Warum gibt es alles und nicht nichts? - Ein Ausflug in die Philosophie

von: Richard David Precht

Goldmann, 2011

ISBN: 9783641069902 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Warum gibt es alles und nicht nichts? - Ein Ausflug in die Philosophie


 

Im Technikmusuem (S. 37-38)

Wer ist »Ich?«


Das Deutsche Technikmuseum ist ein gewaltiges Gebäude in Berlin-Schöneberg. Früher war hier ein Güterbahnhof. Die Schienen sind noch zu sehen, und zwischen dem alten Kopfsteinpflaster wachsen überall Pflanzen. Im Hauptgebäude hängen Flugzeuge an der Decke, man kann ausrangierte Lokomotiven besichtigen und alte Schiffe. Eine ganz besondere Attraktion ist das Science Center Spectrum in einem der Nebengebäude. Hier werden komplizierte Dinge erklärt wie Strom oder Magnetismus.

Zu alledem gibt es Experimentierstationen, bei denen man selbst seine Erfahrungen machen kann. Besonders spannend ist dies in der Abteilung »Wahrnehmen und Sehen«. Hier findet man auch Oskars Lieblingsraum, das so genannte »Hexenhaus«. Es besteht aus einem geschlossenen Raum, einer Küche, in der man sich auf eine Bank setzt. Plötzlich fängt das Haus an sich zu drehen. Man sieht, wie sich die Wände bewegen und der Fußboden unter einem verschwindet. Obwohl die Bank, auf der man sitzt, sich nicht mit bewegt, hat man ständig das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Oskar amüsiert sich im »Hexenhaus« prächtig, vor allem, weil ich mich darin viel unwohler fühle als er.

Was die Experimente zum Thema »Wahrnehmen und Sehen« zeigen, ist, dass vieles gar nicht das ist, was es zu sein scheint. Manchmal nämlich vermitteln uns unsere Augen ein Bild von der Welt, das gar nicht mit dem übereinstimmt, was die Forscher sehen. So denkt man zum Beispiel, dass der Himmel blau ist, obwohl das nicht stimmt. Und im »Hexenhaus« glaubt man, die Bank würde nach vorn oder hinten kippen – und auch das stimmt nicht. So wie unsere Aufmerksamkeit immer nur auf einen Teil der Wirklichkeit fällt, so sehen unsere Augen auch immer nur einen Teil der Welt. Und manchmal lassen sie sich dabei täuschen. Unsere Gehirne sind nun mal die Gehirne von Affen. Allerdings, zugegeben, von sehr schlauen Affen.

Deshalb können wir sehen, hören, riechen und schmecken wie Affen. Wären unsere nächsten Verwandten Haie, so könnten wir alle die vielen elektromagnetischen Strahlungen spüren, von denen wir umgeben sind. Aber das können wir nicht. Wir sehen auch kein ultraviolettes Licht wie viele Vögel. Ein Bär kann kilometerweit riechen. Eine Eule kann aus hundert Metern Höhe eine Maus unter der Schneedecke krabbeln hören. Und eine Schlange kann die Körperwärme eines weit entfernten Tieres spüren. All dies können wir nicht. Und trotzdem gibt es etwas, was Menschen besser können als all die anderen Tiere.

Sie können sich nämlich Dinge ausdenken, die es gar nicht gibt. Oder über Dinge nachdenken, die vielleicht in hundert Jahren passieren könnten. Oder über Dinge nachdenken, von denen uns jemand erzählt hat und die vor ganz langer Zeit passiert sind. Wir wissen zwar nicht, wie es ist, ein Flughund zu sein, aber es ist doch sehr wahrscheinlich, dass Flughunde sehr viel weniger Phantasie haben als Menschen. Wahrscheinlich ist der Mensch das Tier mit der größten Vorstellungskraft. Und die wichtigste aller Vorstellungen, die Menschen sich machen, ist das Bild von sich selbst – das »Ich«.

Aber wie kommt es, dass Menschen sich ein solches Bild von sich selbst machen? Was ist das – ein »Ich«? Im Science Center gibt es gleich nach dem Eintritt zwei große Spiegel, in denen sich das Spiegelbild ständig verzerrt. Wenn der Spiegel sich wölbt, wird der Betrachter entweder klein und dick, oder er bekommt riesige Füße und unendlich lange Arme. Trotzdem erkennen wir uns im Spiegel wieder, selbst dann, wenn wir auf einmal völlig verzerrt aussehen. Wir wissen genau: So sehe ich zwar in Wirklichkeit nicht aus, aber klar: Das bin ich! Ob die anderen Tiere das auch können?