OPD-KJ-2 - Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter - Grundlagen und Manual

OPD-KJ-2 - Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter - Grundlagen und Manual

von: Arbeitskreis OPD-KJ-2

Hogrefe AG, 2020

ISBN: 9783456760735 , 400 Seiten

3. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

Mehr zum Inhalt

OPD-KJ-2 - Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter - Grundlagen und Manual


 

Teil 1: Die OPD-KJ-2


1. Einleitung


Mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) wurde seit 1992 im deutschsprachigen Raum ein System zur Ergänzung und Erweiterung der nosologischen Klassifikation (DSM-IV in den USA, American Psychiatric Association, 1994; ICD-10 in Europa, Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) durch psychodynamisch orientierte diagnostische Achsen entwickelt (Arbeitskreis OPD, 1996) und überarbeitet (Arbeitskreis OPD, 2006).

Es wurde damit ein Instrument geschaffen, das einerseits der psychodynamischen Theoriebildung Rechnung trägt und andererseits versucht, die Interrater-Reliabilität in der psychodynamischen Beurteilung seelischer Zustände zu steigern. Das Instrument sollte dazu beitragen, die Unschärfe psychoanalytischer Begriffe – die immer wieder von anderen Therapieschulen kritisiert wurde – durch definitorische Setzungen aufzuheben. Die Reduktion von Unschärfen und Vieldeutigkeiten trägt damit natürlich auch zu einer unvermeidlichen Verkürzung mancher theoretischer Modelle bei, die jedoch unter praktisch diagnostischen und therapeutischen Handlungsgesichtspunkten angemessen ist.

Von ihrem Grundgedanken her waren OPD und die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ; Arbeitskreis OPD-KJ, 2007) darauf ausgerichtet, der kategorialen Sichtweise (im Sinne von Diagnosen) eine dimensionale Betrachtung psychischer Störungen im Sinne von Schweregradeinstufungen auf unterschiedlichen Achsen (oder Dimensionen) zur Seite zu stellen. Diese Herangehensweise an die Klassifikation psychischer Störungen hat sich als vorausschauend und wegweisend erwiesen, wie die aktuellen Entwicklungen im neuen amerikanischen Klassifikationssystem DSM-5 zeigen, bei dem dimensionale Sichtweisen und Schweregradeinschätzungen in das Kategoriensystem der psychiatrischen Diagnosen integriert werden.

Bei Kindern und Jugendlichen wurde schon früh in Weiterentwicklung der ICD-8 und ICD-9 ein multiaxiales nosologisches Schema erarbeitet (Remschmidt & Mattejat, 1994; Rutter, Shaffer & Sturge, 1975; Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2008). Dieses erlaubte eine Diagnostik auf mehreren Ebenen: Auf der ersten Achse wird das klinisch-psychiatrische Syndrom beschrieben, die zweite erlaubt die Kodierung von Entwicklungsstörungen, auf der dritten wird die Intelligenz festgehalten und auf der vierten werden körperliche Krankheiten sowie Behinderungen diagnostisch eingeordnet. Die fünfte Achse erfasst assoziierte abnorme psychosoziale Umstände, und auf einer sechsten Achse wird das psychosoziale Funktionsniveau festgestellt. Um auch im Kindes- und Jugendalter über diese multiaxiale Klassifikation hinausgehende psychodynamische Aspekte ähnlich wie im Erwachsenenalter für eine angemessene Therapieplanung erfassen zu können, erfolgte 1996 die Gründung einer Arbeitsgruppe, die sich mit der Entwicklung eines Instrumentes zur operationalisierten psychodynamischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen beschäftigte (Arbeitskreis OPD-KJ, 2003, 2007).

Ausgehend vom Instrument der OPD für Erwachsene mussten weitreichende Modifikationen für das Kindes- und Jugendalter vorgenommen werden. Die zentrale Frage galt dem Einfluss von Entwicklungsprozessen auf die Psychodynamik. Die OPD-KJ verbindet psychodynamische, entwicklungspsychologische und klinisch-psychiatrische Perspektiven (Resch & Koch, 2012; Resch, Schulte-Markwort & Bürgin, 1998; Windaus, 2012). Multidimensionale Modelle der Entstehung psychischer Störungen werden dabei vertreten (Herpertz-Dahlmann, Resch, Schulte-Markwort & Warnke, 2008) und in ein biopsychosoziales Gesamtmodell integriert, das sich gegenüber psychodynamischen Perspektiven offen erweist (siehe Kapitel 2 Entwicklungskonzepte und Altersstufen). OPD-KJ-2 soll dabei folgenden therapeutischen Besonderheiten Rechnung tragen: Es soll eine gute differenzielle Indikation für die Therapieplanung aufgrund psychodynamischer Überlegungen ermöglichen, auch für die Elternarbeit eine beziehungsorientierte Grundlage bilden und für praktische Belange trotz hoher Komplexität einen ausreichend hohen Grad an Differenziertheit und Verständlichkeit bewahren.

Der psychodynamische Zugang zum Kind erfordert eben eine entsprechend komplexe, mehrdimensionale und entwicklungsorientierte Diagnostik und kann nicht bei einer nosologischen Einschätzung stehen bleiben.

Die Erfassung spezifischer psychiatrischer Störungen durch Fragebögen und Interviews hat eine lange klinische Tradition, wobei in den letzten Jahren zunehmend auch Entwicklungsaspekte und Ressourcen des Kindes- und Jugendalters Berücksichtigung finden. Der in der OPD-KJ vertretene diagnostische Ansatz geht allerdings über eine Integration von Entwicklungsdiagnostik einerseits und psychiatrischer Klassifikation andererseits hinaus, denn die OPD-KJ strebt eine komplexe Erfassung psychodynamischer Prozesse an, die der Subjekthaftigkeit des Kindes oder Jugendlichen Rechnung trägt, und versucht, die Symptome in einem Entwicklungskontext auch hermeneutisch zugänglich und verständlich zu machen. Der Entwicklungsgedanke ist dabei zentral und betrifft alle Aspekte des diagnostischen Prozesses von der Art der Befunderhebung über die Auswahl relevanter diagnostischer Kategorien bis hin zum Prozess der Einschätzung auf verschiedenen inhaltlichen Dimensionen – wobei schließlich eine Behandlungsempfehlung die psychiatrische Symptomatik, den Entwicklungsstand und psychodynamische Aspekte integrieren soll.

Auch in der OPD-KJ 2 werden wir als Orientierungshilfe bestimmte Altersstufen vorgeben, in denen entwicklungsbezogene Adaption bzw. Maladaption sowie strukturelle Ressourcen sichtbar werden. Obwohl im Vergleich mit Erwachsenen Kinder noch eine unvollständige Struktur zu besitzen scheinen, da sie in manchen Lebensaltern die kausalen Zusammenhänge der Welt noch nicht vollständig durchschauen können, manche Einsichten und Hintergründe ihnen verborgen bleiben und ihre Affektregulation auf wichtige Bezugspersonen angewiesen ist, besitzt jedes Kind in jedem Lebensalter eine optimale Struktur. In jedem Lebensalter steht dem Menschen ein Repertoire an Erlebnis- und Handlungsbereitschaften zur Verfügung, das auch innere Konflikte kennt und Beziehungen aktiv ausgestalten lässt. Es ist nicht angemessen, Kinder nach einem «Erwachsenen-Ideal» als grundsätzlich nicht optimal umweltangepasst oder «unreif» zu betrachten. Dysfunktionale Verhaltensweisen und Phantasien müssen daher immer mit altersgerechten Anforderungen verglichen werden. Das Kind ist kein unvollständiger Erwachsener. Um Störungen in der Psychodynamik von Kindern in unterschiedlichen Lebensaltern zu erfassen, müssen psychisch auffällige Kinder mit gesunden gleichaltrigen Kindern verglichen werden (Resch & Koch, 2012).

Konsequent durchzieht der Entwicklungsgedanke alle Ebenen des diagnostischen Prozesses: Bereits die Erhebung diagnostisch relevanter Informationen, d.h. die Frage des Settings der zu befragenden Personen sowie die verschiedenen Ebenen, auf denen Informationen erhoben werden (Spiel, Beobachtung, Gespräch, szenisches Verstehen), wurde an die Entwicklung der einzelnen Lebensphasen angepasst. Die Erhebung relevanter psychodynamischer Informationen in den Achsen Beziehung, Konflikt, Struktur und Behandlungsvoraussetzungen wird entwicklungsbezogen differenziert. Da Entwicklung immer kontextbezogen betrachtet werden muss, schließt dies den Einbezug entwicklungsrelevanter Bereiche wie Familie, Spiel, Schule, Freundesgruppe etc. mit ein.

In der Weiterentwicklung von OPD-KJ zu OPD-KJ-2 sind zahlreiche Erfahrungen aus den Trainings und den empirischen Studien mit dem Instrument eingeflossen. Items und Definitionen, die sich als nicht hinreichend klar und trennscharf erwiesen hatten, wurden überarbeitet oder zum Teil weggelassen. Bei der gründlichen Überarbeitung der Achsen und ihrer Dimensionen flossen zudem faktorenanalytische Befunde ein, so dass im Vergleich zum ursprünglichen OPD-KJ-Manual eine deutlich verbesserte Reliabilität und Konstruktvalidität erwartet werden kann. Die teils neuen Bezeichnungen der Konflikte sollen die Verständlichkeit im Hinblick auf die zentralen Konfliktthemen erhöhen. Die Strukturachse zeigt nun Ähnlichkeiten mit der kommenden DSM-5-Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen, bei der eine Skala zum Funktionsniveau von Persönlichkeit integriert wurde, deren vier Dimensionen Identität, Selbstlenkungsfähigkeit, Empathie und Intimität deutliche Parallelen zu den vier Dimensionen Steuerung, Identität, Interpersonalität und Bindung der Achse Struktur der OPD-KJ-2 aufweisen.

Das grundsätzliche Anliegen der OPD, die Unschärfe und Vieldeutigkeit mancher psychoanalytischer Begriffe und Konstrukte durch Operationalisierung zu reduzieren, ist auch für die Arbeitsgruppe der OPD-KJ-2 ein zentrales Anliegen. Der Versuch der Operationalisierung theoretischer Konstrukte muss auf der Basis der Praxisnähe durchgeführt werden. Die Reduktion von Unschärfen und Vieldeutigkeiten im Rahmen der OPD-KJ sind daher an der praktischen diagnostischen und psychotherapeutischen Tätigkeit zu messen. Auch die OPD-KJ-2 unternimmt keinen Versuch einer Neuformulierung psychodynamischer Konstrukte, sondern bezieht sich weitestgehend auf Konzepte, die im psychodynamischen Diskurs als weithin anerkannte klinische Theorie gelten. Für den sich einer bestimmten psychoanalytischen Denkschule zugehörig fühlenden Anwender mag dies den Eindruck einer allzu pragmatisch motivierten theoretischen Unschärfe erwecken. Es war jedoch gerade der Anspruch der OPD-KJ, innerhalb des psychodynamischen...