen Gestalt am Toilettenhäuschen. Kein Geringerer als Nyboe persönlich. Eigentlich war es unter der Würde des dienstältesten Staatlichen Pathologen und Professors der Rechtsmedizin, mitten in der Nacht im Ørstedspark zu stehen.

Jeppe zog sein Notizbuch aus der Tasche und ging zu ihm.

»Hej, Nyboe, was verschafft uns die Ehre?«

Nyboe war ein hochgewachsener Mann, der sich sein ganzes Leben lang zu seinen Gesprächspartnern hatte hinunterbücken müssen. Inzwischen war sein Nacken krumm, und in den weißen, kurzgeschnittenen Haaren zeigte sich ein blanker Fleck. Seine Augen strahlten jedoch nach wie vor Autorität aus, und mangelnde Selbstsicherheit konnte man ihm gewiss nicht nachsagen.

Er drehte sich um und nickte kurz.

»Ich kann im Winter nicht schlafen. Von Oktober bis März bin ich eine Nachteule. Die Dunkelheit hält mich wach, da kann ich ebenso gut arbeiten.« Nyboe fuhr mit der Hand durch sein spärliches Haupthaar. Er sah müde aus. Verfroren. Jeppe hätte ihm gern seine Mütze angeboten, ließ es aber. Nyboe war nicht der Typ, der diese Art von Fürsorge geschätzt hätte. »Es gibt eine Menge Spuren von Schuhsohlen im Schnee. Aber nachts ist hier im Park trotz der Kälte ja einiges los, daher sollten wir nicht allzu viel erwarten.«

»Was wissen wir bisher?«

»Wir wissen nicht sehr viel, wir sind ja gerade erst gekommen. Aber ich gehe davon aus, dass wir es mit einem obdachlosen Mann zu tun haben, der sich mit billigem Fusel abgefüllt hat, bevor Väterchen Frost ihn zu Bett gebracht hat.«

Jeppe unterdrückte ein Gähnen. »Es gibt also unmittelbar keinen Grund für meine Anwesenheit?«

»Nein. Wir müssen bei der Leichenschau entscheiden, ob es nötig ist, ihn zu obduzieren, aber ich glaube es eher nicht. Wir schaffen ihn gleich weg, aber ich sehe keinen Grund, dass du mitkommen musst.«

»Sicher?«

Der Rechtsmediziner sah Jeppe an, als hätte er ihn beleidigt.

»Ich informiere die Streifenwagenbesatzung über meine Resultate, du erhältst dann ihren Bericht.«

»Gut, okay, ich sehe mich nur noch ein bisschen um.«

Nyboe nickte gnädig. »Solange du nicht im Weg stehst.« Er zog seine Handschuhe an und hockte sich neben die Leiche. Jeppe sah ihm über die Schulter.

Der Tote lag neben dem Toilettenhäuschen. Das Gesicht wurde von strähnigen dunklen Locken verborgen, die unter einer Wollmütze hervorlugten; in den Schlagschatten der blendenden Arbeitslampen waren glattrasierte Wangen und helle Haut zu erahnen. Über dem Strickpullover trug er einen dunklen Wollmantel, der durchaus einem Geschäftsmann hätte gehören können, wären da nicht diese aufgenähten Embleme und die Flecken des Erbrochenen gewesen.

So hätte es mir auch ergehen können, ging Jeppe flüchtig durch den Kopf, als er sich ein paar Schritte von der Leiche entfernte. Hätte er sich nicht erneut auf das Leben eingelassen, was wäre dann mit ihm passiert? Nachdem er an Silvester vor einem Jahr von seiner Frau verlassen worden war, hatte Jeppe die folgenden Wochen auf dem Sofa seines besten Freundes Johannes verbracht – und den Rest des Jahres in einem Dämmerschlaf aus Psychopharmaka. Es war eine finstere Zeit gewesen. Doch das Leben hatte ihn wieder. Dieses Jahr hatte er Silvester an den roten Felsen von Nature’s Window gefeiert, mit kaltem Bier auf dem Campingplatz und Sex im Zelt. Sex mit der jungen, hübschen Hannah. Endlich war er über seinen Liebeskummer hinweg und wünschte Therese und ihrem breitschultrigen Liebhaber ein gutes neues Jahr voller langer Nächte mit ihrem Säugling.

Jeppe fotografierte die Leiche und das Toilettenhäuschen, notierte sich die wichtigsten Fakten und sagte dem Team gute Nacht, bevor er dem grellen Licht den Rücken kehrte und zurück zum Auto ging. Bis zum Dienstantritt konnte er noch ein paar Stunden schlafen.

Apropos Johannes. Jeppe schrieb ihm eine SMS, um ihn an das Bier nach Feierabend zu erinnern, das sie an diesem Abend trinken wollten. Als Schauspieler war Johannes häufig bei Dreharbeiten im Ausland oder musste abends arbeiten; außerdem war er flatterhaft und vergesslich. Johannes hatte ihn mehr als einmal versetzt, doch Jeppe störte es nicht, ihn wie ein Bittsteller an die Verabredung zu erinnern. Eine fünfundzwanzigjährige Freundschaft überlebt auch kleine verletzte Eitelkeiten. Jeppe drehte die Heizung des Wagens hoch und fuhr nach Hause.

Als er die Haustür aufdrückte, hörte er, wie sein Rucksack hinter der Tür umkippte und das Campingbesteck über den Fußboden rollte. Er hatte es immer noch nicht fertiggebracht, ihn in den Keller zu bringen, es kam ihm zu endgültig vor, beinahe illoyal. Der Rucksack war immerhin vier Wochen so etwas wie ein Zuhause gewesen und hatte alles enthalten, was Jeppe brauchte, um in der Welt zurechtzukommen. In dem halbleeren Flur bedeutete der Rucksack ein Quadratmeter Leben in einem hundertvierzig Quadratmeter toten Haus. Bis vor einem Jahr war es Thereses und sein gemeinsames Heim gewesen, nun stand es zum Verkauf. Jeppe konnte es sich nicht leisten, Therese herauszukaufen, und was sollte er auch allein mit einem Haus in Valby?

Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Er hatte es mit dem Verkauf nicht eilig. Vielleicht im Frühjahr.

Que sera, sera. Whatever will be, will be …

Der Song setzte sich in seinem Hinterkopf...